Was ist eigentlich ein Narzisst?  Jedenfalls ist es ein ziemlich modernes Wort. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird es auf Menschen angewendet, die dauerhaft mehr oder weniger egoistisch und egozentrisch wirken, so als seien sie der Mittelpunkt der Welt, um den sich alles drehen muss – und damit ist tatsächlich der Nagel ganz gut auf den Kopf getroffen. Es lohnt sich aber trotzdem, noch genauer hinzuschauen. Nicht zuletzt kann „Narzissmus“ auch für ein psychisches Krankheitsbild stehen: die „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Sind Narzissten relativ normal oder sogar sehr normal oder gar nicht so normal, sondern sogar gestört? Mit dieser Fragestellung ist die Definition schon gar nicht mehr so klar.

 

Woher kommt das Wort „Narzissmus“?

Dass wir uns schwer tun, zwischen gesunden und gestörten Narzissten zu unterscheiden, liegt an der Geschichte des Wortes selbst. Narziss ist eine Figur aus der altgriechischen Mythologie. Die Selbstverliebtheit dieses schönen Jünglings kennt keine Grenzen. Dadurch bleibt ihm die zwischenmenschliche Liebe verschlossen und aus der völlig isolierten Selbstbezogenheit stürzt er in den Selbstmord. Dem kann man durchaus nichts Gesundes abgewinnen und so war der Mythos von Narziss auch gedacht.

 

Den Weg in den modernen Sprachgebrauch hat seine kranke Egozentrik aber nicht direkt aus der griechischen Mythologie gefunden, sondern über Sigmund Freud. „Narzissmus“ wurde zu einem Zentralbegriff seiner Theorie vom Kleinkind. Seiner Ansicht nach sind wir als Babys alle Narzissten, das heißt: völlig auf uns selbst bezogen. Wenn wir älter werden, bleibt uns diese Grundveranlagung als Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung erhalten. Gesund ist das nach Freud nicht wirklich, aber wirklich gestört ist es auch nur, wenn es uns entscheidend daran hindert, im gesellschaftlichen Leben zurechtzukommen. Freud hätte besser darauf verzichtet, das negativ geprägte Wort als Basisbegriff der normalen menschlichen Entwicklung zu verwenden. Es passt aber zu seinem überwiegend pessimistischen Menschenbild.

 

Gibt es gesunden Narzissmus?

Immerhin kann man von Freud nicht behaupten, dass er keine Idee vom seelisch gesunden Menschen hatte. In der heutigen Zeit scheint man aber eher keine rechte Vorstellung mehr davon zu haben, was seelisch gesund oder krank ist, weil man bezweifelt, dass es überhaupt allgemein gültige Wahrheiten gibt. Darum redet man vom Narzissmus so, als sei es egal, ob etwas Gesundes oder Gestörtes damit gemeint ist. Nur wenn das narzisstische Verhalten wirklich abartige Züge annimmt, hält man die Person vielleicht für einen psychiatrischen Fall. Nun gut: dann ist sie eben narzisstisch persönlichkeitsgestört.

 

In der Praxis heißt das: Moderater Narzissmus ist salonfähig oder sogar begehrenswert. Er gilt als dasselbe wie „gesunder Egoismus“. Man scheint nicht weit zu kommen in der heutigen Gesellschaft, wenn man nicht gern mal seine eigenen Interessen höher ansetzt als die der anderen, auch wenn es auf ihre Kosten geht; wenn man nicht die Ellbogen gebraucht und sich als etwas ganz Besonderes in Szene setzt, unabhängig davon, ob man es ist oder nicht. Und in der Tat: Wer das tut und damit Erfolg hat, der wird mit viel Anerkennung belohnt.

 

Gesunde Selbst- und Nächstenliebe

Nichts gegen Egoismus, wenn er denn wirklich gesund ist. Aber Narzissmus ist kein gutes Wort dafür. Gesunder Egoismus bedeutet, nicht nur die Bedürfnisse und Interessen der andern ernst zu nehmen, sondern genauso auch die eigenen. Insofern ist der gesunde Egoismus das notwendige Gegenstück zum gesunden Altruismus, denn wenn ich nicht genug darauf achte, was ich selbst brauche, kann ich auch nicht so für andere da sein, wie sie es brauchen. Mit andern Worten: Gesunde Selbstliebe (gesunder Egoismus) ist die Bedingung für gesunde Nächstenliebe (gesunder Altruismus). „Gesund“ heißt hier einfach nur: angemessen.

Empathie ist für Narzissten nur ein Thema, wenn sie damit angeben können.

Das Wort „Narzissmus“ steht aber eigentlich für unangemessene Selbstbezogenheit. Das bleibt auch so, wenn er salonfähig ist und beklatscht wird. Er ist trotzdem etwas Krankes, wenn auch nicht unbedingt etwas schwer Krankes oder gar Unheilbares. Aber er kann dazu werden. Und die Unzahl der narzisstisch mehr oder weniger leicht gestörten Menschen macht die Gesellschaft krank. Die fördert wiederum, weil sie krank ist, den Narzissmus. Das aber ist ein Teufelskreis!

 

Welche Kernsymptome kennzeichnen den Narzissmus?

Der Unterschied zwischen weniger schwer gestörten Narzissten und Personen mit einer regelrechten „Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ liegt nicht in den Symptomen selbst, sondern in ihrem Schweregrad. Bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen dominieren sie alles. Der leichter narzisstisch gestörte Mensch kann auch anders, und hoffentlich benimmt er sich auch manchmal so. Vielleicht kann er dann lernen, Einstellung und Verhalten zu ändern. Dazu kommt es oft erst durch schwere Entwicklungskrisen, die den Betroffenen zeigen, dass sie durch ihren Egotrip am Leben vorbei gelebt haben.

