Bei der „Achtsamkeitsbasierten Psychotherapie“ handelt sich um eine Strömung vor allem im Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie, die sich in den letzten Jahrzehnten stark ausgebreitet hat. Ihre Quelle ist die von Jon Kabat-Zinn entwickelte „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ (Mindfulness Based Stress Reduction = MBSR). Diese war zunächst keine eigenständige Therapieform, sondern eine Methodik im Rahmen der Stressmedizin, um zum Beispiel ausgebrannten Menschen in psychosomatischen Kliniken wieder Stabilität zu geben. Stress ist aber eins der Hauptprobleme in der Psychotherapie und die MBSR war so erfolgreich, dass sie bald das Interesse von Psychotherapie-Experten auf sich zog. Manche von ihnen nahmen die Grundprinzipien der MBSR auf und schufen neue Psychotherapieformen, in denen die Achtsamkeit eine wesentliche Rolle spielt.
Wie das Achtsamkeitsprinzip in die Stressbehandlung kam
Neu an der Achtsamkeitsbehandlung von Kabat-Zinn war nicht die Achtsamkeit, sondern ihre Verwendung. Als Achtsamkeit versteht sich seit jeher die Lebenskunst der Buddhisten. Je nach dem religiösen Teilsystem im Buddhismus, in dem sie praktiziert wurde, hat sie unterschiedliche Funktionen entwickelt. Entweder galt sie (wie auch im Hinduismus) als Mittel zum Zweck der Erlösung aus dem Gefangensein in den Abhängigkeiten des Diesseits oder sie wurde als Selbstzweck verstanden. Letzteres kennzeichnet den Zen-Buddhismus, den man eigentlich gar nicht unbedingt als Religion bezeichnen muss. Hier dreht sich alles darum, ganz und gar in der Gegenwart zu leben. Das setzt voraus, dass man die gegenwärtige Wirklichkeit so, wie sie gerade ist, bedingungslos bejaht. Natürlich setzt das auch einen Glauben voraus: Man muss glauben, dass die Realität, mit der man es augenblicklich zu tun hat, auch bejahenswert ist, oder anders gesagt: Man muss das Dasein für gut halten. Das ist zwar ein spiritueller Glaube, aber er hängt nicht von bestimmten religiösen Vorstellungen ab.
Der Zen-Buddhismus hat darum schon seit Längerem einiges Interesse in der westlichen Welt gefunden. Neu bei Jon Kabat-Zinn war nun aber, dass er die zen-buddhistische Achtsamkeitspraxis in die Stressbehandlung eingeführt hat. Dem Original durchaus entsprechend legte er dabei Wert darauf, dass es wirklich nur um Achtsamkeit ging und nicht um einen religiösen Erlösungsweg. Darum muss sich eigentlich niemand, der MBSR trainiert, um seine religiösen Überzeugungen Sorge machen. Dieser Ausrichtung schlossen sich dann auch die achtsamkeitsbasierten Psychotherapieverfahren an.
Achtsamkeit als Fundament für Psychotherapie
Grundlegend für die achtsamkeitsbasierten Psychotherapieformen, die von der Theorie des Zen-Buddhismus ausgehen, ist die Selbstzwecklichkeit der Achtsamkeit. Das scheint sich damit zu beißen, sie für therapeutische Effekte einzusetzen. Dass Selbstzwecklichkeit und Effektivität aber gut zusammenpassen können, zeigt sich uns in verschiedenen Zusammenhängen. Die besten und nachhaltigsten Leistungen in Wissenschaft, Kunst und Sport kommen zum Beispiel dort zustande, wo Menschen völlig selbstvergessen in ihrer Tätigkeit aufgehen. Was sie vor allem motiviert, ist die Sache selbst, nicht der Erfolg oder das Lob anderer. Das heißt: Sie verstehen die Tätigkeit als Selbstzweck.
Loslassen, um die Realität gelassen zu akzeptieren und sich auf das zu konzentrieren, was gerade am sinnvollsten erscheint, ist auch die Basis wirksamer Psychotherapie.
Ein anderes Beispiel ist die Effektivität des Loslassens: Oft kommen wir bei Problemen nicht weiter, wenn wir ständig um ihre Bewältigung bemüht sind. Wenn wir aber akzeptieren, dass es so ist, wie es ist, und dass es auch so sein darf, wie es ist, können wir aufatmen, wieder zu uns kommen und irgendwann auch gute Ideen finden, um mit den Problemen fertig zu werden. Das paradoxe Prinzip, dass sich der Weg zum Erreichen von anspruchsvollen Zielen erst auftut, wenn man die Prioritäten ändert und nicht mehr den Erfolg an die erste Stelle setzt, kennen wir also aus unserem Alltag eigentlich recht gut.
