Vergangene Woche im Fernsehen: Ein polnischer Soldat an der ukrainischen Grenze, neben ihm ein hoher Stapel Kleidung. „Sehen Sie sich das an!“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Hier kommt kaum noch jemand an diesem Berg vorbei. Und jetzt regnet es auch noch! Wie soll das den Frauen und Kindern helfen? Sollen die hier in der Kälte nasse Schuhe anziehen?“

 

Ich wusste genau, was er meinte. Ich habe zwar keinen Krieg und keine Flucht erlebt, aber eine existenzielle Krise. Als mein Mann vor fast sechs Jahren Suizid beging und uns mit einem Haufen Schulden zurückließ, bekam ich sie auch: dicke Pakete mit Kleidung für mich und meine Tochter. Und massenhaft Spielzeug. Es war fast wie Weihnachten – wäre das Grauen nicht gewesen.

 

Zuerst war ich gerührt, aber je länger es andauerte, desto mehr Kraft kostete es mich. Denn in einer Krise ist nichts sicher und man muss ganz viel erledigen, um sein Leben zu retten. Pakete zu sortieren war da eher hinderlich als hilfreich. Und ein Kind hat in einer Krise auch kein Interesse an Geschenken. Es will bloß Mama und Papa. Sicherheit eben, wenn alles andere wegbricht.

 

In Kriegen und anderen Krisen

Hilfsorganisationen in Krisengebieten geht es ähnlich. Die ersten haben schon Aufnahmestopps verkündet; die Lager für Sachgüter sind voll. Aber das hindert uns nicht daran, weiter zu sammeln und notfalls selbst an die Grenze zur Ukraine zu fahren.

 

Warum aber tun wir das? Weil wir das Leid, das wir sehen, nicht aushalten. Vor allem aber nicht unsere eigene Ohnmacht! Da passiert gerade Unfassbares. Ein kleines Land wird einfach so von seinem viel größeren Nachbarn angegriffen. Das triggert unseren Gerechtigkeitssinn – und das ist gut! –, aber auch unsere tiefsten Ängste, denn: Wir könnten die Nächsten sein!

 

Um psychisch gesund zu bleiben, brauchen wir Selbstwirksamkeit. So sind wir als Menschen gestrickt. Denn wenn wir eins nicht gut ertragen, dann das: Still etwas über uns ergehen lassen! Hinzu kommt, dass wir bereits zwei Jahre Ängste und Einschränkungen wegen einer Pandemie hinter uns haben (und manche zusätzlich eine Flutkatastrophe!). Wir alle sind müde und dünnhäutig. Wir können das Nichtstun nicht mehr ertragen. Verständlich. Und doch sollten wir uns fragen: Hilft das, was wir tun?

Um psychisch gesund zu bleiben, brauchen wir Selbstwirksamkeit. Denn wenn wir eins nicht gut ertragen, dann das: Still etwas über uns ergehen lassen!

Nach dem Suizid meines Mannes war ich mit den Hilfsangeboten teilweise überfordert. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich war dankbar – und bin es immer noch! Aber ich war auch gestresst. Meine Lebenssituation war von einem Tag auf den anderen eine völlig andere; ich musste mich erst selbst zurechtfinden, jeden Tag meinem Kind sagen, dass Papa nicht mehr wiederkommt, jeden Tag neu Informationen sammeln, verarbeiten, mich darauf einstellen. Es war die perfekte Vorbereitung auf eine Pandemie, es war mein persönlicher Kriegsschauplatz.

 

Freunde boten mir an, in ihrem Haus zu wohnen. Aber war das überhaupt auf Dauer realistisch? Würden wir uns nicht irgendwann auf die Nerven gehen? Was ist, wenn ich das nicht bezahlen konnte? Ich musste nicht nur für mich, sondern auch für die anderen mitdenken.

Ich musste Hilfsangebote ausschlagen. Weil sie mir nicht halfen oder die Situation sogar verschlimmert hätten. Ich musste mit dem Unmut von Menschen klarkommen, deren Hilfe ich ablehnte. Die meinten, ich wäre undankbar und es nicht wert, weiter mit mir befreundet zu sein.

Ich musste mich verteidigen. Denn plötzlich gab es Menschen, die mein Haus kaufen wollten. Die es für mich verkaufen wollten. Die es sanieren wollten – aber nur so, wie es ihnen gefallen hätte, damit sie es mir danach abkaufen konnten …

 

Um wen geht es?

Nicht immer ist unsere Hilfsbereitschaft ehrenwert. Selten ist sie gänzlich frei von egoistischen Motiven, und manchmal geht es dabei sogar mehr um uns selbst als um den anderen. Wir möchten uns besser fühlen oder gar heldenhaft und drücken dabei dem anderen vielleicht etwas auf, was ihm gar nicht hilft.

 

Wenn wir also Hilfe schenken möchten, die tatsächlich hilft, sollten wir unsere Motivation kennen. Wir sollten uns ehrlich fragen: Warum meine ich, jetzt unbedingt helfen zu müssen? Und warum auf diese Weise?

Nicht immer ist unsere Hilfsbereitschaft ehrenwert. Denn manchmal geht es dabei mehr um uns selbst als um den anderen.

