Stellen Sie sich vor, Ihr Chef beginnt das Team-Meeting mit einer Meditation: Alle sollen erstmal eine Minute die Augen schließen. Sie sollen sich klarmachen, wie sich der Raum anfühlt, in dem sie gerade sitzen, und ihren Atem spüren. Ihren Körper wahrnehmen und kurz überlegen, worum es ihnen bei dem Treffen geht.

Diese Vorstellung klingt für Sie, um es harmlos auszudrücken, völlig esoterisch? Atmen Sie tief durch – denn es lohnt sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen.

 

Wenn Erwachsene Bücher ausmalen

Im Freizeitangebot halten Meditationsübungen großflächig Einzug. Yogastudios sprießen regelrecht aus dem Boden, Zeitschriften wie „Flow“ widmen sich dem achtsamen Leben, und Malbücher für Erwachsene sollen uns dabei helfen, unsere Gedanken beim „Zentangle“ (einer Malmethode) auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Zum Thema Achtsamkeitsmeditation erscheinen jährlich Hunderte wissenschaftliche Publikationen.

 

Woher kommt Achtsamkeit?

Was steckt hinter diesem Begriff, der vielerorts gebraucht und verschieden verstanden wird?Achtsamkeit ist ein zentrales Anliegen in der buddhistischen Meditation. Dabei geht es vor allem darum, Aufmerksamkeit zu entwickeln und zu entfalten. Seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren wird diese Form der Meditation ausgeübt.

 

Aus meiner Sicht ist Achtsamkeit, wenn ich sie aus dem christlichen Kontext heraus betrachte, eine praktische Methode, die den Augenblick würdigt, um ein größeres Maß an Klarheit und innerer Ruhe zu entwickeln. Die von Christen praktizierte „Stille Zeit“ ist nichts anderes, als ein achtsames oder aufmerksames Hören auf Gottes Weisungen.

 

Im Angesicht Gottes lasse ich gerne meine Sinneswahrnehmungen verändern, damit mein Leben an Bewusstsein gewinnt. Freiwillig und mit einer großen Portion Neugier höre ich in ungestörter Einsamkeit und Stille auf das Gute, das Gott in mir wachsen lassen will, um verantwortungsbewusst und respektvoll mit den Aufgaben des Tages umzugehen.

 

Achtsamkeit auf der Chefetage

Führungskräfte können inzwischen aus zahlreichen Achtsamkeits-Coaching-Angeboten wählen, und auch die digitale Welt wird bereits heute durch den Achtsamkeits-Megatrend beeinflusst, wie zahlreiche Achtsamkeits-Apps oder Angebote zum „Digital Detox“ („digitale Entgiftung“) belegen.

 

Was vor 20 Jahren noch vielerorts ein Tabu war, scheint heute ein Mega-Trend zu sein. Ob umtriebige Großstädter, gestresste Manager oder berufstätige Eltern – die meisten wünschen sich mehr Entschleunigung und Ruhe im Alltag. Mal ehrlich – wie oft ertappen Sie sich dabei, in einem Moment der Ruhe doch noch schnell die neueste WhatsApp-Nachricht zu checken?

 

Ruhige Momente zu erleben, fällt Menschen unserer Zeit zunehmend schwer. Jeder von uns erledigt täglich mehrere Aufgaben gleichzeitig und glaubt an die Multi-Tasking-Lüge. Aber genau dieses „Immer-und-Überall“ macht unruhig, im schlimmsten Fall sogar ernsthaft krank. Dem modernen Menschen scheint zunehmend die Fähigkeit abhanden zu kommen, sich auf den Augenblick einzulassen. Kein Wunder also, dass sich das Thema Achtsamkeit gerade in der westlichen Welt wachsender Beliebtheit erfreut.

 

Gegentrend zu Effizienz und Wellness

Google schenkt Ihnen 222 Millionen Treffer, wenn Sie das Stichwort „mindfulness“, also den englischen Begriff für „Achtsamkeit“, eingeben – vor zwei Jahren waren es noch 54 Millionen. Nicht schlecht für einen Trend, vom Sprinter zum Marathonläufer.

Achtsamkeit ist auf dem besten Weg, den faden Begriff der Wellness abzulösen.

