MINDO: Ein heilsamer Glaube, ein Glaube also, der heilsame und wohltuende Impulse in unser Leben bringt – wie sieht der aus?

 

VALERIE LILL: „Angstfrei“ und „nicht manipulierend“ – das sind die ersten zwei Merkmale, die mir dazu einfallen. Wobei ich nicht denke, dass Glaube immer „wohltuend“ sein muss, denn manche Heilung braucht mehr als Streicheleinheiten und Seelenmassage. Heilung ist mitunter ein schmerzhafter, unbequemer Prozess. Ich denke, der Glaube ist dann eine wirklich nachhaltige Hilfe, wenn er Fragen zulässt. Christen geben oft zu schnell die falschen Antworten auf die richtigen Fragen. Heilsamer Glaube dagegen hält mit mir die Leere aus, hilft mir weinen, würdigt meinen Schmerz. Heilung braucht Zeit und Vertrauen in den Heiler – plus meinen Wunsch, gesund zu werden. Jesus hat oft, bevor er geheilt hat, gefragt: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Das finde ich meisterhaft nachgefragt!

 

 

Ist der Wunsch, dass Glaube vor allem auch uns Menschen guttun muss, dem heutigen Zeitgeist geschuldet – oder ist das biblische Wahrheit?

 

LILL: Es gibt durchaus Christen, die die Antwort auf diese Frage pervertieren und das dann „Demut“ nennen: nämlich, dass Glaube hart sein muss und wehtun soll – ist ja schließlich ein Dienst! Möglicherweise fallen wir auf der anderen Seite vom Pferd, wenn wir von heilsamen Glauben sprechen. Doch auf dieser Seite landet es sich besser und man bricht sich auch nicht so schnell das Rückgrat.

Gott sagte bei der Schöpfung: „Siehe, es ist sehr gut!“ Er ist der Gott, der mit den Worten tröstet: „Ich habe dich je und je geliebt!“ Und Jesus hat in den drei Jahren seines öffentlichen Wirkens hauptsächlich Menschen gesund- und freigeliebt. Ich schließe daraus, dass es nicht unser Zeitgeist, sondern vielmehr der Heilige Geist ist, der diese Sehnsucht in unser Herz legt, heil zu sein und geliebt zu sein. Darum denke ich, dass Glaube, der uns guttut, von Anfang an von Gott so gedacht war. Ich definiere Glaube vor allem über das Wort „Beziehung“. Wenn ich in einer liebevollen, authentischen Beziehung zu meinem Schöpfer leben darf, dann wird mir das guttun.

 

 

Welche ungesunden, ja vielleicht sogar krankmachenden Glaubenssätze und Gottesbilder, die Menschen mit sich herumtragen, sind deiner Beobachtung nach am weitesten verbreitet?

 

LILL: Wo ich meine ungesunden, inneren Antreiber mit Gottes Stimme verwechsele, wird es ganz schnell krankmachend. Zum Beispiel: „Wenn ich mich mehr anstrenge, dann kann ich vielleicht vor Gott bestehen.“ Oder: „Wenn ich es den anderen recht mache, dann ist das Nächstenliebe, die Gott von mir fordert.“ Oder: „Erst wenn ich dieses Problem im Griff habe, dann verdiene ich Liebe oder Respekt.“ Jeder hat seine Lieblingsantreiber. Doch dieses „Wenn-dann-“Szenario hilft mir in keiner Weise weiter. Es stützt nur mein inneres (Unrechts-)System, hat aber mit der „Wahrheit, die euch frei macht“, von der in der Bibel die Rede ist, oft sehr wenig zu tun.

Ich wurde eher mit „Sei brav!“ groß, als mit „Be brave!“, also nicht mit einem „Sei mutig!“ Wir haben gelernt, Rücksicht zu nehmen und faulen Frieden zu schließen. Wir haben gehört: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, und uns dann auf den ersten Teil dieser Aussage beschränkt. Viele meiner Mitchristen, die das von Kind an verinnerlicht haben, leiden noch heute an den Auswirkungen dieser Erziehung.

 

 

Nun werfen Kritiker dem christlichen Glauben gern vor, dass er nicht heilsam sei, sondern im Gegenteil: dass er Menschen unfrei mache und manchmal sogar krank. Was entgegnest du?

 

LILL: Ich gebe ihnen recht. Leider! Obwohl die Formulierung so nicht korrekt ist. Es ist nicht der Glaube an sich, der Menschen unfrei macht oder krank – es ist das, was manche Christen in ihn hineininterpretieren! Wo man sich auf Verbote und Gesetze konzentriert, gibt es nur Verlierer: Auf der einen Seite die, die sich für „rechtgläubig“ halten, aber als Preis ein enges Lebenskorsett tragen müssen, und auf der anderen Seite die, die an den überhöhten Richtlinien offensichtlich scheitern.

