„Ich befürchte, mein Mann ist ein Narzisst! Immer wieder lese ich in diversen Magazinen oder auch in Social-Media-Posts etwas über Narzissmus und entdecke dabei viele Charakterzüge, die ich auch bei meinem Mann wiederfinde. Er ist zum Beispiel äußerst charmant, so sehr, dass es manchmal ins Manipulative kippt. Doch obwohl er so gefühlsvoll wirkt, zeigt er kein Mitgefühl für die Schwächen anderer, selbst für meine nicht. Über die wird oft einfach mit zynischen Sprüchen hinweggegangen. Anderseits habe ich Sorge, dass das nur so eine Mode-Diagnose ist, die im Internet umhergeistert, und die gefühlt jeden Zweiten betrifft. Aber das kann doch nicht sein, oder? Ich möchte meinem Mann auf keinen Fall Unrecht tun und darum frage ich: Was ist Narzissmus eigentlich genau? Und sollte es auf ihn zutreffen: Kann ich dann überhaupt auf Dauer mit ihm leben oder sollte ich mich besser trennen?“

 

 

Wenn ich deine Worte lese, spüre ich, dass dir die emphatische Zuwendung deines Mannes fehlt. Kein Mitgefühl zu erhalten, ist eine sehr schmerzliche Erfahrung – besonders dann, wenn es sich um eine enge Bindungsperson wie den eigenen Ehemann handelt. Denn mangelnde Empathie löst ein tiefes Gefühl der Einsamkeit in uns aus. Wenn wir uns nicht gesehen und nicht verstanden und uns vor allem auf Fehler reduziert fühlen, klopft die Einsamkeit an und unser Selbstwert leidet. Ich verstehe gut, dass du das, was du in deiner Ehe wahrnimmst, zu verstehen versuchst. Das Internet kann ein nützlicher Ort sein, um sich zu informieren und durch erste Impulse gedanklich ein Stück weiterzukommen. Nichtsdestotrotz ersetzt es keinen differenzierten Umgang mit der Thematik, geschweige denn, eine Diagnose.

 

Was ist Narzissmus eigentlich?

Was also ist Narzissmus eigentlich? Verschiedene Zweige der Psychologie wie die Selbstpsychologie, die Sozialpsychologie, die Entwicklungspsychologie oder auch die Psychopathologie ordnen Narzissmus unterschiedlich ein. Im ICD-10, dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten, wurde Narzissmus bisher als Persönlichkeitsstörung definiert. Im neuen Klassifikationssystem ICD-11 jedoch taucht Narzissmus nicht mehr als Störung auf, sondern als Persönlichkeitsstil.

 

Menschen mit narzisstischen Tendenzen zeichnet ein geringer Selbstwert und mangelnde Empathie für andere aus. Sie wirken oft selbstbewusst, sind aber insgeheim oft unsicher und neidisch.

Narzisstische Tendenzen können in der frühen kindlichen Entwicklung entstehen, wenn primäre Bezugspersonen Bedürfnisse und Gefühle des Kindes nicht genügend versorgen und sich Anerkennung und Liebe als Mangelware erweisen. Menschen mit narzisstischen Tendenzen zeichnet ein geringer Selbstwert und mangelnde Empathie für andere aus. Sie wirken oft selbstbewusst, sind aber insgeheim oft unsicher und neidisch. Sie tragen oft ein Geheimnis mit sich, das keiner ,,entlarven“ soll. In Paarbeziehungen lieben Menschen mit narzisstischen Tendenzen oftmals die Anteile des anderen, die sie selbst haben oder alte Anteile, die ihnen vertraut sind. Auch lieben sie Menschen, die das verkörpern, was sie in ihrer Fantasie gerne wären.

 

Abwertungen sind ein No-Go!

Du sprichst von zynischen Bemerkungen. Nun weiß ich nicht genau, was das für Situationen sind, um sie einzuschätzen. Was sich aber festhalten lässt: Zynische Bemerkungen tauchen in unterschiedlichen Facetten auf. An dieser Stelle möchte ich warnen: Zynismus kann schnell zu Abwertung führen. Abwertung und Verachtung werden ausgesprochen, um sich selbst zu erhöhen und den eigenen Selbstwert zu regulieren. Das aber ist eine klare Grenzüberschreitung! Abwertungen und Beschimpfungen solltest du nicht einfach hinnehmen. An dieser Stelle darfst und solltest du dich klar abgrenzen und deutlich werden, dass du so eine Art der Kommunikation nicht duldest. Wenn diese Grenze nicht aus- und eingehalten wird, dann kannst du dich nur selbst begrenzen. Du kannst bei Beschimpfungen den Raum verlassen und kommunizieren, dass du erst bei respektvoller Kommunikation wieder bereit bist, ins Gespräch zu gehen.

