MINDO: Christine, vor einigen Jahren hat sich dein Leben durch eine schwierige Entscheidung plötzlich stark verändert. Mit 21 hast du geheiratet, dich dann mit 26 getrennt und später scheiden lassen, obwohl dein Glaubenssystem dir diesen Schritt quasi verboten hat. Wie kam es soweit?

 

CHRISTINE POPPE: Ich konnte in dieser Ehe nicht wirklich ich selbst sein, meine Bedürfnisse wurden völlig übergangen. Ich habe mich nach tiefer Verbundenheit gesehnt, doch das war in dieser Beziehung nicht möglich. Jahrelang habe ich gekämpft und bin dabei völlig ausgebrannt. Total verzweifelt habe ich gemerkt: Ich schaffe es nicht aus eigener Kraft! Man ist ja auch nicht allein in einer Beziehung. Doch da war die Überzeugung, dass ich mich nicht scheiden lassen darf, weil Gott dann nichts mehr mit mir zu tun haben wollen würde. Dass ich einen Fehler begehen würde, der nicht mehr korrigierbar ist. All das trieb mich in die Ausweglosigkeit – so sehr, dass mir Suizidgedanken kamen. Es kam mir attraktiv vor, einfach zu sterben. Dann müsste ich keine Entscheidung treffen, vor allem aber würden mich die Leute dann nicht alle verurteilen. Ich wusste: Wenn ich tue, was lebensrettend für mich ist, verliere ich meinen sozialen Rückhalt.

 

 

MINDO: Das heißt, tot zu sein erschien dir besser, als Einsamkeit zu erleben?

 

CHRISTINE POPPE: Die Vorstellung zu sterben und dass dann alle auf meiner Beerdigung sagen würden, wie toll ich war und wie sehr sie mich geliebt haben, stand der Vorstellung gegenüber, mich scheiden zu lassen und damit für alle die böse Frau zu sein, die ja gar nicht „richtig gläubig“ sein kann.

 

Ich war und bin eine Frau, die weiß und sagt, was sie will, und kein stilles Mäuschen, das sich unterordnet. Von meinem damaligen Umfeld wurde mir immer deutlich gemacht, dass ich deswegen nicht liebenswert bin, und dass solche Frauen für Männer und auch generell für die Gesellschaft ganz unangenehm sind. Besser man ist lieb und nett und hält sich zurück. Mich scheiden zu lassen hätte all diese Vorwürfe bestätigt.

 

 

MINDO: Was ist passiert, als du dich dann tatsächlich getrennt hast?

 

CHRISTINE POPPE: Ich habe erwartet, dass viele Menschen negativ reagieren würden – und manche haben das auch, sogar welche, von denen ich das nicht erwartet hatte. Aber es gab auch viele, die total verständnisvoll waren. Zum einen meine Familie, von der ich dachte, sie würden sagen: „Du musst zurückgehen in diese Ehe und einen Weg finden!“ Aber sie akzeptierten meine Entscheidung und manche waren verständnisvoll.

 

Besonderen Rückhalt, Mitgefühl und Verständnis habe ich bei Freunden gefunden, die nicht so an Gott glauben, wie es mein Umfeld tat. In dieser Zeit bin ich monatelang nicht in die Gemeinde gegangen, weil ich Angst hatte, dass Leute mit Verachtung oder Ablehnung reagieren. Und es gab dann tatsächlich auch einzelne Kommentare und Ereignisse, die mich tief verletzt haben. Aber die meisten waren freundlich oder neutral. Viele sind auch auf mich zugekommen und haben gesagt, dass es ihnen total leidtut, was ich durchmache. Es war im Außen dann in der Tat gar nicht so schlimm, wie ich es befürchtet hatte.

Früher habe ich versucht, ganz viele Erwartungen anderer zu erfüllen. Als ich mich trennte, hörte ich auf, zu versuchen, etwas zu sein, was ich nicht bin.

MINDO: Hast du dann in eine andere Gemeinde gewechselt?

 

CHRISTINE POPPE: Aufgewachsen bin ich in einer sehr strengen Gemeinde, in der sehr strikte Regeln galten – angefangen von klaren Bekleidungsvorschriften bis hin zu einer strengen Sexualmoral. Nach der Heirat sind mein damaliger Mann und ich dann in eine etwas freiere Pfingstgemeinde gegangen. Aber trotzdem herrschte auch dort die Vorstellung, dass Frauen sich unterordnen sollten. Sex, allemal vor der Ehe, wurde super kritisch gesehen und eine Scheidung ging unter keinen Umständen.

