MINDO: Herr Dr. Kunz, Meditation gehört seit vielen Jahren fest zu Ihrem Leben. Sie sind mit verschiedensten christlichen Meditationsweisen vertraut und haben zahlreiche Menschen praktisch darin angeleitet. Wie sind Sie als Theologe und Pfarrer eigentlich dazu gekommen? Waren Sie nicht skeptisch, dass Sie sich dabei auf fernöstliche oder esoterische Formen einlassen?
DR. STEFAN KUNZ: Natürlich hatte ich am Anfang auch Vorbehalte und habe es sehr skeptisch betrachtet, wenn Menschen in den 1970er-Jahren zum Meditieren in indische Ashrams fuhren. Während meines Theologiestudiums habe ich dann aber gemerkt, was diese Menschen antrieb: Es war die tiefe Sehnsucht nach einer unmittelbaren Gotteserfahrung.
Genau das kennen wir in der christlichen Tradition aber auch, das gibt es schon in der Bibel. Und da wusste ich, dass Skepsis gar nicht angebracht war, sondern dass es dran war, in den eigenen Schätzen zu graben, nachzuforschen, was es dort an ganz ursprünglich christlich verankerten Meditations- und Kontemplationsformen gab. So heißt es zum Beispiel in den Psalmen: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“ Oder Paulus sagt: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.“ Also bin ich auf die Suche gegangen und habe gemerkt, dass hier große, wichtige Schätze liegen, die in unserer Tradition verborgen sind. Und ich habe es als meine Aufgabe gesehen, diese nach und nach ans Licht zu bringen – für mich selber und für andere.
Wodurch unterscheidet sich christliche Meditation denn von fernöstlicher?
KUNZ: Der entscheidende Unterschied ist: Bei der fernöstlichen Meditation geht es darum, achtsam zu werden und leer – und zu schauen, was passiert. Das ist dann eigentlich ein Selbstzweck. In der christlichen Meditation geschieht das auch, aber immer mit Bezug auf Gott, mit ihm als Gegenüber. Auch hier versuche ich, leer zu werden – aber für Gott. Ich versuche, einen Freiraum für ihn zu schaffen, damit er seine Liebe, seinen Segen und seine Gnade einströmen lassen kann, ganz im Sinne der ersten Seligpreisung, in der Jesus sagt: „Selig sind die geistlich Armen.“ Ich bin ganz arm und leer, ich höre auf zu denken und zu planen, ich bin einfach empfänglich – aber nicht um meiner selbst willen, sondern, um dadurch frei zu werden für Gott.
Kann man dabei auch falsch abbiegen?
KUNZ: Natürlich, es gibt Gefahren. Zum Beispiel die, dass ich weltflüchtig werde, meine Verantwortung in der Welt nicht mehr tatkräftig wahrnehme, anderen nicht mehr im Sinne des Gebots der Nächstenliebe helfe, sondern vorrangig dasitze und meditiere, um mich der Welt zu entziehen. Das ist nicht die Botschaft der Bibel.
Bei der fernöstlichen Meditation geht es darum, achtsam zu werden und leer. In der christlichen Meditation geschieht das auch, aber immer mit Bezug auf Gott, mit ihm als Gegenüber.
Falsch abbiegen kann ich auch, wenn ich nur noch in der Gegenwart bin. Das ist zwar schön und gut, doch unser Gott ist ein Gott, der kommt. Die Zukunft Gottes, also dass wir auf sein Reich zugehen, muss in der christlichen Meditation immer im Blick sein. Oder es könnte passieren, dass ich über dem Meditieren vergesse, dass es ganz schlicht darum geht, Gott, die Mitmenschen und mich selbst zu lieben. Die Gefahr ist dann, dass ich nur noch mein Wohlgefühl im Blick habe, dass ich im Sinne einer Wellness-Kampagne Ruhe, Frieden und Entspannung finde und mich aus allem rausziehe. Das ist nach Auskunft der Bibel das Gegenteil von dem, was Gott von uns möchte. Sondern wir sollen unser Leben hingeben als ein „wohlgefälliges Opfer“ wie es im Römerbrief heißt. Wenn es in der Meditation nur noch um mich selbst geht, ist das gefährdet. Wahre Meditation hat zum Ziel: Frei und leer für Gott zu werden – und dadurch durchlässig für die Liebe Gottes. Ich werde gleichsam zu einem Gefäß Gottes – und das geht eben nur, wenn ich leer werde und im Stillwerden die ganze Fülle an Gedanken, Ängsten und Sorgen ausräume.
Nun möchte jemand gerne wissen, ob regelmäßiges Meditieren auch etwas für ihn sein könnte, ist darin aber ganz unerfahren. Wie kann er anfangen?
