Ihr wahrer Kern macht sie geschmeidig glatt und darum so gefährlich: Falsche Überzeugungen, die zu regelrechten „Glaubenslügen“ werden können. Bleiben sie unerkannt, beschädigen sie über kurz oder lang unser Denken, Fühlen und Handeln – und unsere Beziehung zu Gott. Die Theologin Nicole Sturm enttarnt sie und ermutigt zu einem neuen Denken. Heute Glaubenslüge Nr. 5: „Du bist Gott so nah, wie du ihm sein möchtest“.

 

1. Erkennen

Rolf und Mark stehen nach dem Gottesdienst noch bei einer Tasse Kaffee zusammen und unterhalten sich. In der Predigt ging es darum, dass Gott ein liebevoller Vater ist, der immer für seine Kinder da ist. Mark glaubt das – nur fragt er sich, warum er davon in letzter Zeit so wenig spürt. Gerade bräuchte er Gottes spürbare Nähe so dringend … „Du bist Gott so nah, wie du ihm sein möchtest“, will Rolf ihn ermutigen. Seine Botschaft: Wenn Mark es wirklich will, ist Gott ihm nah. Aber damit sagt er auch: „Wenn du dich Gott nicht nahe fühlst, liegt das allein an dir – nicht an Gott!“ So hat Rolf es gelernt und so gibt er es nun weiter. Das Problem: Diese Aussage ist so stark vereinfacht, dass er die Wahrheit verfehlt. Denn es liegt nicht allein an uns, wie nah wir Gott sind.

 

2. Entlarven

Eine Lüge wird dann am ehesten geglaubt, wenn sie ein Fünkchen Wahrheit enthält. Unsere Aufgabe ist es, dieses Fünkchen Wahrheit feinsäuberlich vom unwahren Rest zu trennen. Wie in diesem Fall: „Es stimmt, dass Sünde uns von Gott trennt, aber …“ Und genau dieses „Aber“ ist entscheidend! Dass Sünde eine trennende Wirkung hat, ist richtig. Aber das ist nur ein Teilaspekt. Es ist eins von vielen Puzzleteilchen, das wir brauchen, um das ganze Bild sehen zu können.

 

Lügen, Halbwahrheiten, bewusste Auslassungen – sie alle haben eine potenziell zerstörerische Wirkung auf Beziehungen. Wenn es um „fromme Lügen“ geht, sind die Folgen noch gravierender: Sie trennen Menschen von Gott. In unserem Beispiel sind es diejenigen, die es aufrichtig meinen und nicht absichtlich sündigen: Sie sehnen sich nach Gottes spürbarer Nähe – und suchen nun aufgrund eines Rats wie dem von Rolf nach möglichen unbekannten Sünden. Werden sie nicht fündig oder verändert sich selbst nach dem Bekennen von Sünden (die sie nach langem Suchen ausfindig gemacht zu haben glauben) nichts, fangen sie an, sich selbst zu zerfleischen. Oder beginnen, Gottes Liebe zu hinterfragen.

 

Rolfs Aussage suggeriert, dass man selbst es ganz und gar in der Hand hat, wie nah man Gott ist. Manchen tut solch eine Aussage gut. Sie ist der Schubs, den sie brauchen, um Dinge zwischen sich und Gott ins Reine zu bringen. Denn es stimmt: Sünde trennt uns von Gott. Das Problem ist nur, dass kein Mensch perfekt ist. Jeder – auch wenn er Christ ist – begeht Sünden in seinem Leben und seien sie noch so klein. Wenn wir wirklich jeden Fehltritt erkennen und Gott detailliert bekennen müssten, um ihm nahe zu sein, sähen wir alle ziemlich alt aus. Denn wir alle haben blinde Flecken. Es gäbe vermutlich immer etwas, das wir vergessen – trotz bester Absichten.

 

Gott weiß das. Und darum ist auch Sündenfreiheit oder das vollständige Bekennen aller jemals begangener Fehltritte keine Voraussetzung, um ihm nah zu sein. Bewusst begangene Sünden stören die Beziehung mit Gott – keine Frage. Für alles andere gilt, dass Gott in unser Herz schaut. Da sieht er alles: unser Wollen ebenso wie unser Scheitern an allen Ecken und Enden – und unsere Grenzen.

Darum werden pauschale Aussagen wie Rolfs werden dem Einzelnen nur höchst selten gerecht. Stattdessen verletzen sie und lassen schlimmstenfalls Menschen an sich selbst, ihrem Glauben und Gott verzweifeln, weil sie Menschenwort für Gotteswort halten.

 


3. Ersetzen

1. Die Wahrheit lautet: „Sünde trennt – aber Gott ist größer!“ Er weiß um unsere sündhafte, zu Fehltritten neigende Natur und macht daher höchstpersönlich den Weg zu sich für uns frei.

 

2. Der Glaube an Jesus bewirkt keine automatische Sündenfreiheit. Auch als Christen tun und sagen wir manchmal Dinge, die Gott missfallen – hoffentlich nicht mehr so oft und nicht mit Absicht, aber es passiert. Was der Glaube an Jesus bewirkt, ist Vergebung und freien und ungehinderten Zugang zu Gott (siehe z. B. Hebräer 10,19ff).

 

3. Gott fordert uns heraus, ein Leben nach seinen Maßstäben zu leben. Seine Liebe ist aber nicht an eine perfekte Umsetzung unsererseits gebunden. Das gerade ist ja „Gnade“: dass wir uns seine Liebe nicht erarbeiten müssen, sondern dass sie ein Geschenk ist, das sich positiv auf unser Leben und Handeln auswirkt.

