Achtsamkeit – was ist das und wozu ist sie gut?
Für heute Vormittag steht auf meiner Agenda, den ersten Beitrag zu meiner MINDO-Reihe über Achtsamkeit zu schreiben. Zuvor habe einen Blick auf die eingegangenen E-Mails geworfen. Es sind zwei darunter, auf die ich mit Spannung gewartet habe. Es sind zwei schlechte Nachrichten; eine davon macht mir emotional besonders zu schaffen. Es tut weh, was ich da lese. Ich finde es nicht nur ungerecht, sondern es trifft auch einen wunden Punkt in mir.
Wie bloß kann ich mich jetzt konzentrieren? – Indem ich achtsam damit umgehe.
Achtsam sein heißt: Ich nehme mich selbst ernst
Wie nun wird Achtsamkeit in dieser Situation konkret?
Ich versuche nicht, mich zu zwingen, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe. Ich akzeptiere die emotionale Störung.
Ich lenke mich aber auch nicht ab. Ich halte stand – ich kann und will es aushalten. Ich bleibe bei meinem Vorhaben und lasse mir Zeit. Ich gönne es mir, Geduld zu haben.
Geduld bedeutet jetzt: „Ja, ich wäre jetzt gern guter Dinge und ganz unabgelenkt bei der Sache. Aber das ist mir jetzt erst einmal durchkreuzt worden. Ich kann kaum an etwas anderes denken als an diese E-Mail. Es ist mir nicht möglich, einfach umschalten. Das und nichts anderes ist jetzt meine Wirklichkeit.“
Was kann ich jetzt für mich tun? Ich habe noch nichts gefrühstückt. Das mache ich jetzt. Es wird mich erst einmal ein bisschen stärken und vielleicht auch ein bisschen Abstand gewinnen lassen.
Nach einer Viertelstunde nehme ich wieder Platz an meinem Schreibtisch. Wie gewohnt setze ich mich auf meinem Stuhl zurecht: Aufrecht, aber nicht angespannt, leicht angelehnt, wie bei einer Achtsamkeitsübung. So fühlt es sich am besten an. Ich bin dankbar für diesen schönen Platz auf dem angenehm gepolsterten Stuhl. Ich schließe die Augen und bin einfach nur still. Ich spüre meinen Atem. Ich folge der Idee, noch einen Schluck Kaffee zu trinken und spüre, wie es mir guttut.
Und jetzt? Ich wende meine Aufmerksamkeit dem Atem zu. Gleichzeitig kommt die Erinnerung an eine Tagesschau-Meldung in mein Bewusstsein, die ich beim Frühstücken aufgenommen habe. Das geschieht von selbst und ich nehme es einfach nur wahr, so wie ich den dunklen Waldrand mit den zerzausten, düsteren Wolken darüber wahrnehme, als ich die Augen öffne und aus dem Fenster schaue. Dann schließe ich die Augen wieder. Jetzt meldet sich die Erinnerung an jene Mail erneut in mir und mit ihr ein schweres, sehr trauriges Gefühl. Ich bin außerordentlich entmutigt.
Den Zustand kenne ich sehr gut und weiß, dass die Entmutigung das Schlimme daran ist. Ich komme mir ganz hilflos und wehrlos vor. Es ist eine sehr schmerzliche Traurigkeit. Eine Fantasie gesellt sich zu meinen traurigen Gedanken, so als würde eine Stimme die Erfahrung kommentieren: „Siehst du, es hat alles keinen Sinn! Auch der Beitrag nicht, den du jetzt schreiben willst. Das wird niemanden interessieren, höchstens wird man sich stören daran. So ist es doch immer …“ Es ist eine verführerische Stimme. Aber auch sie nehme ich jetzt einfach nur wahr, wie die Wolken und den Waldrand draußen, wie meinen Atem und das Sitzen auf dem Stuhl. Das alles ist jetzt meine Wirklichkeit und ich nehme sie an, wie sie ist.
Achtsamkeit ist vernünftiges Sorgen für sich selbst und andere hier und jetzt.
Nun meldet sich auch die Wut in mir. Ich möchte mich wehren! Sie füllt jetzt mein Bewusstsein. Ich bin diesen Menschen, von denen die E-Mail gekommen ist, sehr böse. Ich hasse sie!
Was jetzt? Es ist, wie es ist. Ja, genau das ist gerade meine Wirklichkeit. Es trifft mich sehr. Es ist sehr, sehr schlimm für mich! Ich weiß keinen Rat, ich sehe keine Lösung. Ich bin nur sehr entmutigt und sehr verbittert. Das alles nehme ich wahr und ich akzeptiere es. Ich akzeptiere nicht, was sie mir geschrieben haben, aber ich akzeptiere, dass es mir geschrieben wurde.
Gleich zu Beginn, noch vor dem Frühstück, kam mir folgender Gedanke: Wenn ich für andere etwas über Achtsamkeit schreibe, dann hat es nur Sinn, wenn ich gleichzeitig selbst achtsam bin. Meine eigene Achtsamkeit jetzt ist also die Basis für das, was ich darüber schreibe. Also fange ich am besten damit an, dass ich das mitteile, was Achtsamkeit für mich jetzt gerade bedeutet. Es gibt überhaupt keine Achtsamkeit außer der Achtsamkeit jetzt gerade. Darum habe ich diesen Beitrag damit begonnen, einfach nur zu protokollieren, was Achtsamkeit für mich jetzt gerade ist.