KUNZ: Ein guter Ausgangspunkt ist das meditative Bewegen der Worte der Bibel, das ist so etwas wie die Basismeditation. Dabei werde ich still, lese einen Bibelvers oder die Tageslosung, verweile dann dabei und bewege das Gelesene im Herzen. Und ich lasse einfach geschehen, was sich mir von Gott her zeigt. Das ist ein Zugang, der mehr ist, als nur der kognitive im Sinne von „Ich lese das jetzt, verstehe es, mache mir ein paar Gedanken dazu und dann gehe ich wieder zur Arbeit über.“ Das wäre zu wenig. Stattdessen übe ich ein, das Wort Gottes tief in mein Herz sinken zu lassen.
Ein weiterer guter Zugang ist aus meiner Erfahrung, mit wachen Augen und einer inneren Haltung des Vertrauens in Gott als den Schöpfer durch die Natur zu gehen und zu schauen, was sich da zeigt. Dieser Ansatz hat oft eine unglaubliche Wirkung und du kommst in eine neue Gottesbeziehung hinein.
Grundsätzlich aber kann der Zugang für jeden etwas anderes sein und man kann überall einsteigen. In meinem Buch über christliche Meditation stelle ich ein Kaleidoskop von zwölf verschiedenen Formen und Übungen vor. Manche Menschen kommen über die Musik in eine unmittelbare Gottesbeziehung, andere durchs Tanzen, wieder andere durch das Atmen, durch Gebärden, beim Wandern usw. Hier kann jeder selbst schauen, welche Fährte dem eigenen Wesen am meisten entspricht.
Und welche ist Ihre persönlich liebste Meditation?
KUNZ: Die wichtigste ist für mich die Jesus-Meditation. Es ist die unmittelbare, echte Zuwendung zu Jesus. Sie wird abgeleitet aus der Bartimäus-Geschichte im Markusevangelium: Der blinde Bartimäus sitzt am Wegesrand und als Jesus vorbei kommt, ruft er um Hilfe. Die Jünger wollen ihn zum Schweigen bringen, er aber ruft umso lauter: „Herr, erbarme dich meiner!“ Jesus wendet sich diesem blinden Menschen ganz bewusst zu, er heilt ihn, macht ihn gesund an Leib und Seele, und Bartimäus folgt ihm daraufhin nach.
Wahre Meditation hat zum Ziel: Frei und leer für Gott zu werden – und dadurch durchlässig für die Liebe Gottes.
Dieses kurze Stoßgebet hat damals einen Menschen aus der Dunkelheit herausgerissen, und diese Erfahrung kann man bis heute wiederholen. Wenn ich mit ehrlichem Herzen zu ihm rufe: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ – dann tut er es. Nicht rein äußerlich, sondern innerlich. Das Erbarmen Gottes zieht mich durch alle Dunkelheit hindurch zum Ziel. Es ist eine einfache Meditation, gerade, weil sie mit dem Atem verbunden ist. Ich sage „Herr Jesus Christus“ beim Einatmen und „Erbarme dich meiner“ beim Ausatmen. Ich muss ja atmen, immer, ob ich gesund oder krank bin, ob es mir gut oder schlecht geht – und wenn diese Gebetsworte in mir verankert sind, komme ich immer wieder darauf zurück. Das hat eine ganz wunderbare und beseligende Wirkung. Ich bin sicher, dass sie mich auch durchtragen wird bis zum Ende.
Was ich auch gerne mag, ist die Naturmeditation – zu sehen, was sich draußen in der Natur, in der Schöpfung, an Wunderwerken Gottes zeigt. Auch liebe ich eine Gebetsgebärde, bei der ich dastehe und versuche, mich mit den Händen der Gnade Gottes zu öffnen. Diese Übung mache ich jeden Morgen und es tut mir gut.
Kann regelmäßiges Meditieren einen Menschen positiv verändern – angefangen bei seinen Reaktionen im Alltag bis hinein in seinen Charakter?
KUNZ: Ich habe es tatsächlich selber von jungen Jahren an gespürt, dass Meditieren mein Leben verändert und in gewisser Weise auch geheilt hat. Deswegen heißt mein Buch auch „Jesus atmen – Die heilsame Kraft christlicher Meditation“. Eine Menge verändert sich, wenn ich ernsthaft meditiere und Zeiten der Stille halte: Ich werde innerlich ruhiger und lebe aus einer Mitte heraus, die ich sonst nicht so habe, weil ich innerlich oft eher getrieben bin, selbst durch fromme Impulse. Wichtig ist, dass ich in die Ruhe hineinkomme: „Ich lasse Gott walten. Ich lasse es gut sein, weil Gott es gemacht hat.“ Was ich bin und was ich tue, muss nicht perfekt sein, sondern ich lasse es in der Erfahrung von Gnade und Vergebung einfach gut sein. Das ist eine Grunderfahrung in der Meditation. Ich werde natürlich auch innerlich „heller“ – weil ich viele von den tausenderlei Bildern und Impulsen in mir ausräume und dadurch Raum schaffe für das Licht Gottes, für die Gnade Gottes und die Liebe Gottes. Es schafft eine neue innere Freiheit – und auch eine Gelassenheit.