 

4. Wer sich nach Gottes Nähe sehnt, sie aber nicht in der Form erlebt, wie man es sich vorstellt, dem kann man sicher nicht unterstellen, dass der Wunsch nach Nähe nicht da ist. Die Person leidet ja gerade darunter, dass die gewünschte Nähe nicht erlebt wird.

 

5. Auch viele biblische Personen erlebten das Gefühl der Gottesferne – ob David (wie sich unschwer an zahlreichen seiner Psalmen erkennen lässt) oder Hiob oder sogar Jesus. Und auch wenn das Neue Testament uns Gott als unseren „Vater“ vorstellt und wir als seine Kinder schon jetzt durch den Heiligen Geist seine Nähe erleben dürfen, bleibt er doch Gott. Er ist „heilig“ – und damit eben auch ganz anders und für uns nicht immer versteh- oder gar verfügbar. Denn noch sehen wir ihn nicht, wie er ist (1. Johannes 3,2), und noch wohnt er nicht sichtbar unter uns (Offenbarung 21,3), sondern in einem „unzugänglichen Licht“ (1. Timotheus 6,16).

Ist Gott uns wirklich fern, nur weil wir ihn nicht in der Form erleben, wie wir es uns wünschen? Oder anders gefragt: Können unsere Gefühle trügen?

Die zentrale Frage lautet, wie es dazu kommen kann, dass man Gott mal als ganz nah und dann wieder als fern erlebt. Und ob unser Empfinden die Wirklichkeit widerspiegelt: Ist Gott uns wirklich fern, nur weil wir ihn nicht in der Form erleben, wie wir es uns wünschen? Oder anders gefragt: Können unsere Gefühle trügen?

 

Ganz sicher macht es einen Unterschied im Erleben, ob in unserem Leben gerade alles glatt läuft oder ob wir mit Dingen konfrontiert werden, die uns aus der Bahn werfen und überfordern, um nur dieses eine Beispiel zu nennen. Wenn plötzlich das eigene Kind schwer erkrankt, die Ärzte nicht weiterwissen, dann kommen ganz viele Fragen auf. Fragen nach dem Warum, einem möglichen tieferen Sinn, nach Gottes Macht und ob er es wirklich gut mit uns meint. Fragen, die natürlich sind, die gestellt und beantwortet werden müssen. Fragen aber auch, die uns erst einmal womöglich irritieren, wenn wir sie uns bisher nie gestellt haben. Wenn Gottes Nähe sich dann darin zeigen soll, dass er uns alle unsere Fragen beantwortet, das Kind heilt und alles wieder gut ist, dann wird sich das womöglich nicht erfüllen.

 

Weil unser Wissen „Stückwerk“ ist und wir in einer von Gott abgefallenen Welt leben, gehören Dinge wie Krankheit, Leid und Tod leider dazu. Wer sich in solchen Zeiten allein auf die Suche nach möglicher Sünde als Grund für die nicht erlebte Gottesnähe (oder womöglich auch als Ursache für die Erkrankung des Kindes) macht, wird sich womöglich damit so verausgaben, dass keine Energie mehr bleibt, um bei Gott zur Ruhe zu kommen. Und die Andersartigkeit der Nähe auszuhalten und Gott darin zu entdecken – samt bisher unbekannter Facetten, womöglich auch ganz leise.

 

4. Einüben

Es ist wichtig, möglichst das ganze Bild zu sehen. Wenn man nur einzelne Aspekte rauspickt oder auf bestimmte Punkte den alleinigen Fokus legt, wird das Bild verzerrt und der wahre Aspekt – zur Absolutheit aufgebläht–, wird zur Lüge. Aus diesem Grund ist es gut, sich die zentralen Punkte immer wieder vor Augen zu halten – gerade dann, wenn man merkt, dass das Bild einseitig wird.

 

1. Gott hasst Sünde.

2. Gott liebt Sünder.

3. Sünde trennt uns von Gott.

4. Gott vergibt Sünde gern.

5. Gott ist uns nah – aber nicht „verfügbar“.

6. Wir sollen uns bemühen, nach Gottes Willen zu leben.

7. Gott braucht keine perfekten Kinder. Er sehnt sich nach Kindern, die so, wie sie sind, zu ihm kommen, um sich von ihm lieben und verändern zu lassen.

 

Fazit: Wir machen Fehler, sind nicht perfekt. Sich deshalb selbst zu zerfleischen und von Gott innerlich zu distanzieren, ist nicht der Weg, den Gott für uns im Sinn hat. Als seine Kinder dürfen wir ihn auch entgegen unseren Gefühlen – und ganz besonders in Krisen- und Wüstenzeiten – immer neu um seinen Frieden und auch um seine spürbare Gegenwart bitten.

 

5. Erinnern

„Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verloren, in der Gott den Menschen ursprünglich geschaffen hatte. Ganz unverdient, aus reiner Gnade, lässt Gott sie vor seinem Urteil als gerecht bestehen – aufgrund der Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist.“ (Römer 3,23–34, GNB)

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Nicole Sturm

ist Theologin und begleitet als psychotherapeutischer Coach (Heilpraktikerin für Psychotherapie) Menschen dabei, hinderliche Glaubenssätze aufzulösen. Mehr über sie und ihre (Online-)Coachingangebote erfahren Sie hier: www.vorwärtsleben.de

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