Aber nun will ich das Protokoll für euch, liebe Leserinnen und Leser, noch einmal zusammenfassend systematisieren:
1. Achtsamkeit ist Wahrnehmen und Annehmen der Wirklichkeit, wie sie jetzt gerade ist.
2. Achtsam sein bedeutet, dass ich gleichzeitig die wahrgenommene Wirklichkeit zulasse und trotzdem davon Abstand nehme – denn ich nehme nur wahr, ohne auf das Wahrgenommene einzusteigen oder es abzuwehren. Eine passende Selbstinstruktion dazu lautet: „Es ist, wie es ist, und es darf so sein, wie es ist.“
3. Achtsamkeit ist der Verzicht auf vorschnelle Urteile und Reaktionen. Achtsam zu sein heißt immer auch, geduldig zu sein: Ich lasse mich nicht provozieren, ich flüchte nicht vor der Wirklichkeit, ich gebe mich nicht auf, sondern im Gegenteil: Ich wende mich mir zu, ich komme zu mir, bleibe bei mir und stehe zu mir, ich besinne mich, ich flüchte nicht, ich gehe in mich, statt um mich zu schlagen.
4. Achtsamkeit ist vernünftige Selbstbestimmung. Indem ich nicht vorschnell urteile und handle, lasse ich mich sogar von sehr starken Emotionen nicht vollständig überwältigen. Ich bewahre meine innere Freiheit. Wenn ich ein Urteil fälle und eine Entscheidung treffe, dann möchte ich andern und mir selbst keinen Schaden dadurch zufügen. Mein Handeln soll eine gute, angemessene Antwort auf die Wirklichkeit sein. Das heißt:
5. Achtsam sein heißt achtgeben auf das, was guttut.
Und damit sind wir auch bei der Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage, wozu Achtsamkeit eigentlich gut ist.
Wenn ich mich selbst ernstnehme, kann ich gut mit meinen Emotionen umgehen
In meinem Beispiel handelt es sich um eine starke und unangenehme Emotion. Aber auch angenehme und schwache Emotionen können uns zu Verhaltensweisen veranlassen, die andern und uns nicht guttun. Die Silbe „acht“ verbindet die Achtsamkeit sehr eng mit den anderen Wörtern, in denen sie vorkommt. Achtsam sein heißt acht zu geben: Achtung! Gib nicht die Achtung vor den andern und vor dir selbst auf! Wenn ich wahrnehme, dass ich den Menschen böse bin, die mir jene Mail geschickt haben, und dass ich sie sogar hasse, muss ich mich davon nicht bestimmen lassen. Es ist, wie es ist, und habe begründetes Verständnis für meine Emotion. Aber ich kann darauf achten, dass der Hass keine Macht über mich hat, und stattdessen konstruktiv reagieren.
Das gilt für alle Situationen: Ich kann achtsam oder unachtsam damit umgehen. Wenn ich zum Beispiel den Impuls habe, eine Süßigkeit zu essen, weil mir gerade ein bisschen langweilig ist, kann ich den Impuls wahrnehmen, ohne mir gleich automatisch etwas in den Mund zu stopfen, und mich fragen, ob ich das jetzt wirklich möchte, weil es mir guttut. So bleibe ich selbstbestimmt und frei in meinem Verhalten. Ich wahre meine Selbstachtung, indem ich freundlich auf mich selbst achtgebe. Darin liegt auch der Sinn des schönen Begriffs „Selbstfürsorge“: Achtsamkeit ist vernünftiges Sorgen für sich selbst und andere hier und jetzt.
ACHTSAMKEITS-ÜBUNG NR. 1
Ein Gespür für den Unterschied entwickeln
Wie lange du dich jeweils mit den acht Übungen beschäftigen willst, die du in meinen Beiträgen kennenlernen wirst, sei dir selbst überlassen. Es kommt nur darauf an, dass du sagen kannst: „Jetzt hat mich die Übung vorangebracht auf dem Weg.“ Dann kannst du zur nächsten übergehen und auch wieder auf die vorherige zurückkommen oder wie auch immer es für dich am besten passt.
1. Mache dir einen genauen Plan für einen ganz normalen Tag, egal ob du frei hast oder arbeitest. Plane auch deine Freizeit, wann du aufstehst, ins Bett gehst usw. Wenn du das sowieso schon so machst, dann muss das jetzt nichts Neues für dich sein. Frage dich bei der Planung achtsam, ob du das wirklich so willst. Verzichte auf alles, wofür du dich nicht für diesen einen Tag frei entscheidest, und bedenke dabei: Viele freie Entscheidungen bestehen nun einmal darin, das geringere Übel zu wählen (z. B. Ich gehe zur Arbeit, obwohl ich gerade gar keine Lust dazu habe – nicht weil ich muss, sondern weil ich will.).
2. Nimm dir für diesen einen Tag Folgendes vor: a) Ich halte mich ganz genau an das, was ich geplant habe, es sei denn, dass mich eine „höhere Gewalt“ daran hindert. b) Bei allem, was ich morgen tue und lasse, will ich achtsam ganz bei der Sache sein: Wenn ich gehe, achte ich darauf, wie sich das Gehen anfühlt, wenn ich esse, achte ich genau auf den Essvorgang und den Geschmack; ich widme mich einer Tätigkeit nach der andern, ich lasse mich nicht unter Druck bringen und komme bei Ablenkungen immer gleich auf das zurück, was gerade dran ist; ich will einfach nur möglichst den ganzen Tag lang achtsam wahrnehmen, was geschieht.
3. Nimm dir am nächsten Tag eine halbe Stunde Zeit, um die Erfahrungen dieser Übungen auszuwerten. Wie war es, als es dir gelungen ist, achtsam zu sein? Was war anders, als es dir eher nicht gelungen ist? Was lernst du daraus?