Es ist neun Uhr morgens, ich bin im Skiurlaub, und weil es draußen stürmt und schneit, liege ich noch im Bett. Plötzlich klopft jemand hastig an die Tür, und schon kommt die Zimmerdame herein, fragt mich, ob ich krank sei, und ist erleichtert, dass ich es nicht bin: „Ach ja, so einfach im Bett bleiben, das wäre mal wieder schön!“ Ich sage ihr daraufhin, dass doch ein Urlaub die perfekte Zeit für so was sei. Ihre Antwort: „Ach, ich habe vier Kinder und bin alleinerziehend, da gibt’s sowas nicht…“ Und führt aus, wie sich ihr Leben gerade so anfühlt.

 

Erst, als sie wieder aus meinem Hotelzimmer verschwunden ist, merke ich, wie sehr mich dieser Monolog aufgewühlt hat. Ihr offensichtlicher Kummer über ihre Lebenssituation bewegen mich. Ganz sicher hat es eine Alleinerziehende mit vier Kindern nicht leicht. Aber hey, ich als Single hätte gerne vier Kinder! Nicht unbedingt allein, aber wenn es so wäre – immerhin hätte ich dann welche!

Und dann merke ich, wie sehr mich die Situation ärgert: Dieser heimliche Neid der Zimmerdame, dass ich als kinderlose Singlefrau einfach mal im Bett bleiben kann; ihre Jammerei, dass sie das ja leider nicht kann; meine Freude darüber, dass ich noch im Bett lag; und mein Schmerz, dass ich so gerne Kinder hätte – all das passt in diesem Moment so gar nicht zusammen!

 

 

Zuhören statt werten

Im Gespräch mit meiner besten Freundin wird mir klar: Wie selbstverständlich wir allzu oft auf andere schauen und sie aburteilen, indem wir unseren Frust über unsere Lebenssituation ungefragt rausposaunen. Und wir Singles sind da ja nicht besser! Wenn eine Freundin über ihren Mann oder über ihre Kinder motzt und ich denke: „Ich hätte gerne auch nen Mann und Kinder, über die ich motze, denn dann hätte ich so was!“ – das passiert automatisch, da will ich niemandem einen Vorwurf machen, nicht mir selbst und nicht der Zimmerdame im Hotel.

Lieber will ich Verständnis zeigen. Und Mitgefühl. Ich will einfach zuhören, ohne zu werten und zu urteilen. Und wenn es angebracht ist, will ich meine Sicht der Dinge preisgeben. Ich wünsche mir, dass wir Menschen einander mehr in den Blick nehmen. Ich muss nicht alles verstehen, was andere denken, tun oder sagen. Trotzdem möchte ich zuhören. Meinen Horizont erweitern und auch den der anderen.

Lasst uns einander aus unserem Leben erzählen – über unsere Freuden und unsere Schmerzen!

Viele haben keine Ahnung, was mich als Single bewegt. Dass ich so oft so vieles allein entscheiden muss: welche Versicherung wichtig ist, wann das Auto zur Inspektion muss und ob ich dieses oder doch lieber jenes Teil kaufe. Paare und Familien haben automatisch immer einen Ansprechpartner (wobei das oft auch nur in meiner Theorie so ist, wie ich gelernt habe); dass mir mein Gegenüber fehlt, dem ich von meinem Tag erzählen kann und das mich in den Arm nimmt; dass ich nachts allein im Bett liege und manchmal gerne nach einer Hand greifen würde; und so weiter…

 

Horizonterweiterung

Wenn ich nicht erzähle, wie es mir geht, wird es nie jemand erfahren. Also erzähle ich viel, wenn der Rahmen passt. Und ich freue mich, wenn andere das auch tun, damit sich mein Horizont erweitern kann in die Welten, die mir bisher fremd sind: Wie das in einer Ehe ist, wie es mit Kindern ist, wie mit einem eigenen Haus und wie in einem Pflegeberuf.

 

Lasst uns einander aus unserem Leben erzählen! Über unsere Freuden und unsere Schmerzen. Lasst uns das einander nicht um die Ohren hauen, so wie ich es in diesem Moment im Hotelzimmer am liebsten gemacht hätte. Sondern lasst uns erzählen und zuhören, liebevoll.

 

Welche Aussagen anderer nerven oder ärgern dich? Was tut dir besonders weh? Geh dem nach, gib dem Raum – und fang an, anderen von dir zu erzählen! Wenn du mit den Menschen beginnst, die dir nahestehen, kannst du irgendwann auch dir fremderen aus deinem Leben berichten. Und das wird dir und anderen neue, heilsame Welten eröffnen! Das nächste Mal, wenn mich eine Zimmerdame im Bett erwischt, nehme ich mir Zeit für ein Gespräch.

Tina Tschage

hat Theologie studiert und das Handwerkszeug der Redakteurin erlernt. Sie lebt als Single-Frau in einer christlichen Gemeinschaft in München und arbeitet freiberuflich als Coach, Speakerin und Autorin.

 

www.tina-tschage.de

 

www.trau-frau.de

Das könnte Sie auch interessieren