Wir haben in der vorangegangenen Folge festgestellt, dass die Grundübung der Achtsamkeit zwei Kernelemente hat: Wahrnehmen und freies Entscheiden. Der einzige Unterschied zwischen Achtsamkeit und Meditation besteht darin, dass ich mich frei dafür entscheide, meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu richten, der mir gerade viel bedeutet. Meiner Entscheidung, dies zu tun, geht die Entscheidung voraus, dass es einen solchen Gegenstand jetzt geben soll und welcher Gegenstand das sein soll.

 

Ich erläutere es an einem Beispiel: Menschen, denen ihr persönlicher religiöser Glaube sehr wichtig ist, fragen sich, wie sie dafür sorgen können, dass seine Wichtigkeit auch wirklich kontinuierlich im Alltag vorkommt. Viele planen darum eine tägliche Meditationszeit ein, um regelmäßig etwas zu praktizieren, das in ihren religiösen Vorstellungen hohe Bedeutung hat. Christen nennen diese Zeit „Stille Zeit“. Dabei lesen sie in der Regel einen Bibeltext, machen sich Gedanken über das Gelesene, schreiben diese vielleicht auch auf, und beten.

 

Der Unterschied von Achtsamkeit und Meditation

Das Wort „Meditation“ kommt aus dem Lateinischen und hat die Grundbedeutung, sich über etwas Gedanken zu machen. Dem entspricht ziemlich genau das englische Wort für Achtsamkeit: Mindfulness. „Mind“ heißt „Gedanke“. Das Gegenteil von Mindfulness ist Mindlessness, was wir darum am genauesten mit „Gedankenlosigkeit“ übersetzen. Achtsam sind wir, wenn wir nicht gedankenlos dahinleben und unüberlegt entscheiden. Somit meint das Wort Meditation fast dasselbe wie das Wort Achtsamkeit. Aber nur fast, und den kleinen, feinen Unterschied sollten wir nicht übergehen, auch wenn das in der Achtsamkeitsliteratur häufig geschieht: Der Unterschied liegt in dieser einen Entscheidung, meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu richten, der mir gerade viel bedeutet. Ich kann mich achtsam dafür entscheiden, alles aufmerksam wahrzunehmen, was mir gerade ins Bewusstsein kommt – oder ich kann mich dafür entscheiden, meine Aufmerksamkeit nur auf etwas ganz Bestimmtes zu richten, weil ich einen guten Grund dafür habe.

Denen, die ihre „Stille Zeit“ praktizieren, möchte ich sagen: Werde erst einmal wirklich still!

Ein Beispiel: Indem ich das jetzt schreibe, richte ich meine Aufmerksamkeit ganz auf den Text. Das heißt: Ich meditiere den Text, den ich gerade zustande gebracht habe, und ich meditiere das, was gerade in mir entsteht, damit ich den Text weiterschreiben kann. Anders gesagt: Ich mache mir konzentriert Gedanken darüber, was ich weiter schreibe. Ich könnte auch gedankenlos oberflächlich irgendwas daherschreiben oder es von der KI machen lassen. Aber dann käme etwas ganz anderes dabei heraus.

 

Also darfst du gerne folgern, dass ich gerade meditiere – ich habe nichts dagegen. Präziser ausgedrückt: Ich arbeite meditativ an meinem Text. Damit kommen wir zu einer zweiten wichtigen Unterscheidung:

 

 

Der Unterschied von Meditation und Kontemplation

Der Bedeutungsschwerpunkt des Wortes „Meditation“ liegt auf dem Nachdenken, während das Wort „Kontemplation“ eigentlich „Betrachtung“ heißt. Wenn ich zum Beispiel meinen Text meditativ erarbeitet habe, kann ich ihn anschließend noch kontemplativ betrachten. Das heißt: Ich lese ihn nochmals in aller Ruhe und lasse ihn einfach nur auf mich wirken.

 

Wir können Kontemplation als eine Weise des Meditierens definieren. Kontemplative Meditation ist ziemlich passiv, aber es gibt auch ein Meditieren, in dem die Kontemplation in den Hintergrund zurücktritt. Dieses Meditieren kann sehr aktiv sein. Kontemplation ist auch in gewissem Sinn aktiv, aber nur ganz wenig. Zum Beispiel besteht meine Aktivität darin, dass ich mich dafür entscheide, im Museum vor einem bestimmten Bild Platz zu nehmen und es mir einfach nur achtsam anzuschauen – es also auf mich wirken zu lassen, ohne auf irgendwelche Urteile dazu einzusteigen, und dass ich mich daran erinnere, wenn ich abschweife. Ein Text über das Bild wird dann natürlich nicht daraus, denn mein Modus ist jetzt nicht die eigene Aktivität, auch nicht die gedankliche, sondern das reine Empfangen. Daraus folgt auch, dass die Grundübung der Achtsamkeit kontemplativen Charakter hat.

