Was versteht man unter einer Multiplen Persönlichkeitsstörung?

Es kommt vor, dass Menschen abwechselnd als völlig unterschiedliche Personen auftreten. Die Identität scheint wie ausgewechselt. Je nach sozialem Kontext kann das so oder so gedeutet werden: Als Inkarnation von Göttern oder als Besessenheit durch Dämonen oder auch als Versuch der Seele, durch Abspaltung schwerste traumatische Erfahrungen zu bewältigen. Letzteres gilt als die offizielle psychiatrische Erklärung für die Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS). Kinder, die auf extremste Weise Gewalt und Missbrauch erleben, flüchten in andere Identitäten, weil sie es nicht mehr aushalten, ihr eigentliches Bewusstsein ungeschützt mit dem Grauenhaften konfrontieren zu müssen. Solche Abspaltungen nennt man „Dissoziationen“. Darum wird die MPS medizinisch auch dem Begriff der „Dissoziativen Störungen“ untergeordnet.

 

 

Wer ist davon betroffen?

Unter den psychiatrischen Fachleuten ist das Störungsbild, das übrigens ganz überwiegend bei Frauen diagnostiziert wird, umstritten. Jedenfalls steht fest, dass die vorher sehr seltene Diagnose vor wenigen Jahrzehnten fast schlagartig außerordentlich zugenommen hat, vor allem in Nordamerika. Dort wurde in den 1990er-Jahren behauptet, ein Prozent der Bevölkerung leide unter MPS. Nach der Jahrtausendwende verebbte der Boom allerdings wieder. Der Streit unter den Fachleuten um die MPS bezieht sich weniger auf die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Dissoziative Spaltungen aufgrund schwerer traumatischer Erfahrungen kommen vor, das wird kaum geleugnet. Kritisch gesehen wird aber, wie die Diagnosen zustande kommen und wie häufig sie gestellt werden.

 

Zur Modekrankheit wurde die MPS wohl vor allem dadurch, dass sich bei vielen leicht hypnotisierbaren Patient*innen erst im therapeutischen Trancezustand diese anderen Identitäten offenbarten, wie auch die Erinnerungen an die initialen Traumatisierungen. Es scheint viel dafür zu sprechen, dass die multiplen Bewusstseinszustände und ihre Ursachen häufig überhaupt erst durch therapeutische Suggestionen zustande kommen.

 

 

Ein Beweis für die Ich-Illusion?

Auf Seiten der Neurowissenschaften wurde behauptet, multiple Persönlichkeiten seien ein Beweis dafür, dass der Mensch sich seine Identität nur einbildet. Ich, Hans-Arved Willberg, wäre demnach also eher zufällig und gewohnheitsmäßig der, für den ich mich halte. Mein Gehirn könnte sich genauso gut auch ein anderes Selbst erzeugen.

 

Das Argument ist aber fragwürdig. Eindeutig ist nämlich: Wenn ich mehrere austauschbare Identitäten in mir trage, bin ich psychisch krank. Um seelisch gesund zu sein brauche ich es, eine Kontinuität meiner Persönlichkeit von der frühen Kindheit an bis heute rekonstruieren zu können, da sonst meinem Leben der Sinnzusammenhang fehlt. Hierzu passt, dass bei der MPS normalerweise eine „Gastgeberpersönlichkeit“ von den andern Identitäten unterschieden werden kann. Dorthin kehren die Betroffenen auch zurück, wenn die anderen Bewusstseinszustände vorüber sind.

 

 

Wie entstehen die anderen Identitäten?

Dass es zum Phänomen scheinbar in sich geschlossener unterschiedlicher Identitäten in ein und derselben Person kommen kann, liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass unser menschliches Gehirn überaus begabt ist, virtuelle Wahrnehmungen zu erzeugen und daraus komplexe Zusammenhänge zu synthetisieren. Auch unter Einfluss von halluzinogenen Drogen oder in Psychosen können vorübergehend andere Identitäten entstehen, die subjektiv sehr überzeugend wirken. Wenn das Gehirn schwer traumatisierter Menschen virtuelle Identitäten in ihnen produziert, geht es dabei um die Flucht vor einer überfordernden Wirklichkeit. Darum befinden sich „Gastgeberpersönlichkeit“ und virtuelle Identität bei ihnen auch in einem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz. Die virtuelle Identität hat mit der „Gastgeberidentität“ scheinbar nichts Gemeinsames. Die Betroffenen befinden sich entweder in der einen oder in der anderen Welt und erinnern sich nicht an den jeweils vorhergehenden Zustand. Darin liegt die sogenannte „Abspaltung“.

