Für manche von uns ist immer Winter. Oder zumindest ziemlich lange. So lange, dass es sich anfühlt wie eine Ewigkeit. Doch wie der Frühling jedes Jahr wiederkehrt, kommt auch das Leben zurück für Menschen, die schwere Krisen durchmachen. Vielleicht nicht so, wie es vorher war. Doch nach und nach werden sich zarte Grashalmspitzen der Hoffnung durch den hart verkrusteten Boden brechen.

 

Es ist möglich, wieder lebendig zu sein, statt nur zu funktionieren. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Mein Mann hat vor drei Jahren Suizid begangen. Davor war er einundzwanzig Jahre lang querschnittsgelähmt. Wir hatten schon da kein Null-Acht-Fünfzehn-Reihenhausglück-Leben. Zurückgelassen hat er mich und meine damals dreijährige Tochter mit einem Haufen Schulden, von denen wir nichts wussten. Wie so oft bei Suizid wurde erst nach seinem Tod das volle Ausmaß seiner Schwierigkeiten klar.

 

 

Dem Leben nachjagen

Nicht erst seitdem, aber seitdem noch mehr, jage ich dem Leben nach. Denn dieses Geschenk Gottes, mein klopfendes Herz, möchte ich spüren – und nicht nur mechanisch die Berge aus Schutt wegräumen, die das Leben eben auch manchmal zu bieten hat. Sei es, weil wir Depressionen haben oder eine chronische Krankheit. Weil wir verschuldet sind, wir unser Zuhause verlieren. Unser Arbeitgeber schließt und wir keinen neuen Job finden. Von unserem Partner verlassen wurden oder keinen Kontakt mehr zu unseren Kindern haben. Wir so viel Stress haben, dass wir zusammenbrechen. Es gibt vieles, was unser Leben in eine Krise stürzen kann. Und uns lange Zeit dort behält. Wie also kann das gehen, den Frühling trotz dieser schweren Zeiten wieder zurück ins Leben zu holen?

 

Nicht erst seit dem Suizid meines Mannes, aber seitdem noch mehr, jage ich dem Leben nach. Denn dieses Geschenk Gottes, mein klopfendes Herz, möchte ich spüren!

Ich mag es kaum sagen, weil es uns nervt und Kraft kostet – aber es geht nur mit Geduld. Mit kleinen, bedachten Schritten. Die Osterzeit und der Frühling, wenn das Leben nach und nach erblüht, bieten eine hilfreiche Kulisse dafür. Manche Pflanzen scheinen bei genug Wärme aber auch fast über Nacht aus dem Boden zu schießen. Doch davor haben sie eine lange Zeit in der Erde geruht und Kraft gesammelt. Wie also können auch wir Kraft und Ruhe sammeln, auch wenn die Situation von außen so unbarmherzig eisig erscheint?

 

 

Spüren Sie sich?

Konzentrieren wir uns auf unsere Sinne. Als Jesus für uns Krisen gebeutelte Menschen am Kreuz hing, gab es nicht viel, was er tun konnte, außer zu warten und zu sein. Das können auch wir tun: Da sein und das Jetzt wahrnehmen, während wir in der Krise ausharren. Wenn Sie jetzt also im Frühling ein paar Sekunden Zeit haben, versuchen Sie sich darauf zu fokussieren, dass Sie leben. Versuchen Sie, sich auf Ihre Sinne zu konzentrieren:

 

Was sehen Sie? Den Farbenrausch der Natur? Oder das nackte Weiß einer Wand? Harte Konturen? Oder die Umrisse Ihrer Bettdecke? Wie ist das Licht? Künstlich? Warmer Sonnenschein? Grelle Beleuchtung? Tut es Ihnen gut oder kneifen Sie die Augen zusammen? Wie fühlt sich das Licht an, wenn Sie die Augen schließen? Was sehen Sie dann? Oder ist es dunkel? Schummerig? Düster?

 

Was hören Sie? Ist es still? Oder gibt es noch leise Geräusche nebenbei? Vogelzwitschern? Das Summen der Insekten? Oder laute Autos? Eine Baustelle? Gebrüll? Wenn es ganz leise ist – was hören Sie in Ihrem Inneren? Gar einen Tinnitus?

 

Was riechen Sie? Den leichten Duft der Osterglocken auf dem Tisch? Den Schlafgeruch von letzter Nacht? Ein Deo oder Parfum? Dünger von draußen? Oder Abgase? Frische Wäsche? Oder sind Sie erkältet und riechen gerade gar nichts?

 

Was schmecken Sie? Die Zahnpasta von heute Morgen? Kaffee? Nur Ihre Zunge? Wo befindet sie sich? Liegt sie locker im Mundraum oder ist sie hart gegen den Gaumen gepresst vom Zähne zusammenbeißen? Wenn Sie etwas essen, versuchen Sie zu spüren, wie sich die Konsistenz im Mund anfühlt. Ist es süß, salzig oder bitter oder alles zusammen? Ist es warm oder kalt? Hart oder weich?

