MINDO: Ein heilsamer Glaube, ein Glaube also, der wohltuende und heilende Impulse in unser Leben bringt – wie sieht der aus?
BETTINA BECKER: Vor einigen Wochen, also vor der Corona-Pandemie, hatten wir unser „Café Wertvoll“. Hier treffen wir uns viermal im Jahr mit allen, die irgendwie in unserem sozialen Jugendprojekt „Villa Wertvoll“ mitarbeiten, essen leckeren Kuchen, trinken Kaffee und quatschen. Im Nachhinhein schrieb eine Mitarbeiterin: „Es war heilsam – allein, weil wir zusammen waren.“
Wenn wir in den Vorbereitungen an den Nachmittag dachten, kamen uns verschiedene Wörter in den Sinn: Gemeinschaft, Wertschätzung, Austausch, Essen – das Wort „heilsam“ stand nicht auf der Liste. Aber scheinbar ist genau das passiert: Es war heilsam. Es war heilsam, weil liebevoll vorbereitet, weil wertschätzend, weil jeder gesehen wurde, weil es ein Ort war, wo wir einfach sein konnten. Das Heilsame entstand also oft im Nebenbei – quasi als Nebenprodukt einer Gemeinschaft, die sich im Vertrauen dafür einsetzt dass diese Welt bunter und schöner wird.
Eine kritische Nachfrage: Ist der Wunsch, dass Glaube vor allem auch uns Menschen guttun muss, dem heutigen Zeitgeist geschuldet – oder ist das biblische Wahrheit?
BECKER: Kritische Gegenfrage: Ist das denn der Wunsch, wenn es um Glauben geht? Es klingt so, als sei der Zeitgeist ziemlich auf sich selbst fokussiert, was ja schon fast egoistisch klingen mag. Glaube muss „mir“ etwas bringen.
Ich erlebe das eigentlich weniger so. In meinem Umfeld erlebe ich eher, dass Glaube im Unterwegssein wächst. Dass er gar nicht losgelöst ist vom Leben, dass es oft gar keine Extra-Kategorie „geistliches Leben“ gibt. Sondern, dass er entsteht und dass die Menschen um mich herum plötzlich erleben: „Im Vertrauen wollte ich etwas Gutes tun und wurde dadurch selber beschenkt.“ Und solche Geschichten finde ich auch in der Bibel.
Welche ungesunden, ja vielleicht sogar krankmachenden Glaubenssätze und Gottesbilder, die Menschen mit sich herumtragen, sind denn deiner Beobachtung nach am weitesten verbreitet?
BECKER: Kritisch sehe ich, wenn Glaube losgelöst ist vom eigentlichen Leben. Dass es eine extra Schublade „geistliches Leben“ gibt und da wird dann geschaut und gefragt. Als könnten wir es von unserem anderen Leben trennen. Das halte ich für bedenklich.
Krankmachend empfinde ich, wenn Glaube nicht in die Freiheit und nicht in die Nächstenliebe führt. Wenn er Mauern baut, Menschen voneinander trennt, statt sie zusammenzuführen. Das beobachte ich immer wieder und das ist es auch, was mir Sorgen macht und wo ich viel Schmerzhaftes sehe. Wenn Menschen wegen bestimmter Merkmale, Identitäten, Lebensstile, Glaubensüberzeugungen in Schubladen gesteckt werden und so Ausgrenzungen entstehen. Das führt zu tiefen Verletzungen und Unsicherheiten.
Nun werfen Kritiker dem christlichen Glauben gern vor, dass er nicht heilsam sei, sondern im Gegenteil: dass er Menschen unfrei mache und manchmal sogar krank. Was entgegnest du darauf?
BECKER: Gar nichts entgegne ich. Denn egal, was ich sage, diese Kritiker werden mir immer Beispiele nennen können (und ich kann es auch), in denen genau das der Fall war und ist. Ich stimme ihnen also zu. Wenn das Gespräch dann weitergeführt werden sollte, würde ich versuche dahin zu schauen, dass es nicht explizit der christliche Glaube ist, dem man diese Vorwürfe machen kann, sondern, dass das bei jeder Religion zu finden ist, wenn man sie genau kennenlernt. Das ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen: Religion macht allzu oft unfrei und allzu oft krank! Systeme, in denen Glaube gelebt wird, können unfrei und krank machen. Das ist schmerzhaft. Diskutieren bringt da meiner Erfahrung nicht viel.
„Oft ist es nicht der Glaube, der verletzt, sondern Menschen oder Systeme, die sagen, wie dieser Glaube gelebt werden muss.“
Mir persönlich hilft immer der Blick auf Jesus, der genau in so einem System der Unfreiheit so ganz Gegensätzlich gewirkt und gelebt hat. Der für die Freiheit, für die Liebe, für die Überwindung von Grenzen, Gesetzen und Fesseln gestorben ist. An ihm möchte ich mich orientieren, mich von ihm hinterfragen lassen. Mich herausfordern lassen, immer, immer und immer wieder den einzelnen Menschen zu sehen.
Wenn nun aber jemand bemerkt, dass sein Glaube ihn in der Tat mehr verletzt, als dass er ihn heil macht – was rätst du?
BECKER: Ich mag das Zitat von Tolstoi: „Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht allen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt. Wenn du nicht mehr an Gott glaubst, an den du früher glaubtest, so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich bemühen, besser zu begreifen, was du Gott nennst. Wenn jemand an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, so heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass er nicht aus Holz ist.“
Oft ist es nicht der Glaube, der verletzt, sondern Menschen oder Systeme, die sagen, wie dieser Glaube gelebt werden muss oder wann dieser Glaube noch Glaube ist und wann nicht mehr. Ich frage dann, was dieser verletzte Mensch zu verlieren hat, wenn er sich diesen Menschen oder dem System eine Zeitlang entzieht. Distanz und der Blick von einem weiteren Horizont aus ist oft hilfreich, um zu erkennen, was einen krank gemacht hat. War es der Glaube? Das System? Menschen? Ich erlebe, dass Menschen oftmals dann zu einem heilsamen Glauben finden, wenn es ihr eigener geworden ist. Wenn sie spüren: „Es gibt etwas, dass mich hält, selbst wenn ich aus den vertrauten Systemen rausgehe.“
Was kann jeder selbst dazu tun, dass sein Glaube wahrhaftiger wird und im wahrsten Sinne des Wortes „Heil bringend“ für ihn und andere?
BECKER: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst – und zwar so aktiv es geht!
Und zuletzt: In welchem Bereich deines Lebens hat der Glaube dich ganz persönlich heiler gemacht?
BECKER: Meine Stärke anzunehmen. Das klingt jetzt vielleicht ziemlich merkwürdig, aber ich komme aus einem Umfeld, in dem Frauen lieber schwach, anlehnungsbedürftig und still sein sollten. Als Energiebündel mit starker eigener Meinung und der Gabe vor Menschen zu stehen, habe ich mich in christlichen Kreisen oft als Fehler gefühlt. Mein Glaube, einige Distanz, intensives Beschäftigen mit der Bibel und mit Biografien, haben mir geholfen, mich ganz und gerne anzunehmen, wie ich bin: Als Frau. Als Christin. Mit all meiner Kraft, die ein wirkliches Geschenk sein kann. Aber genauso mit all meinen Grenzen das Vertrauen zu lernen: „Ich kann und muss niemanden retten! Das ist nicht meine Aufgabe.“
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Sabine Müller.