Es ist nicht der Glaube an sich, der Menschen unfrei macht oder krank – es ist das, was manche Christen in ihn hineininterpretieren.

Dabei liegt in der Erfahrung von Not aber auch eine Chance: Sie kann mich in die Arme meines tröstenden Vaters treiben. Gott sagt uns durch die Bibel: „Ich gebe deinen Füßen weiten Raum.“ Ich entscheide, ob ich lieber weiter in meinen Fußfesseln bleibe, oder ob ich das Leben als ein geschenktes Abenteuer betrachte.

 

 

Wenn nun aber jemand bemerkt, dass sein Glaube ihn in der Tat mehr verletzt, als dass er ihn heil macht – was rätst du?

 

LILL: Das kommt ganz darauf an, wie die Kraftreserve des Betreffenden gerade aussieht. Stabilisatoren in der Nahrung sind ja ungesund – aber vielleicht ist gerade ein ungesunder Glaube der einzige Stabilisator im Leben? Jemandem dieses Fundament wegzunehmen wäre so, als würde ich ihn aus dem Boot schubsen und ihm ermutigend hinterher rufen: „Du kannst zu Jesus übers Wasser gehen!“ Stattdessen möchte ich lieber von meinem eigenen „Ausstieg“ erzählen und darüber, dass ich über meine neue Freiheit glücklich bin. Jeder sollte selbst entscheiden, wann er sein Boot verlassen will. Wenn jedoch die Strukturen, in denen ein Mensch lebt, missbräuchlicher Art sind, wenn sie durch Gewalt aufrechterhalten werden oder durch Manipulation, dann kann und will ich meinen Mund nicht halten, wenn ich um Rat gefragt werde.

 

 

Was kann jeder selbst dazu tun, dass sein Glaube wahrhaftiger wird und im wahrsten Sinne des Wortes „Heil bringend“ für ihn und andere?

 

LILL: Mit dem Arzt selber sprechen! Ich versuche, anderen nichts überzustülpen. Meine Erkenntnis ist nicht großartiger als die anderer, ich habe vielleicht gerade bloß einen anderen Teil von Gott erlebt. Besonders im Gesangscoaching und in der Musiktherapie habe ich eine große Verantwortung, dem anderen Zeit und Raum zu lassen für seine eigene, individuelle Entwicklung.

Für mich persönlich ist es wichtig, regelmäßige Auszeiten zu haben, die Dauer meiner eigenen Prozesse zu akzeptieren, Grenzen zu setzen und zu wahren, mich nicht zu vergleichen und mein Bauchgefühl zu hinterfragen, um ihm dann neu zu vertrauen. Ich möchte mich nicht an eine spirituelle Schonhaltung gewöhnen. Da, wo es wehtut, will ich mutig hinsehen, und mit Humor und Barmherzigkeit meine eigene Begrenztheit aufweiten lassen.

 

Und zuletzt: In welchem Bereich deines Lebens hat der Glaube dich ganz persönlich heiler gemacht?

 

LILL: Ich bin auf dem Weg, endlich mir selbst bewusster zu werden. Das hat viel mit Barmherzigkeit und dem Annehmen der eigenen Bedürftigkeit zu tun. Es hat damit zu tun, mich für mich nicht zu entschuldigen. In einem Interview hab ich mal gesagt: „Meine Gemeinde hat mich gesundgeliebt!“ Dabei war es eine ganz normale Gemeinde mit echt schrägen Leuten und verletzten und verletzenden Menschenkindern. Trotzdem – ich fing an, mich zwischen diesen Normalos angenommen und geliebt zu fühlen.

Die Liebesbeziehung zum lebendigen Gott hat mich heiler gemacht in allen Bereichen meines Lebens. Es ist ein schleichender und manchmal humpelnder Prozess. Aber er geht weiter – und macht meinen Blickwinkel weiter.

 

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

VALERIE LILL

ist Sängerin, Worteliebhaberin, Komponistin, Musiktherapeutin, Buchautorin und Vocal-Coach. Sie ist verheiratet, Mutter dreier Söhne und wohnt im Oberbergischen Land. Neben einer regen Konzerttätigkeit, gibt sie Gesangs- und Poetry-Workshops und liebt es, wenn junge Menschen ihre eigenen Begabungen entdecken.

 

www.valerielill.de

Das könnte Sie auch interessieren