Lieber Junior,
erinnerst du dich? Deine Eltern wollten ihre und deine Heimat verlassen, die frühe DDR. Sie haben es mehrfach versucht. Einmal hast du Tage vorher gespürt, dass etwas im Busch war. Sie hatten Geheimnisse vor dir. Eines Abends solltest du früh ins Bett gehen, früher als sonst. Am nächsten Morgen solltet ihr in aller Frühe einen „Ausflug“ machen. Zuerst eine Autofahrt, und dann war da dieser Mann – ein Fremder, der wortlos in einen Wald wies. Dass er ein Schleuser war, davon verstandest du damals noch nichts. Eine zeitlang ging er voraus, dann war er plötzlich weg. Vater, Mutter und du gingen durch einen leicht verschneiten Winterwald. In der Stille der Nacht bist du auf einen Ast getreten, der krachend zerbarst. Voller Schrecken habt ihr innegehalten. Aber nichts rührte sich. Also gingt ihr weiter.
Dann passierte es: Schüsse! Ein Grenzer zielte auf dein Leben. Panik! Doch dann gab der Zaun dich endlich frei!
Plötzlich vor euch eine freie Fläche. Fahler Mondschein beleuchtete euren Weg. Da, ein Weidezaun! Vorsichtig lieft ihr auf ihn zu. Nicht weit dahinter ein Bauernhaus. Ja nicht wieder auf einen Ast treten! Alle drei klettertet ihr durch den Zaun. Doch dann hingst du mit deiner Wolljacke plötzlich am Rücken im Stacheldraht fest. Du versuchtest dich zu befreien. Dann passierte es: Schüsse! Ein Grenzer zielte auf dein Leben. Panik! Doch dann gab der Zaun dich endlich frei! Gemeinsam mit den Eltern stolperst du tief gebückt über ein Feld um dein Leben. Die Schüsse hatten aufgehört. Im Bauernhaus waren die Lichter angegangen. Die Bäuerin an der Haustür klang besorgt: „Seid ihr unverletzt? Gott sei Dank! Kommt erst mal rein!“ Ihr wart im Westen angekommen, im Bundesland Hessen. Aber das wusstest du damals noch nicht.
Diese Erfahrung wirst du nie vergessen. Denn selbst als Senior weiß ich es noch, als wäre es gestern gewesen. Das ist einer der Gründe, warum ich heute gern Flüchtlingen helfe. Ich kenne die Angst, die sie bei ihrer oft lebensgefährlichen Flucht durchgemacht haben.
Dein Heinz-Martin