Zudem muss, wer meditiert, aufrecht stehen oder sitzen. Oft sind wir so gebeugt, weil wir einer Sache verbissen nachstreben. Meditation aber heißt: Ich halte inne, ich richte mich auf zum Himmel. Da geschieht eine Veränderung der inneren Haltung – und das merken oft auch die Mitmenschen: Da ist ein aufrichtiger Mensch. Klarheit, Gelassenheit und Helligkeit kommen in sein Leben hinein.
PODCAST: „Jesus atmen – Die heilsame Kraft christlicher Meditation“
In seinem Buch „Jesus atmen“ stellt Stefan Kunz verschiedene christliche Meditations- und Kontemplationsübungen vor.
Auf „Spotify“ und „Youtube“ kannst du 12 Übungen kostenfrei anhören – vom Autor selbst eingelesen.
Meditationen → auf YOUTUBE hören
Meditationen → auf SPOTIFY hören
Wirkt sich regelmäßiges Meditieren auch positiv auf unseren Körper aus?
KUNZ: Ja, und das hängt vor allem mit dem Atmen zusammen: Wer meditiert, atmet tiefer und langsamer. Mediziner mahnen oft an, dass wir in unserer westlichen Welt viel zu flach und zu schnell atmen, was ungesund ist. Die ursprüngliche Form, tief und langsam zu atmen, wie in der Meditation, ist in einem ganz leiblichen Sinne gesund. Auch auf die Seele hat es eine heilsame Wirkung, wenn ich mitten im Lauf meines Lebens zur Ruhe komme, innehalte, auf Gott hinschaue. Das kommt auch durch den Blickwechsel, dass ich nicht nur auf mich selber schaue, auf meine Probleme, die mich runterziehen, sondern dass ich bewusst den Blick weg von mir auf Christus, auf Gott hin wende. Ich atme wieder so, dass ich damit den Namen Jesus verbinde und Gott spüre durch seinen Heiligen Geist, der in mir wirkt, in mir lebt, in mir atmet. Das hat in einem ganz realen Sinn eine heilsame Wirkung, und das ist zutiefst christlich. Jesus hat geheilt und Gott ist unser Arzt. Er will, dass wir gesund werden, vor allem auf dem Grund unseres Herzens.
Ich habe tatsächlich von jungen Jahren an gespürt, dass Meditieren mein Leben verändert und in gewisser Weise auch geheilt hat.
Gib es Studien, die den gesundheitlichen Effekt des Meditierens untermauern?
KUNZ: Ja, man hat bei den Hirnströmen von Menschen, die regelmäßig meditieren, vermehrt die ruhigeren Thetawellen festgestellt. Es ist also offensichtlich, dass es dem Menschen guttut. Man kann es auch physiologisch erklären: Bei Gefahr wird in unserem Körper Adrenalin ausgeschüttet, wir haben den Impuls anzugreifen oder zu fliehen. Wenn das zu oft geschieht – und das passiert bei dauerhaftem Stress – wird unser Körper extrem strapaziert. Durch mentale Ruhepausen hingegen wird der Vagusnerv aktiviert, der für Ruhe und Erholung in unserem Nervensystem zuständig ist. Dieser wird durch regelmäßige Meditation und Kontemplation trainiert. Auf tägliche Herausforderungen und selbst auf Gefahrensituationen reagieren wir dann nicht mehr nur noch mit Flucht oder Angriff – die Schuld auf andere schieben, egoistische Strategien einsetzen –, sondern wir können in solchen Momenten innehalten, Distanz finden und in einen Raum der Stille eintreten. Wir handeln dann nicht mehr bloß hormongesteuert, sondern mit einer bewussten Gegenreaktion.
Das tiefste Geheimnis ist aber gar nicht medizinischer Art, sondern dass ich offen werde für den Geist Gottes – den heiligen Geist, der mich innerlich heilt und befreit. Dass ich zur Quelle meines Lebens komme und wieder merke: Ich lebe nicht aus mir heraus, sondern ganz und gar aus einer Quelle, die mir unverfügbar ist, aus der Quelle der Schöpfung und Erlösung. Und das drückt sich dann letztlich auf allen drei Ebenen aus: im Geist, in der Seele und in meinem Körper.
Herr Kunz, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Andrea Specht.