Den ultimativen Rat in Sachen Ehe habe ich in keinem Buch gelesen, in keinem Seminar aufgeschnappt und auch in keiner Predigt gehört. Er stammt von meinen Eltern. Und weil er von ihnen stammt, nehme ich ihn doppelt ernst. Nicht bloß, weil sie meine Eltern sind. Ich nehme ihn ernst, weil die zwei wirklich wissen, wovon sie reden. Selten habe ich ein Paar erlebt, bei dem die Beteiligten derart entgegengesetzte Temperamente, derart andere Denkmuster und derart unterschiedliche Interessen haben und das dennoch seit nunmehr 54 Jahren ziemlich glücklich verheiratet ist.

 

„Wenn ihr mir nur einen einzigen Rat für eine gelingende Ehe mitgeben dürftet, wie würde der lauten?“, hatte ich sie vor vielen Jahren, lange bevor ich selbst heiratete, gefragt; und ohne einen Moment des Zögerns und wie aus einem Mund floss das vielleicht größte Geheimnis einer guten Ehe zu mir herüber: „Nimm den anderen so wie er ist!“

 

„Wie? Das ist alles? Nun gut, das kann ja wohl nicht so schwer sein!“, dachte ich – und ahnte doch im selben Moment, dass dieser unscheinbar daherkommende Rat es sicher in sich hatte.

 

Von Stolpersteinchen und Charakterbrocken

Und das hatte er! Sechzehn Ehejahre und geschätzte 3222 auf dem Badezimmerboden verteilte Handtücher, 184 hoch-und-heilig-versprochen-und-dann-doch-nicht-weggebrachte Getränkekisten und mindestens 1568 in Sofaritzen verschollene und/oder vom Hund verschleppte Männersocken später treibt mich das „Den-anderen-nehmen-wie-er-Ist“ regelmäßig ans Ende meiner Geduldsskala. Und dabei geht es noch nicht einmal um die wirklich wichtigen Dinge! Wenn aber schon verbummelte Socken in der Lage sind, wenn auch nicht meine Liebe an sich, so doch die Sympathie für meinen Mann derart hart auf die Probe zu stellen – was geschieht dann, wenn es erst einmal um die richtigen Charakterbrocken geht? Was, wenn Davids souveräne Art, die ich meistens so bewundere, manchmal bloß noch dickköpfig auf mich wirkt? Was, wenn meine Schlagfertigkeit, die er so mag, ihn im Streit kurz und klein macht? Was, wenn die wohltuende Ruhe, die er in mein einst so hektisches Leben gebracht hat, an manchen Tagen nach Langeweile riecht? Und was, wenn meine Angewohnheit, bei Entscheidungen oft monatelang sämtliche Pros und Contras abzuwägen, für ihn plötzlich nicht mehr klug, sondern nur ein weiterer Beweis meiner ewigen Unentschlossenheit ist?

 

Überbleibsel einer vergangenen Zeit

„Nimm den anderen so wie er ist“ – dieser Rat klingt in unseren Ich-verseuchten Ohren wie ein verstaubtes Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Er klingt nach faulem Kompromiss, nach Opfer und Naivität. Er klingt dumm. Und doch vermute ich, dass er vielleicht einer der wichtigsten Schlüssel für eine gesunde und dauerhaft glückliche Beziehung ist.

„Nimm den anderen so wie er ist!“ – „Wie? Das ist alles? Nun gut, das kann ja wohl nicht so schwer sein!“