ACHTSAMKEITS-ÜBUNG NR. 3:

KONTEMPLATIV MEDITIEREN

 

Am meisten Freude machen uns die guten Erfahrungen mit den Dingen, die uns am meisten bedeuten und denen wir uns darum am liebsten ernsthaft widmen. Wenn du zu den Menschen gehörst, die ohnehin schon so etwas wie eine tägliche „Stille Zeit“ im Programm haben, nutze diese Zeit bitte beim nächsten Mal für die folgende Übung. Wenn du nicht zu diesen Menschen gehörst, nimm dir einfach eine halbe Stunde Zeit dafür.

 

Du beginnst mit der Grundübung der Achtsamkeit, die du vom zweiten Schritt her kennst. Widme dich ihr ein paar Minuten lang. Besonders denen, die ihre „Stillen Zeiten“ praktizieren, möchte ich es noch etwas schlichter sagen: Werde erst einmal wirklich still! Lass nicht zu, dass deine Stille Zeit eine unruhige Zeit ist, mit der du Stress hast. Schiebe dein Programm beiseite und komme erst einmal ganz zu dir. Wenn das eine Weile dauert, ist es auf jeden Fall besser, als halbherzig mit geteilter Aufmerksamkeit zu absolvieren, was man jetzt als seine religiöse Pflicht betrachtet.

 

Wenn du merkst, dass die Stille bei dir einkehren durfte, kommt das Meditieren:

 

1. Denke über die Frage nach, woran du am meisten Freude hast. Verzichte bei der Antwort auf jedes moralische Vorurteil und irritiere dich nicht selbst mit der kritischen Rückfrage, ob sich das überhaupt verwirklichen lässt. Notiere alle Dinge, die dir einfallen, und erstelle eine Liste. Für den Fall, dass du gerade sehr traurig oder depressiv bist und eigentlich für nichts wirklich Freude empfindest, stelle dir vor, wie es wäre, wenn es dir jetzt nicht so schlecht gehen würde. Es ist schön, wenn religiöse oder spirituelle Angelegenheiten dabei sind, aber das muss nicht Vorrang haben. Achte aber darauf, nicht nur darüber nachzudenken, was dir Spaß macht, um die Zeit zu vertreiben, sondern über das, was für dich persönlich wirklich wertvoll und herzbewegend ist.

 

2. Du wirst merken, dass es sich entweder um Dinge handelt, die du mehr oder weniger passiv genießt, oder um Aktivitäten. Wähle nun aus deiner Liste je eine erfreuliche Erfahrung, die du passiv genießen kannst und eine, die du selbst aktiv gestaltest. Beides sollte sich mehr oder weniger leicht und regelmäßig in deinem Alltag verwirklichen lassen. Es darf sich übrigens auch um Bestandteile deiner Arbeit handeln.

 

3. Das aktiv Erfreuliche merke dir für deine Meditationsübung vor, das passive Genießen für die Kontemplationsübung. Und nun nimm deinen Terminkalender und halte dir für beides die Zeit in deinem Wochenplan frei, die du dazu brauchst.

 

4. Freue dich darauf! Wenn es so weit ist, beginne jeweils so wie auch jetzt mit der Grundübung. Du musst nur dafür sorgen, dass du dir ein paar Minuten dafür Zeit nehmen kannst. Nimm die achtsame Haltung nun mit in die aktive oder passive Erfahrung. Erlebe meditativ das Handeln und kontemplativ das Empfangen. Sei also konzentriert und ungeteilt ernsthaft bei der Sache, ganz bei diesem Einen, hier und jetzt.

Du bist jetzt ein bisschen enttäuscht, weil du eigentlich etwas „richtig“ Spirituelles bzw. Geistliches erwartet hast? Ich wollte nicht gesagt haben, dass diese Dinge nicht auf deiner Liste stehen sollen. Wenn dir zum Beispiel das Bibellesen oder Beten eine wirkliche Freude ist, dann gönne dir bitte, es auf diese Weise auszukosten. Wenn es dir jedoch eigentlich keine Freude ist, du aber meinst, dass du es als gläubiger Mensch praktizieren solltest, dann erlaube dir bitte noch eine weitere Meditationszeit, in der du dir ernsthaft darüber Gedanken machst, was aus deiner Glaubenspraxis werden kann, wenn du sie nicht mehr praktizieren musst, sondern willst, weil es dir eine Freude ist.

Dr. Hans-Arved Willberg

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe und Philosoph. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e.V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnout-Prävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig. 

 

www.isa-institut.de

 

 www.life-consult.org

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