MINDO: Herr Berger, woran erkennt man eigentlich einen Narzissten?

 

JÖRG BERGER: Normalerweise sind Selbstbezogenheit und die Bezogenheit auf andere ausbalanciert: Ich habe den anderen im Blick, schaue aber auch, dass es mir dabei gut geht. Bei Narzissten ist diese Balance gestört. Narzissten haben kein Interesse am anderen, das über den persönlichen Nutzen hinausgeht. Selbst wenn ein Narzisst hilfsbereit ist, dient das nur ihm selbst: „Seht, was für ein toller Mensch ich bin!“ Das Opfer seiner Hilfe spürt das manchmal und fühlt sich vereinnahmt.

 

 

Gibt es positive Aspekte, die eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur mit sich bringt?

Manche Aufgaben erfordern, dass man Dinge durchzieht – ohne Gefühl, ohne Rücksicht, ohne allzu viel Empathie für Betroffene. Der Notfallchirurg sollte nicht grübeln, was für seinen Patienten ein Leben ohne Bein bedeutet, wenn das Bein nicht zu retten ist. Narzissmus macht durchsetzungsfähig. Deshalb lag das Ideal eines Managers lange nicht weit von der Diagnose Narzissmus entfernt. Heute hat sich das geändert, weil die Wirtschaft vernetzter und partizipativer geworden ist.

Ein Narzisst hat kein Interesse am anderen, das über den persönlichen Nutzen hinausgeht.

Weiß ein Narzisst eigentlich, dass er einer ist?

Eine Selbstreflektion in dem Sinne „Habe ich gerade zu sehr an mich gedacht?“, die gibt es bei einem Narzissten natürlich nicht. Trotzdem nehmen Narzissten ihre Besonderheiten wahr. Doch die idealisieren sie. Sie treten überheblich auf, glauben aber, dass sie anderen überlegen sind und deshalb eine besondere Behandlung verdient haben. Sie verhalten sich rücksichtslos, glauben aber, dass sie klug, geschickt und durchsetzungsstark sind.


 

Wir alle haben wahrscheinlich jemanden in unserem Umfeld, der übermäßig narzisstisch veranlagt ist. Wie kann man einem solchen Menschen auf gute Weise seine Grenzen aufzeigen?

Schützen kann sich nur, wer sich bewusst macht, dass ein Narzisst nach seinen eigenen Regeln spielt und nicht nach den Regeln, die wir sonst gewohnt sind. Zum Beispiel gilt normalerweise: „Wenn ich großzügig und kompromissbereit bin, dann sind es andere auch.“ Bei Narzissten gilt das nicht – sie nehmen solange, bis sie jemand zum Geben zwingt. Zur Not kann man auch nach diesen Regeln spielen: „Ich kann dir hier nur entgegenkommen, wenn du im Gegenzug dies und das tust!“

 

Angenehm ist das natürlich nicht. Deshalb sollte man einem Narzissten keinen Zutritt zu seinem Privatleben gewähren. Wer ihn schon in seinem Privatleben hat, braucht Hilfe. Ein guter Einstieg ist das Buch der amerikanischen Narzissmus-Expertin Wendy Behary „Mit Narzissten leben“.

 

 

Kann man Narzissmus überwinden – oder ist das ein frommer Wunsch?

Ändern kann man einen Narzissten nicht. Er kann und will das Problem nicht sehen. Eine Veränderung geschieht, wenn überhaupt, nur nach einem schweren Scheitern. Deshalb ist es eine Machtfrage, ob eine Gemeinschaft von einem Narzissten geschädigt wird oder dem Narzissmus Grenzen setzt.

 

Christliche Gemeinschaften sind oft nicht gut darin, die Gemeinschaft oder die Opfer von Narzissten zu schützen. Sie machen sich oft zum Opfer von Menschen, die Großzügigkeit und Gutgläubigkeit ausnutzen. Wer seinen Kinderglauben noch nicht abgelegt und noch nicht zu einem reifen, mündigen und zur Not wehrhaften Glauben gefunden hat, der kann es in der Konfrontation mit einem Narzissten lernen. Der vertieft sich neu in seine Bibel und entdeckt, wie gut sie auch das Setzen von Grenzen lehrt.

 

 

Herr Berger, vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

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