Der bekannte Zukunftsforscher Matthias Horx meint, in Achtsamkeit vor allem einen Gegentrend zu Beschleunigung und Effizienz zu erkennen, aber auch zu Wellness und Entspannung. Auch im Business Bereich sieht Horx die Anzeichen der neuen Achtsamkeits-Kultur. So werden die Heerscharen an McKinsey-Beratern gerade von den Achtsamkeitstrainern verdrängt. Das ist doch mal eine gute Nachricht, oder?

 

Bereits 2016 schrieb er in seinem „Zukunftsreport“: „Achtsamkeit ist auf dem besten Weg, den faden Begriff der Wellness abzulösen. Er wird auch – so unsere Prognose – langfristig das derzeitige Lieblingsnebelwort ersetzen: Nachhaltigkeit. Anders als Wellness und Nachhaltigkeit ist Achtsamkeit nicht so einfach korrumpierbar. Achtsamkeit ist Handlung – ein innerer Prozess mit vielen Konsequenzen und Bedingungen. Und mit harten Ausgangslagen.“

 

Die Verstopfung in den Ohren lösen

Gerade für Menschen einer Zivilisation, die uns unaufhörlich zutextet, ist Schweigen ein Weg, um seelisch gesund zu bleiben. Das löst die Verstopfung der Ohren. Im Beten, Schweigen und Hören können alltagstaugliche Wirklichkeiten entstehen. Für mich gilt, dass ich mich nicht brav hinsetzen und „achtsam“ sein will. Ich könnte rein theoretisch achtsam meine Atemzüge zählen oder achtsam 100 Schritte gehen, aber ob ich dadurch wirklich achtsamer werde, ist eine andere Frage. Horx dazu: „Achtsamkeit heißt: In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen.“ Mir jedenfalls gefällt der Gedanke, mich selbst zu besinnen.

 

Unterwegs auf dem falschen Gleis

Die „Annahme meiner selbst“ ist für den Theologen Romano Guardini die Voraussetzung für alle menschliche und spirituelle Lebendigkeit. Zu gerne möchte ich mit dem einverstanden sein, was ist, doch dafür brauche ich eine Fahrkarte für den „Zug nach innen“ – die gibt’s leider nicht bei der Deutschen Bahn, und für Verspätungen trage ich selbst die Verantwortung.

 

Zu oft fahre ich im ICE der endlosen Gedankenketten, Prioritätenlisten, Warum-Fragen und strategischen Meilensteine. Der Zug des täglichen Tumults fährt auf dem falschen Gleis. Mir geht es häufig so, dass ich meine Gedanken nicht aufhalten kann und bereit bin, mich dem Druck der Verhältnisse unterzuordnen. Anders ausgedrückt: Mein Lebenszug fährt auf dem falschen Gleis und erreicht nicht den Zielbahnhof – besonders nach schwierigen Beratungsgesprächen oder Konfliktmoderationen. Zum einen möchte ich mit einer großen Portion Empathie in meinen Arbeitsalltag gehen, zum anderen brauche ich die professionelle Distanz, um komplexe Themen kompetent zu begleiten. Doch jeder Befreiungsprozess beginnt mit einem „Ja“ von innen und rechnet mit der Kritik von außen. Befreien Sie sich darum von Denkschablonen, wenn Sie mit Autorität Wachstum und Entwicklung fördern wollen.

 

Offen werden für Gottes Gegenwart

Der Ursprung der Psalmen, ja allen Betens, sind die innersten Regungen des Menschen, der eine Begegnung mit Gott sucht. Sinn des Betens ist, in eine lebendige Begegnung mit Gottes Geist und sich selbst zu kommen. Hier wird die Sehnsucht mit allen Gefühlsregungen ernst genommen und betend ausgedrückt. Die Sehnsucht nach Gott ist ein immerwährendes Gebet. Sie lebt in mir manchmal gesättigt und oft als Durst. Achtsamkeit im Glauben erfahre ich, wenn das helle Licht der Gnade meinen Mangel an Selbstachtung in Selbstliebe verwandelt – wenn Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit Gutes in mir wachsen lassen.

Achtsamkeit im Glauben erfahre ich, wenn das helle Licht der Gnade meinen Mangel an Selbstachtung in Selbstliebe verwandelt.

Achtsamkeit heißt, für Regungen und Motive des Heiligen Geistes aufmerksamer zu werden – in der Stille und im Alltag. Halbherzigkeiten auf dem geistlichen Weg dürfen aufgegeben werden, um voranzukommen. Wie viele innere Bewegungen warten auf Ihre Beachtung? Übertönen Sie sie nicht durch Aktivität. Öffnen Sie Ihr Bewusstsein für Gottes Gegenwart. Denn Worte und Taten, die aus der Tiefe kommen, entfalten ungeahnte Kräfte.