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich gibt es Verhaltensweisen oder Einstellungen, die wir nicht hin- und schon gar nicht annehmen dürfen, gerade weil wir lieben! „Liebe, die offen zurechtweist, ist besser als Liebe, die sich ängstlich zurückhält. Ein Freund meint es gut, selbst wenn er dich verletzt; ein Feind aber schmeichelt dir mit übertrieben vielen Küssen“, wusste schon Salomo (Sprüche 27,5+6). Soll heißen, dass ungute Dinge angesprochen werden müssen, selbst wenn sich dadurch das Eheklima für eine Weile nahe am Gefrierpunkt bewegt. Zum Beispiel habe ich als ausgesprochener Nachtmensch – naja, sagen wir – nicht immer gute Zu-Bett-geh-Gewohnheiten. Wie oft Davids Kritik an dieser ungesunden Angewohnheit in ein heißes Wortgefecht mit mir mündet, kann ich schon nicht mehr zählen. Es ärgert mich einfach, dass er immer wieder den Finger in dieselbe Wunde legt. Und doch weiß ich, dass er Recht hat und es aus Liebe tut. Also versuche ich mehr und mehr, seine mahnenden Worte nicht als Angriff, sondern als liebvolle Korrektur zu meinem Besten zu sehen, die mir hilft, bessere Schlafgewohnheiten zu entwickeln.

 

Ich liebe dich …

Allerdings befürchte ist, dass lediglich der kleinste Teil der Kritik, die wir dem anderen zuteil werden lassen, in diese „Das-muss-angesprochen-werden-weil-ich-dich-liebe“-Kategorie gehört. Viel häufiger behandeln wir einander eher so wie Herr K. aus Berthold Brechts berühmten „Geschichten vom Herrn Keuner“:

„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“

„Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“

„Wer? Der Entwurf?“

„Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“

 

Jedes Mal, wenn ich an diese kleine Geschichte denke, fühle ich mich ertappt. Denn leider muss ich gestehen, dass sich die Mehrheit meiner Alltags-Nörgeleien gar nicht an den vermeintlich schwerwiegenden Charakterfehlern meines Mannes entzündet, sondern schlicht daran, dass er nicht denkt, redet oder handelt wie ich es will!

 

… so wie du bist!

„Nimm den anderen so wie er ist“ – das klingt verdächtig nach Jesus. Und so ist es dann auch: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, denn dadurch wird Gott geehrt“, schreibt Paulus zum Beispiel an die Christen in Rom (Kapitel 15,7). Der Satz trifft mich tief! Denn dass es beim Thema „Kritik und wie ich sie äußere“ gar nicht allein darum geht, dass wir alle uns gerne angenommen und geliebt wissen wollen wie wir nun mal sind, sondern dass wir gerade hier Gott durch unser Verhalten ehren, ist mir nur selten bewusst. Und auf einmal ist mir klar, dass der Satz „Nimm den anderen so wie er ist“ gar nicht verstaubt, naiv oder gar dumm ist, sondern dass es dabei um viel mehr geht: nämlich um den tiefen Respekt vor einem anderen Menschen, den Gott höchstpersönlich erdacht und gemacht hat – mit genau diesem Temperament, mit genau diesen Stärken – und ja, auch mit jenen Eigenschaften, die in meinen Augen vielleicht wie Schwächen wirken.

 

Darum habe ich irgendwann beschlossen, dass weder herumliegende Socken noch vergessene Wasserkistenstapel in unserem Flur uns unseren Ehefrieden rauben dürfen. Denn ich finde, unser Leben zu zweit ist viel zu kurz und viel zu kostbar, als dass wir unsere Liebe im Kampf um Banalitäten zerreiben. Stattdessen können wir ganz schön viel von dem, was sonst regelmäßig den Sturm im Wasserglas entfesselt, schon mit einem ein wenig weiteren Herzen und einem Schuss Humor zum Schweigen bringen.

 

Genau darin übe ich mich also jeden Tag aufs Neue – und siehe da, es ist gar nicht so schwer! Ich sammle Davids Socken ein und werfe sie mit einem Lächeln in den Wäschekorb – wohlwissend, dass er im Gegenzug für den Rest unserer Tage meine chronische Unentschlossenheit einfach „weglieben“ muss.

Sabine Müller

ist die Redaktionsleiterin von MINDO.