Wenn das Gehirn schwer traumatisierter Menschen virtuelle Identitäten in ihnen produziert, geht es dabei um die Flucht vor einer überfordernden Wirklichkeit.

Der Mensch scheint eine gewisse Veranlagung dafür zu besitzen, seine Identitäten auszutauschen. Schauspieler können völlig in ihrer Rolle aufgehen. Die Flexibilität, uns je nach Bedarf in verschiedenen Rollen einzufinden, kann uns sehr dabei behilflich sein, in der Gesellschaft zurechtzukommen. Auch bei unseren inneren Dialogen nehmen wir verschiedene Rollen ein. Identitätsprobleme bekommen wir nur, wenn uns nicht mehr klar ist, welche Stimme in uns eigentlich das Sagen hat. Friedemann Schulz von Thun vergleicht das mit den multiplen Persönlichkeiten des Störungsbilds. Er nennt die Stimmen im Rollenspiel unserer Selbstgespräche das „innere Team“ und betont in Analogie zum „Gastgeber“ bei der Störung die Notwendigkeit eines „Oberhaupts“ dabei.

 

 

Gibt es ein Kernproblem?

Dass die „Gastgeberpersönlichkeit“ nicht Herr im Haus ist, scheint das Kernproblem der Multiplen Persönlichkeitsstörung zu sein, unabhängig davon, ob es sich um eine tatsächliche posttraumatische Spaltung handelt oder das Produkt einer therapeutischen Suggestion. Eine schwere Traumatisierung ist eine höchstgradige Erniedrigung und Infragestellung der ursprünglichen Identität. Das zarte kindliche Selbstbewusstsein wird massiv erschüttert. Menschen, die in der Kindheit Gewalt und Missbrauch erfahren haben, können sich oft nur sehr schwer selbst annehmen. Ihnen wurde beigebracht, dass sie keine Achtung verdienen. Es ist klar, dass die Neigung solcher Menschen, sich in andere Identitäten zu flüchten, groß sein kann. Auch die Identifizierung mit stark auftretenden Führern kann eine Alternative für sie sein. Natürlich sind aber Menschen mit einem schwachen Selbstbewusstsein auch empfänglicher für therapeutische Suggestionen, unabhängig davon, ob sie traumatische Erfahrungen gemacht haben oder nicht.

 

 

Was kann man tun bei Verdacht einer Multiplen Persönlichkeitsstörung?

Die Frage ist zunächst, bei wem sich der Verdacht einstellt: Bin ich es selbst, weil mir manches an meinen Wahrnehmungen sehr befremdlich vorkommt? Sind es Verwandte und Freunde, die mich tatsächlich in verschiedenen Identitäten erleben oder das vermuten? Oder legt es mir eine therapeutische Person nahe, die ich eigentlich eines andern oder unklaren Problems wegen aufgesucht habe? In den ersten beiden Fällen brauche ich eine klare fachliche Diagnose. Wenn dabei „Multiple Persönlichkeitsstörung“ herauskommen sollte, muss eindeutig und für jedermann nachvollziehbar sein, warum. Dasselbe gilt aber auch für den dritten Fall: Wenn die Helferperson die Diagnose stellt, muss sie es gut und transparent für mich begründen können.

 

Schwierig wird die Glaubwürdigkeit der Diagnose grundsätzlich, wenn diese erst aus Hypnosesitzungen hervorgeht. Die Verwendung von Hypnose zu therapeutischen Zwecken kann nur sinnvoll sein, wenn die Erinnerungen in der hypnotischen Trance nicht für die historische Wahrheit gehalten werden. Was sich in der Hypnose zeigt, hat vor allem mit der Person hier und jetzt zu tun.

 

Es ist davon auszugehen, dass die Diagnose „Multiple Persönlichkeitsstörung“ eher selten zutrifft. Niemand muss sich darauf festlegen lassen, wenn sie nicht präzise begründet werden kann. Viel wichtiger ist es in solchen Fällen, das verunsicherte Selbstbewusstsein zu stärken. Das ist die Voraussetzung dafür, als „Gastgeberpersönlichkeit“ auch mit gewissen „fremden Stimmen“ im eigenen Seelenhaus souverän umgehen zu können. Dann bleibt allenfalls ein Spuk zurück, der zwar lästig ist, mit dem man aber leben kann.

Dr. Hans-Arved Willberg

Jahrgang 1955, ist Theologe, Philosoph sowie Sozial- und Verhaltenswissenschaftler. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e.V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig. Er hat mehr als 30 Bücher und zahlreiche Zeitschriftenartikel veröffentlicht.

 

 www.life-consult.org

 

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