 

Dass du verunsichert bist, die ganze Paarbeziehung auf den Prüfstein stellst und dir gerade Gedanken machst, wie und ob es weitergehen kann, ist nachvollziehbar. Ich möchte dir zwei konkrete Tipps an die Hand geben, die sinnvolle nächste Schritte sein könnten:

 

1. Miteinander sprechen

Das klingt banal, ist es aber nicht! Weiß dein Mann, dass du so denkst und fühlst und wie es dir wirklich dabei geht? Weiß er, wie sehr dich deine Internetrecherchen bewegen? Das könnte ein erster Schritt sein, ihm das Ganze mitzuteilen. Ein Zeichen dafür, dass dein Mann nicht ausschließlich narzisstische Anteile hat, wäre, wenn er offen ist, sich deine Ängste, Gedanken und Wahrnehmungen anzuhören, ohne sich dabei selbst als Opfer darzustellen, sich völlig aus der Bahn geworfen zu fühlen oder sich als übertrieben selbstreflektiert zu inszenieren. Wenn er aufrichtiges Interesse hat, sich in einen beständigen und ernsthaften Prozess zu begeben, kann es ein hoffnungsvolles Zeichen sein, dass das Miteinander zukünftig gelingen kann.

 

Das kann bedeuten, dass ihr gemeinsam ein Buch über Narzissmus lest und intensiv darüber sprecht. Und auch, dass ihr regelmäßig einander eure echten Gefühle zeigt: Was macht die Empathielosigkeit deines Mannes mit dir? Macht sie dich wütend? Macht sie dich einsam? Macht sie dich hilflos? Macht sie dir Angst? All das sind wichtige Gefühle, von denen dein Mann, wenn ihr den Weg weitergehen wollt, unbedingt wissen sollte.

 

Wenn du merkst, dass auch in einem ruhigen Gespräch bei ihm keine Gefühle schwingen und er keinen Zugang zu dem hat, was du empfindest, dann wäre es für ihn dran zu lernen, sich in andere einzufühlen. Das fällt Menschen, die hohe narzisstische Anteile haben, tatsächlich sehr schwer. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Eindenken und dem Einfühlen. Narzissten können sich in Momenten, in denen sie einen Nutzen haben – du sagst ja, dass er charmant wirkt – oft hervorragend eindenken, um einen persönlichen Gewinn daraus zu ziehen; aber sie können sich nicht wahrhaftig allein um des anderen willen einfühlen.

 

 

2. Mit Fachpersonen sprechen

Ich kann dir anhand deiner kurzen Schilderung keine klare Antwort geben, ob ihr zusammenbleiben solltet oder nicht. Ich glaube, du bist die Expertin für dein Innenleben und ihr die Experten für eure Ehe! Das hält mich aber nicht ab, euch zu empfehlen, euch professionell aufzustellen. Du kannst deinen Mann nicht zwingen, sich eine klinische Diagnose beim Psychiater oder Psychotherapeuten zu holen. Aber du kannst, wenn du sein Verhalten als krankhaft empfindest, deine Empfehlung äußern. Schlussendlich muss er sich freiwillig dafür entscheiden, an sich zu arbeiten. Therapieziele bei Personen mit narzisstischen Tendenzen sind das Steigern der Empathie, ein differenzierterer Blick auf die reelle Lebenswelt und die Verbesserung von Beziehungskompetenzen.

Wenn du an dem Punkt bist, dass du nicht mehr nur nach dem ,,Wie“, sondern auch nach dem ,,Ob“ für eure Ehe fragst, dann rate ich euch, eine Paartherapie zu beginnen.

Darüber hinaus kannst du für dich selbst sorgen: Geh diesen Weg nicht allein, sondern suche dir Unterstützung in einem Einzelgespräch in einer Beratungsinstitution! In fast jeder Stadt finden sich Beratungsstellen, beispielsweise von der Diakonie, die auch Einzelberatung mit Partnerschaftsbezug anbieten. Wenn du merkst, dass die psychische Belastung zu stark wird, dann buche über die Telefonnummer 116 117 in einer kassenzulässigen psychotherapeutischen Praxis eine Sprechstunde; oder lass dir von deinem Hausarzt oder deiner Hausärztin einen Vermittlungscode für ein Erstgespräch bei einer Psychotherapie geben.

 

Wenn du an dem Punkt bist, dass du nicht mehr nur nach dem ,,Wie“, sondern auch nach dem ,,Ob“ für eure Ehe fragst, dann rate ich euch, eine Paartherapie zu beginnen. Auf diesem Weg wirst du und werdet ihr mehr Klarheit gewinnen.

Ira Schneider

arbeitet in einer psychologischen Beratungsinstitution für Paare, Familien und Einzelpersonen. Freiberuflich ist sie als Dozentin an der team.f-Akademie und als Paartherapeutin und Autorin tätig. Im Juni erscheint von ihr der Paar-Ratgeber „Jeden Tag ein neues Ja“. Mit ihrem Mann lebt sie in Hannover.

 

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Die Fragen in unserer Rubrik „Beziehungsfragen“ sind aus dem Erfahrungshintergrund der Beraterinnen und Berater exemplarisch formuliert worden, sodass jederzeit strenge Vertraulichkeit gewährleistet bleibt. Wir veröffentlichen keine seelsorgerlichen Anfragen an die Redaktion ohne vorherige ausdrückliche Genehmigung der Ratsuchenden.

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