MINDO: „Leichter leben“ – danach sehnt sich eigentlich jeder. Warum löst allein der Gedanke an Leichtigkeit eigentlich so einpositives Gefühl in uns aus?

 

NICOLE SCHENDERLEIN: Vermutlich, weil es ein paradiesischer Zustand ist. Ein anderer Begriff für Leichtigkeit ist Mühelosigkeit: Wir wünschen uns ein Leben ohne viel Mühe. Wie im Paradies, wo alles von allein gut ist. Vor allem in Zeiten, in denen wir schon viel Kraft investiert haben, sehnen wir uns nach einem Gegengewicht. Wenn wir an Leichtigkeit denken, erinnern wir uns an all die damit verbundenen positiven Gefühle.

 

 

Was macht uns das Leben heute denn am ehesten schwer? Die Menschen vergangener Jahrhunderte mussten ganz objektiv betrachtet sicher häufig unter schwierigeren Bedingungen leben als wir. Oder ist das ein Irrtum?

 

SCHENDERLEIN: Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Sie miteinander zu vergleichen, ist fast unmöglich, weil wir nicht wirklich wissen, wie sich das Leben vor hundert Jahren angefühlt hat. Was uns aber verbindet, ist der Wandel der Zeit. Dass kaum etwas bleibt, wie es war, macht Menschen aller Epochen zu schaffen. Sich daran anzupassen, kostet Energie. In unserem Zeitalter ist es die Digitalisierung, die vielen Menschen das Leben schwer macht. Und natürlich die momentane Pandemie, die wie ein Schlaglicht alles offenlegt, was schwer war und ist und wird. Eine absolute Essenz der Vergänglichkeit.

 

 

Nun ist „Ich will leichter leben“ natürlich leichter gesagt als getan. An was scheitern die meisten bei der Umsetzung?

 

SCHENDERLEIN: So paradox es klingt, aber um leichter zu leben, müssen wir die Schwere des Lebens akzeptieren. Am Beispiel der Pandemie sehen wir das zum Beispiel gut an Menschen, die die Realität der Gefahr leugnen. Wenn etwas unvorhergesehen Schweres unser Leben trifft – und das passiert fast jedem Menschen im Laufe seines Lebens – ist der erste Schritt zur Leichtigkeit, diese Schwere zu akzeptieren. Denn nur wenn wir die Schwere verstehen, können wir Lösungen suchen, um sie zu erleichtern.

Wo brennt es am schlimmsten? Und wo kann ich schon mit kleinen Veränderungen große Wirkungen erzielen? Ein Mix aus beidem kann relativ schnell zu mehr Leichtigkeit führen.

Da möchte jemand sein Berufsleben, sein Beziehungsleben oder auch einfach seine Freizeit leichter gestalten, kann aberschwerlich alle Baustellen zugleich in Angriff nehmen. Was wäre hier ein umsetzbarer erster Schritt?

 

SCHENDERLEIN: Eine Bestandsaufnahme aller Baustellen und wie sie miteinander in Verbindung stehen. Denn Schwierigkeiten im Beruf haben fast auch immer Auswirkungen auf die Beziehung und Freizeit, und umgekehrt. Dann eine Prioritätsgewichtung: Wo brennt es am schlimmsten? Aber auch: Wo kann ich mit kleinen Veränderungen vielleicht schon große Wirkungen erzielen? Ein Mix aus beiden Möglichkeiten – die größte Baustelle zuerst und kleine Weichenstellungen an den anderen – kann oft relativ schnell zu mehr Leichtigkeit führen.

 

 

Wie wirkt es sich auf einen Menschen aus, wenn er sein Leben dann tatsächlich leichter macht, indem er seinen Alltag, seine Beziehungen, seine Arbeit, und vielleicht auch seinen Glauben „entrümpelt“?

 

SCHENDERLEIN: Wir entfalten uns. Wachsen möglicherweise sogar über uns hinaus und treiben überraschende Blüten. Christen würden vielleicht sagen: „Wir werden zu dem Menschen, den Gott sich schon immer gedacht hat.“ Ich würde es mit einem niederländischen Wort sagen: Wir „groeien“, was soviel wie „wachsen, gedeihen“ bedeutet. Wir entdecken immer mehr Facetten unserer Persönlichkeit, die Gott uns mitgegeben hat. Eine spannende Entdeckungsreise zu uns selbst.

 

 

Und wie vermeidet man, dass diese Übung am Ende zum Egotrip wird, der auf Kosten anderer geht, allem voran desPartners oder der Kinder?

 

SCHENDERLEIN: Wenn wir uns verändern, hat das immer Auswirkungen auf unser Umfeld. Das kann inspirierend für die Menschen um uns herum sein und das gesamte familiäre Klima positiv beeinflussen. Es kann aber auch Angst machen und mehr Konflikte hervorrufen. Wenn wir uns aktiv ändern, sollten wir deshalb auch immer die Menschen, die wir lieben, mit im Blick haben. Auch hier gilt die Balance aus Schwere und Leichtigkeit als Ziel. Grundsätzlich kann man aber annehmen: Wer vorher kein Egomane war, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit einer Entfaltung seines Lebens nicht.

 

 

Und zu guter Letzt: „Leichter leben“ lohnt sich, weil …

 

SCHENDERLEIN: … Entfaltung und Wachstum zu unserem schöpferischen Potenzial gehört.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

Nicole Schenderlein

41, ist gelernte Journalistin und Projektleitung von „Blattwenden“, einem gemeinnützigen Angebot für Suizidhinterbliebene und Menschen in ähnlichen Lebensumbrüchen. Als Coach ist sie Profi im Suchen nach einem leichteren Leben; ihre Entfaltung hat sie bei der Bildhauerei gefunden.

 

www.green-woman.de

 

 

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