„Psychopathie“ ist ein Syndrom. Das heißt: Der Begriff wird nur dann zu Recht angewendet, wenn verschiedene Symptome zusammenkommen. Bei der Psychopathie sind das vor allem die Unfähigkeit und der Unwille zur Empathie und ein rücksichtsloser Egoismus. Die Unfähigkeit zur Empathie bedeutet nicht, dass Psychopathen die Gefühle anderer Menschen nicht sachgemäß deuten können – vor allem ihre Angstgefühle. Aber sie lassen sich davon nicht beeindrucken und leiden nicht mit, sondern verwerten diese Wahrnehmungen nur zu ihrem eigenen Vorteil. Sie gleichen hierin Raubtieren, die sehr sensibel für die Emotionen ihrer potenziellen Opfer sind, um ihre Schwächen genau erkennen zu können.

 

Warum Psychopathie eine Störung ist

Das Raubtierhafte ist mehr als nur ein Bild für die Psychopathie. Psychologinnen und Psychologen, die das Phänomen erforschen, vermuten, dass es sich um eine evolutionsbiologische Variante der Menschheitsentwicklung handelt. Psychopathisch auftretende männliche Gruppenmitglieder konnten womöglich durch ihr egoistisches Paarungsverhalten viele Kinder mit mehreren Sexualpartnerinnen zeugen und dadurch einen Entwicklungsvorteil zurückhaltenden Konkurrenten gegenüber gewinnen. Für diese These spricht der auffallend hohe genetische Anteil beim Zustandekommen von Psychopathie, den man durch Zwillingsstudien herausgefunden hat. Die genetische Veranlagung zur Psychopathie scheint also die raubtierhafte Variante des Menschseins zu repräsentieren. Viele Philosophen, Theologen und Wissenschaftler sehen immer noch darin das eigentliche Wesen des Menschen. Viele andere widersprechen dem entschieden und stellen dagegen, dass gerade das empathiegetragene soziale Füreinander und Miteinander für gesunde Menschlichkeit kennzeichnend ist. Dafür hat auch die Forschung in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften der letzten Jahrzehnte eine Fülle überzeugender Belege hervorgebracht.

 

Damit lässt sich hinreichend begründen, dass Psychopathie eine seelische Störung ist. Weil die Veranlagung einen großen Anteil daran hat und dadurch die ganze Persönlichkeit von der frühen Kindheit an eine wesentliche Prägung erfährt, reiht man sie unter die Persönlichkeitsstörungen ein. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter dieser Störung, die meisten davon sind Männer. Aber ihr „Leiden“ empfinden Psychopathen gar nicht selbst als solches. Aus der Raubtierperspektive sind sie durchaus gesund, nur passt ihre Einstellung und ihr Verhalten nicht zu Gesellschaftsformen, in denen gerechte soziale Beziehungen als Norm gelten.

 

In einer kranken Gesellschaft gelten Psychopathen als gesund

Weil Psychopathen kein anderes Recht kennen und akzeptieren als nur ihr vermeintlich eigenes, werden viele kriminell und landen im Gefängnis. Anderen gelingt es aber auch, nach außen hin „eine weiße Weste“ zu bewahren. Dazu dienen ihnen weitere Bestandteile des Syndroms: Psychopathen sind skrupellose Lügner und verstehen es, sich durchaus charmant auf sozial angenehm wirkende Weise chamäleonartig anzupassen, um unentdeckt ihre egoistischen Ziele zu verfolgen, als „Wölfe im Schafspelz“ sozusagen. Auf der anderen Seite kommen ihnen antisoziale Prinzipien der Profitgesellschaft, die nachweislich nach den Grauen der Weltkriege in den letzten Jahrzehnten wieder stark zugenommen haben, sehr entgegen. Zum Beispiel hat eine US-amerikanische Langzeitstudie mit 13.000 Teilnehmenden festgestellt, dass die Empathie zwischen 1979 und 2009 insgesamt in der Gesellschaft abgenommen hat.