Wenn wir Hilfe schenken möchten, die tatsächlich hilft, brauchen wir eine hilfreiche innere Haltung. Und die lautet: Das Bedürfnis des Empfängers ist immer wichtiger als das des Gebenden. Das bedeutet Augenhöhe. Weil die Krise den Hilfsbedürftigen ohnehin schon erniedrigt. Deshalb braucht er eine Aufwertung. Wer dafür ein Vorbild braucht, kann in der Bibel nachlesen, wie Jesus mit Ausgestoßenen und Vergessenen der Gesellschaft umgegangen ist. Denn was wir in Krisen wirklich brauchen ist: Kontakt auf Augenhöhe. Echtes Interesse. Ernstgenommen werden.

 

Was also können wir tun?

1. Gut informieren

Hilfe beginnt damit, dass wir uns gründlich informieren. Entweder bei Hilfsorganisationen oder persönlichen Kontakten in den betroffenen Ländern. Dass wir ernsthaft wissen möchten: Was braucht ihr? Und das auch immer wieder fragen, weil sich in einer Krise täglich alles ändern kann.

Auch mir haben Menschen geholfen, die immer wieder gefragt haben, was ich akut brauche. Mal war es Zuhören, mal eine Umarmung, mal Schweigen, mal Mitdenken, mal einfach nur Geld. Denn Geld bewegt die Welt. Und schenkt Sicherheit.

 

 

2. Geld spenden

So simpel es klingt, aber auch im Ukrainekrieg ist es besser, dass wir unser Geld statt in unseren Tank für eine Fahrt ins Krisengebiet lieber in eine seriöse Organisation investieren, die Erfahrung mit Krisen hat und die eine Menge bezahlen muss: Logistik, ausgebildete Seelsorger, Medikamente und Hygieneartikel, sichere Transporte. Da ist kein Cent zu wenig.

 

 

3. Unterkunft anbieten

Wer Flüchtlingen bei sich ein Zuhause bieten möchte, kann sich über ein zentrales Register einschreiben lassen oder teilweise über den Wohnort. Aber wir sollten vorher überlegen, ob wir und unsere Familienmitglieder das auch leisten können. Nicht nur finanziell, sondern auch seelisch: mit Menschen zusammenzuleben, die vielleicht traumatisiert sind und unsere Sprache nicht sprechen, ist herausfordernd.

Wir können nur dann helfen, wenn es uns selbst gut geht. Wenn die Antwort darauf also „nein“ lautet, ist das absolut okay. Denn wenn wir selbst an unserer Hilfeleistung kaputt gehen, schafft das niemandem Sicherheit. Und die wird am meisten gebraucht.

 

 

4. Zeit und Muskelkraft schenken

Was hat es mir in den ersten Wochen nach dem Suizid gutgetan, dass andere für mich gekocht haben! Dass nach der Bestattung ein Trupp meinen Vorgarten von Unkraut befreit hat. Dass Freunde fürs Erste meinen Schriftkram sortiert haben. Auf diese Weise hatte ich mehr Zeit dafür, was ich am meisten brauchte; was die meisten in einer Krise brauchen: Zeit für mich und mein Kind.

Genauso können wir die Hilfsorganisationen entlasten und ihnen unsere Zeit- und Muskelkraft anbieten. Dafür müssen wir aber Geduld mitbringen, weil vieles erst aufgebaut werden muss.

 

 

5. Geduld haben

Eine Krise ist eine akute Situation, aber Hilfe wird noch lange danach gebraucht. Auch wenn es schwerfällt, ruhig zu bleiben, ist es oft hilfreicher, unsere Hilfe dann anzubieten, wenn andere vielleicht nicht mehr können oder nicht mehr daran denken.

Den Suizid meines Mannes zu verarbeiten, hat mich gut fünf Jahre gekostet. Nicht alle Freunde halten so lange durch. Ja, am Anfang ist es am schlimmsten. Aber am Anfang passiert auch sehr viel und viele Hilfsangebote kommen dann gar nicht erst an oder stressen, statt zu helfen. Das gilt auch für den Ukrainekrieg. Seine Folgen werden uns noch Jahre begleiten. Deshalb ist es wichtig, dass wir einen langen Atem haben und nicht vergessen, was da passiert.

 

Wenn wir das aktuell nicht gut aushalten, liegt es an uns, uns mit den genannten Möglichkeiten gut darum zu kümmern. Wenn es uns dann immer noch nicht schnell genug geht, können wir anderen in Krisen helfen. Nach der Flutkatastrophe im letzten Jahr gibt es immer noch viel mit anzupacken. Im Sudan und im Jemen gibt es weiterhin Hungersnöte. Und auch in Syrien ist der Krieg längst nicht überwunden.

 

Vielleicht können Krisen wie diese unseren Aktivismus dahin lenken, dass wir grundsätzlich mit anpacken, wo immer auch Not herrscht. Aber bitte auf Augenhöhe!

Nicole Schenderlein

ist gelernte Journalistin und Bildhauerin (https://art.green.woman.de). Sie ist Gründerin des gemeinnützigen Blattwenden e. V., einem Hilfsangebot für (Suizid-)Hinterbliebene und Menschen in ähnlichen Lebensumbrüchen (https://blattwenden.eu).