 

Was fühlen Sie? Wie geht es Ihrer Haut? Ist sie trocken oder verschwitzt? Ist Ihnen kalt oder warm? Stehen oder sitzen oder liegen Sie? Wie fühlt sich der Boden unter Ihren Füßen an, wie der Stuhl in Ihrem Rücken? Wie der Untergrund, auf dem Sie liegen? Wenn wir bewusst fühlen, dass unser Körper sich auf festem Grund befindet, kann uns das helfen, auch unserer Seele ein festeres Fundament zu geben. Wir befinden uns nicht im luftleeren Raum. Genauso wie die Schwerkraft ist auch Ihr Schöpfer, der Sie hält, immer noch da!

 

Wie fühlt sich Ihr Körper an? Wenn Sie laufen, wenn Sie einen Schritt vor den anderen setzen? Wenn wir spüren, wie wir uns bewegen, wird uns klar, dass wir nicht stillstehen. Dass sich eben doch noch etwas bewegt in unserem Leben, nämlich wir. Dazu muss man kein Sportler werden – auch Massagen, Saunabesuche, ein Wannenbad oder eine ausgiebige Dusche können helfen, dass wir unseren Körper wieder besser wahrnehmen.

 

Wie fühlt sich Kontakt an? Wenn wir in Kontakt mit etwas oder jemandem treten, spüren wir, dass wir da sind. Es heißt, wir brauchen acht Umarmungen am Tag, um uns gut zu fühlen. Wenn niemand da ist, der Sie umarmen kann, umarmen Sie sich selbst. Seien Sie gut zu sich. Oder spüren Sie mehr mit den Fingerspitzen: Wie fühlt sich das Moos an dort am Baum? Wie die Raufasertapete? Und ohne Fingerspitzen: Wie fühlt es sich an, dass Ihr Herz schlägt? Manchmal wird uns erst dann klar: „Stimmt ja, es ist noch da!“

 

 

All diese kleinen Übungen helfen uns, auch in einer Krise wahrzunehmen: Wir leben noch. Manches klingt merkwürdig, weil wir denken, das sei doch total normal. Warum soll ich jetzt eine Erdbeere ganz langsam mit der Zunge ertasten? Eben weil wir in Lebenskrisen so sehr mit der Krise beschäftigt sind, dass wir uns selbst vergessen. Und damit irgendwann den Grund dafür, warum es sich eigentlich lohnt zu leben.

 

Es geht bei all dem gar nicht um eine Bewertung. Es ist nicht schlimm, wenn Sie plötzlich spüren, dass Ihr Kiefer schmerzt, weil Sie seit Wochen durchhalten müssen und die Zähne zusammenbeißen. Es ist eben so. Doch auf diese Weise spüren Sie überhaupt, dass es so ist. Und wenn Sie es schaffen, können Sie dann vielleicht sogar üben, den Kiefer nach und nach loszulassen. So wird Ihnen klar: Ich bin kein Opfer dieser Situation. Ich kann etwas tun. Und wenn es nur das ist, meinen Kiefer wieder zu spüren.

 

Trotz Wunden lebendig

Als Jesus auferstanden ist und die Jünger ihn nicht erkennen, lässt er sie seine Wunden berühren. Sie sind noch da – und doch: Er lebt! So ist es auch für uns. Wir brauchen die Gewissheit, dass wir trotz Wunden noch lebendig sind. Dass auch wir mit Jesus wieder auferstehen können. Dass auch wir nochmal wie ein Baby ganz neu diese Welt entdecken können – egal in welchem Alter! Doch dafür brauchen wir Zeit und bedächtige Schritte. Damit wir irgendwann wieder „schmecken und sehen können, wie freundlich der Herr zu uns ist“ (Psalm 34,9) – und das nicht zur zu Ostern!

 

Mein Auferstehungserlebnis in diesen Wochen war der Bärlauch. Weil er so schön grün ist. Ich mag Grün – wegen der Hoffnung. Weil er sich so zart und doch so fest anfühlt. Weil er so herrlich duftet. Weil er so wunderbar schmeckt. Und anschließend noch ein paar Tage auf dem Schneidebrett riecht, auch wenn er schon längst nicht mehr da ist. Bärlauch über den Tod hinaus. Und wenn der Bärlauch das kann, dann können wir das auch!

Nicole Schenderlein

gelernte Journalistin, war bis zum Suizid ihres Mannes psychologische Beraterin. Heute bloggt sie als wütende Witwe ganz persönlich über die großen Themen Leben und Tod, Glaube und Liebe. Und vor allem über Hoffnung. Denn die gibt sie nie auf.

 

Mehr Über-Leben nach Suizid auf ihrem Blog: www.green-woman.de