Psychopathie ist ein Syndrom. Das heißt: Der Begriff wird nur dann zu Recht angewendet, wenn verschiedene Symptome zusammenkommen. Bei der Psychopathie sind das vor allem die Unfähigkeit und der Unwille zur Empathie und ein rücksichtsloser Egoismus.

Im ICD, dem Klassifikationssystem der WHO, nach dem alle klinischen Diagnosen gestellt werden, kommt die Psychopathie gar nicht vor. Sie geht in der „Dissozialen Persönlichkeitsstörung“ auf. In den Beschreibungen dieses Störungsbilds wird der Schwerpunkt stark auf den Hang zur Kriminalität bei den Betroffenen gelegt. „Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz“, heißt es im ICD. Damit werden aber die sozial angepassten Psychopathen nicht erfasst, die wahrscheinlich noch viel mehr Schaden anrichten als die offensichtlich kriminellen.

 

Ohne Zweifel entsprechen psychopathische Leitungspersonen in Wirtschaft und Politik durchaus den Erwartungen vieler Menschen in den Bevölkerungen, die sich gern mit ihnen identifizieren. Diese finden das Verhalten der psychopathischen Alphatiere cool, weil ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung dorthin tendiert. Psychopathen sind nicht nur selbst krank, sondern sie sind auch die Produkte kranker Gesellschaften.

 

Wie man Psychopathen helfen kann

Für die  Diagnose „Psychopath“ trifft in besonderer Weise zu, was für die Diagnose aller Persönlichkeitsstörungen gilt: Man sollte niemanden vorschnell darauf festlegen. Man sollte aber auch das offensichtlich Psychopathische nicht verharmlosen und relativieren. Es ist eine Frage der Zivilcourage, das Problem auch bei solchen Menschen klar zu benennen, die von vielen geliebt und bewundert werden. Sie selbst und ihre fanatisierten Anhänger lassen sich durch Appelle an das Gewissen und vernünftige Argumente nicht beeindrucken. In solchen Fällen gibt es nur ein wirksames Gegenmittel: Kompromisslosen, mutigen Widerstand. Psychopathen darf man nicht den kleinen Finger geben – sie greifen ganz sicher nach der ganzen Hand!

 

Das gilt für die erwachsenen Psychopathen, aber auch in gewisser Hinsicht für psychopathische Kinder und Jugendliche. Dabei gibt es aber einen wesentlichen Unterschied: Bei Letzteren ist die Chance einer günstigen Einflussnahme größer. Eltern und Erziehende, die damit konfrontiert sind, müssen dabei drei Prinzipien beherzigen:

 

→ Es geht nicht ohne ganz klar definierte und unerbittlich eingehaltene Regeln und Grenzen. Die Konsequenzen bei der Überschreitung dieser Grenzen müssen sich aber aus der Überschreitung selbst ergeben. Bestrafungen, die mit einer erzieherischen Absicht eingesetzt werden, bleiben bei Psychopathen ohne Erfolg.

 

→ Psychpopathen brauchen deutlich erkennbare Belohnungen als Motivationsanreiz, wenn sie ihr Verhalten ändern sollen.

 

→ Eine psychopathische Veranlagung hat noch nie aus einem Menschen einen ausgewachsenen Psychopathen gemacht. Wesentlich ist, wie die Umwelt auf die Veranlagung reagiert. Der beste Dienst, den man Kindern und Jugendlichen mit psychopathischen Wesenszügen tun kann, ist der Verzicht darauf, sie abzustempeln. Jeder Mensch ist in der Lage, sich vorteilhaft zu ändern, wenn er genug Ermutigung und Unterstützung dafür erfährt.

 

Dr. phil. Hans-Arved Willberg

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe und Philosoph, Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut und Coach (DIREKT e.V.); seit vielen Jahren Praktiker in Seelsorge, Coaching, psychologischer Beratung und Seelsorgeausbildung.

 

www.life-consult.org

 

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