 

Jesus nachzufolgen verlangt keine asketischen Leistungen und unreflektierten Gehorsam. Nachfolge ist die Bereitschaft, mit Jesus zu leben, auf ihn zu sehen und sich nach seinem Vorbild auszurichten. Und welchen Titel Sie ganz persönlich diesem Leben geben, ist für Gott nicht wichtig. Da bin ich mir sicher.

 

Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit

Wenn Jesus in Markus 6,31 sagt: „Kommt mit mir an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus“, steige ich mit diesem Gebet, so oft es möglich ist, aus dem Alltagsgetriebe aus. Für das Ruhen in diesem Sinne brauche ich weder Entschuldigungen noch Rechtfertigungen.

 

Sicherlich kennen Sie Situationen in Ihrem Leben, in denen Sie die Orientierung verloren haben und nicht mehr wissen, was wichtig ist. Sie haben sich im Gestrüpp von Details verirrt und sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit ist für mich ein Weg, aus aktuellen Situationen Abstand zu gewinnen und eine gute Hilfe. Ignatius von Loyola nannte das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit die „wichtigste Viertelstunde“ des Tages.

 

1. Mich einfinden

Ich versuche, mich zu sammeln, gegenwärtig zu sein vor dem Gott meines Lebens, der in Jesus Christus für mich da ist. Ich bin aufmerksam für mich selbst – mit Staunen und Dank. Ich übe, still zu werden.

 

2. Bitten

Ich bitte um Offenheit, in Gottes Licht die Wirklichkeit des Tages zuzulassen und zu erkennen, was Gott mir heute zeigen will.

 

3. Den Tag anschauen

Ich blicke auf den zurückliegenden Tag mit liebender Aufmerksamkeit – das bedeutet: ohne gleich zu werten und zu urteilen, mich dem zuwenden, was heute war: in mir, durch mich, um mich. Ich kann den Tag – Stunde um Stunde oder Ort um Ort oder Begegnung nach Begegnung – an mir vorbeiziehen lassen und dabei versuchen, nachzuspüren, wo ich im „Zeitraffertempo“ weitergehen kann und wo ich etwas im „Zeitlupentempo“ anschauen will. Es geht nicht um Vollständigkeit, sondern um Verweilen bei dem, was sich in diesem Moment zum Verweilen anbietet. Empfindungen, Gefühle, Gedanken, die ich in einzelnen Situationen hatte, können wieder aufsteigen, andere melden sich vielleicht neu.

 

Ich versuche nun in allem, was mir gekommen ist, wahrzunehmen, wie ich den Geist Gottes in Liebe, Glaube, Hoffnung am Werk spüre – oder wo mir Ungeist in Egoismus, Misstrauen, Entmutigung begegnet ist. Und schließlich frage ich mich: Was will Gott mir damit sagen?

 

4. Vor Gott bringen, was ich wahrgenommen habe

→ Was in mir da ist: Freude, Betroffenheit, Unruhe, Trauer.

→ Was ich als gut erkenne.

→ Was an Ungelöstem, an Schuld oder Wunden da ist.

→ Mich und die Betroffenen neu Gott anvertrauen.

→ Gott loben, danken, für das Geschenk der Versöhnung

→ Bitten, je nachdem was mir jetzt und heute naheliegt.

→ Ich vertraue: Gott nimmt mich an, wie ich wirklich bin.

 

5. Auf den nächsten Tag zugehen

Was bewegt mich im Blick auf den morgigen Tag? Ich übergebe all meine Pläne, Ereignisse, Hoffnungen, Befürchtungen, Begegnungen an Gott. Ich bitte um Kraft für das „Notwendige“, um Vertrauen und Zuversicht, um Entschiedenheit für das, was jetzt gerade wichtig ist für mich, wohin meine Sehnsucht mich zieht.

 

Für mich persönlich beginnt Achtsamkeit hinter dem Trend, also da, wo es still ist und wo kaum jemand hinschaut. Wo man nichts kaufen kann, nichts vorzeigen oder erreichen muss. Da, wo ich mich selbst treffe – im Angesicht Gottes.

Monika Bylitza

war als Ausbilderin bei einer Großbank tätig. Seit 2001 arbeitet sie freiberuflich als Kommunikationstrainerin, Coach und Autorin. 

 

www.monika-bylitza.de

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