 

Narzissten halten sich auf eine Weise für großartig und einzigartig, die der Realität nicht entspricht. Auch wenn sie tatsächlich in der einen oder andern Hinsicht etwas Besonderes sind, weil sie zum Beispiel Außergewöhnliches leisten, übertreiben sie es. Sie schließen aus, dass es Ebenbürtige oder gar Bessere geben kann. Sie reagieren schwer gekränkt, wenn man ihr übersteigertes Selbstbild nicht bestätigt, und rächen sich dafür, wenn sie können. Wer so etwas wagt oder ihnen den Rang streitig macht, wird mit Verachtung gestraft, wer sie anhimmelt, darf zur Fangemeinde gehören. Dementsprechend gestalten sich ihre Beziehungen: Die andern sind dazu da, ihnen zu dienen, was auch oft heißt: sie zu unterdrücken, zu manipulieren und auszubeuten. Empathie ist für Narzissten nur ein Thema, wenn sie damit angeben können.

 

Von einer „Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ muss man sprechen, wenn die genannten Symptome das gesamte Erscheinungsbild der Person deutlich prägen. Dieses Störungsbild weist eine große Schnittfläche mit der „Dissozialen Persönlichkeitsstörung“ beziehungsweise „Psychopathischen Persönlichkeitsstörung“ auf. Aus der Analyse der Tyrannenpersönlichkeit, insbesondere Adolf Hitlers, ging nach dem zweiten Weltkrieg der Ausdruck „Maligner Narzissmus“ für die destruktivste Form seelischer Störung überhaupt hervor. Es handelt sich um die hochprozentige Mischung von Psychopathie und Narzissmus. Im Unterschied zu reinen Psychopathen, für die das persönliche Gekränktsein keine große Rolle spielen muss, weil sie für sich selbst ähnlich empfindungslos sind wie ihren Opfern gegenüber, entwickeln diese Menschen bösartige (maligne) Strategien, um andere zum Ausgleich für die eigenen Kränkungen sadistisch zu erniedrigen.

 

Kann man Narzissten helfen?

Wenn man nicht aufpasst, kann man ihnen wunderbar und vielfältig helfen, indem man für sie Partei ergreift und tut, was sie wollen. Vor allem wenn sie mächtig sind kann man davon ja auch durchaus profitieren, weil man zu ihren Günstlingen gehört. Aber das ist ein Helfen wie bei einer Co-Abhängigkeit mit Süchtigen. Das Problem wird nicht überwunden, sondern es breitet sich aus.

Erwachsene Narzissten brauchen daher, wieder analog zu Süchtigen, das Gegenteil: die harte Hilfe des Entzugs; tatsächlich hat ja der Narzissmus als „Selbst-Sucht“ auch wirklich etwas Suchtartiges. In bislang co-abhängigen Partnerschaften kann das zum Beispiel bedeuten, konsequentes Neinsagen einzuüben, wenn immer die eigenen Bedürfnisse den Ansprüchen des Narzissten geopfert werden sollen – bis hin zur Trennung als Ultima Ratio. Eine weitere Analogie zum hilfreichen Umgang mit Süchtigen besteht darin, damit besser nicht die Illusion zu verbinden, den Partner dadurch heilen zu können. Heilung wird nur möglich sein, wenn er selbst zu wahrer Einsicht kommt, was bei ausgeprägten Narzissten eher unwahrscheinlich ist.

Menschen mit einer ernsten Narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben, was den Therapieerfolg angeht, grundsätzlich eine schlechte Prognose.

Es ist auch kaum damit zu rechnen, dass Narzissten von sich aus therapeutische Hilfe aufsuchen, es sei denn einer schweren Kränkung wegen, die sie dann aber nicht als ihr eigenes Problem betrachten, sondern als das Problem der Person, die ihnen das angetan hat. Immerhin kann sich dadurch der Türspalt öffnen, doch durch den therapeutischen Dialog ins Nachdenken über sich selbst zu kommen. Menschen mit einer ernsten Narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben, was den Therapieerfolg angeht, grundsätzlich eine schlechte Prognose. Das liegt nicht daran, dass sie prinzipiell unheilbar wären, aber sie werden kaum auf die Idee kommen, selbst ein seelisches Problem zu haben, für das sie womöglich auch noch fremde Hilfe brauchen sollten. Wenn es Beziehungsprobleme gibt, liegt das aus ihrer Sicht selbstverständlich an den andern.

 

Anders ist es bei Kindern und Jugendlichen mit narzisstischen Zügen. Das Prinzip des gesunden Umgangs mit ihnen, der dann auch heilsame Wirkung auf sie haben kann, ist dasselbe: Nicht die Rolle des Co-Narzissten einzunehmen. Sie brauchen vernünftige Grenzen und die Zumutung der eigenen Verantwortung; es tut ihnen nicht gut, wenn sie allzu viel Entlastung und Entschuldigung erfahren, das Loben sollte sich wirklich nur auf Anerkennenswertes beziehen. Vor allem brauchen sie jedoch lohnende Vorbilder und nachhaltige Gemeinschaftserfahrungen, in denen sie angemessene Akzeptanz und Achtung erleben, aber auch lernen können, sich im Vergleich mit andern adäquat einzuordnen und deren Bedürfnissen dieselbe Bedeutung zuzuerkennen wie den eigenen.

Dr. phil. Hans-Arved Willberg

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Philosoph und Theologe.

 

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