Loslassen, um die Realität gelassen zu akzeptieren und sich auf das zu konzentrieren, was gerade am sinnvollsten erscheint, ist auch die Basis wirksamer Psychotherapie. Das ist ist der eine Grund dafür, dass sich die Achtsamkeit so gut als psychotherapeutisches Fundament eignet. Der andere Grund steht in noch engerer Beziehung zur „Kognitiven Verhaltenstherapie“: Achtsamkeit zu üben bedeutet immer, automatisierte Abläufe des Denkens, Fühlens und Verhaltens zu ent-automatisieren. Das heißt: Wir agieren und reagieren nicht mehr unbesonnen oder gar besinnungslos; stattdessen achten wir darauf, möglichst immer so auf die Realität einzugehen, dass es dem entspricht, was wir sinnvollerweise wirklich wollen.
Im Kern der verschiedenen Formen Kognitiver Verhaltenstherapie steht die Einsicht, dass destruktives Verhalten sehr stark davon bestimmt wird, nicht achtsam auf eine Situation zu reagieren, sondern entweder unüberlegt automatisch oder mit der unreflektierten Vorstellung, keine Alternative zu haben. Die Übung der Achtsamkeit schafft die Voraussetzung dafür, innerlich unabhängiger zu werden, was konkret bedeutet, schädigende Abläufe rechtzeitig zu unterbrechen und neue, konstruktive Situationsbewertungen aufzubauen, aus denen dann auch konstruktive Verhaltensweisen resultieren. Das entspricht genau den Zielen der Kognitiven Verhaltenstherapie.
Christlich begründete Achtsamkeit in Seelsorge und Therapie
Konzeptionell bekennen sich die achtsamkeitsbasierten Psychotherapieverfahren weitestgehend dazu, religiös neutral zu sein, weil sie ausschließlich die psychologischen Gesichtspunkte der Achtsamkeit aufnehmen. Doch in der Praxis verschwimmen die Grenzen zur religiösen Unterweisung bisweilen. Man unterscheidet das rein Psychologische nicht sorgfältig genug von buddhistischen und hinduistischen Glaubensvorstellungen, mit denen die Achtsamkeitsübungen traditionell zum Teil eng verknüpft waren. Zwar wird man wohl den wenigsten Anwendern unterstellen können, damit missionarische Absichten zu verfolgen, aber hilfreich ist es nicht, besonders dann nicht, wenn die religiösen Inhalte nicht transparent als solche dargestellt werden. Es spricht ja nichts dagegen, wenn zum Beispiel Buddhisten eine buddhistische Achtsamkeitstherapie anbieten – aber dann sollte sie auch deutlich als solche erkennbar sein. Als Christ werde ich das mit Respekt zur Kenntnis nehmen, für mich aber woanders Hilfe suchen.
Abgesehen vom Begriff selbst, spielt die Achtsamkeit im Christentum eine sehr zentrale Rolle.
Dass es naheliegt, buddhistische und hinduistische Inhalte in die Achtsamkeitstherapie hineinzumischen, hat vor allem geschichtliche Ursachen. Das Grundmodell der Achtsamkeit, so wie es in die moderne Psychotherapie einging, ist ein sehr wertvolles Geschenk der fernöstlichen Lebenskunst an den Rest der Welt. Aber der Herkunft nach entstammt es der Religion. Es ist daher kein Wunder, wenn die Herkunft da und dort auch noch den westlichen Modellen anzumerken ist und wenn westliche Anwender sich sehr für den religiösen Ursprung interessieren und öffnen.
Bisher haben wir uns aber noch zu wenig bewusst gemacht, dass auch unsere Kulturgeschichte einen reichen Schatz an Einsichten und Lebensprinzipien der Achtsamkeit beinhaltet, der nur traditionell nicht den Namen „Achtsamkeit“ trug. Abgesehen vom Begriff selbst, spielt die Achtsamkeit im Christentum eine sehr zentrale Rolle. Für die Menschen unseres Kulturkreises kann das den Zugang erleichtern. Außerdem lässt sich achtsamkeitsbasierte Therapie auch ohne Weiteres in die beratende Seelsorge integrieren, wenn man das Achtsamkeitsprinzip aus der Bibel und der christlichen Theologie begründet. Im deutschsprachigen Raum ist das bislang noch erstaunlich wenig unternommen worden. Die von mir entwickelte „Achtsamkeitsbasierte Kognitive Seelsorge und Therapie“ (AKST) ist anscheinend das erste Modell einer umfassenden Konzeption dieser Art, die sich sowohl für die christliche Seelsorge als auch, unabhängig von religiösen Zielsetzungen, für eine spirituell offene Psychotherapie eignet.