 

Dort habe ich die Caféarbeit geleitet. Kurz vor der Trennung habe ich diese Aufgabe dann beendet, ohne zu sagen, warum. Denn ich wusste, wenn ich die Leitung bei der Trennung noch innehätte, dann hätte man mich auch vor die Gemeindeleitung zitiert und mich aufgefordert, den Dienst abzugeben. Ich bin dann nur noch ganz selten hingegangen, weil ich mich nicht mehr wohlgefühlt habe. Das hatte weniger mit den Gemeindemitgliedern zu tun, als damit, dass ich wusste, dass ich dem dort herrschenden Konzept, wie das Leben zu laufen hat, nicht entsprach.

 

Später ging ich in eine andere Gemeinde, aber nur in den Gottesdienst – und zwar immer so, dass mich keiner ansprechen konnte. Ich kam später und ging früher. In dieser Gemeinde und an den Predigten gefiel mir, dass die Realität, dass wir alle Menschen sind, berücksichtigt wurde – dass es Konflikte gibt und wir nicht immer in einem unrealistischen Ideal leben können.

 

 

MINDO: Das Buch, in dem du deine Geschichte erzählst, trägt den Titel „Von dem Versuch, mich selbst zu zähmen, und dem Mut, es sein zu lassen“. Gegen welche Wildheit glaubtest du denn, ankämpfen zu müssen?

 

CHRISTINE POPPE: In mir hatte ich immer so ein Gefühl, was für mich persönlich richtig und falsch ist, was nicht unbedingt mit dem übereinstimmte, was in der Kirche, Familie und im Umfeld gelebt und gepredigt wurde. Dass Frauen auf gewisse Art und Weise zu sein haben und Männer auf eine andere.

 

Ich habe versucht, in dieses Bild zu passen und ganz viele Erwartungen anderer zu erfüllen. Dabei habe ich versucht, ein Ideal von mir zu kreieren. Das gleiche erwartete ich von meinem Ex-Mann. Freunde sagten später, dass sie nicht verstehen können, dass es mit uns nicht geklappt hat, ich sei doch so eine tolle Frau: die perfekte Hausfrau, eine tolle Gastgeberin!

Ich habe nach außen hin erfüllt, was man von mir in diesem Kulturkreis erwartet hat, um mich wertvoll zu fühlen. Doch ich habe nicht meine innere Wahrheit gelebt. Ich wusste nicht, wer ich bin. Dabei habe ich meine Verletzlichkeit nicht gezeigt, aber auch nicht meine Stärke – der habe ich selber nicht getraut. Auch beruflich bin ich nicht den Weg gegangen, den ich wollte, überhaupt bin ich in so vielen Lebensbereichen nicht meiner Intuition gefolgt – wofür ich ja selbst verantwortlich bin. Doch irgendwann funktionierte das nicht mehr. Als ich mich trennte, hörte ich auf, zu versuchen, etwas zu sein, was ich nicht bin. Ich hörte auf, meinen Lebenswillen und meine Lebenskraft zu zähmen, die unter all der Zerbrochenheit trotzdem immer da waren. Und fing an, ein Leben zu kreieren, das mir entspricht.

 

 

MINDO: Was waren denn zuvor deine Ideale?

 

CHRISTINE POPPE: Ich wollte immer perfekt aussehen, immer gut drauf sein, niemals schlechte Laune haben, alle um mich herum auf positive Weise beeinflussen, nie von etwas verletzt sein und immer über allem stehen können, weil ich in mir so gefestigt bin. Ein weiteres Ideal war auch, dass mein Mann mich immer gut findet, weil ich eine so tolle Frau bin, dass er mich die ganze Zeit bewundert. Für Verletzlichkeit war kein Platz.

 

 

MINDO: Und was hatte dieses Ideal mit deinem Glauben zu tun?

 

CHRISTINE POPPE: Indirekt hatte es viel mit meinem Glauben zu tun, weil in meinem christlichen Umfeld genau dieses Bild suggeriert wurde: Wenn du die perfekte christliche Frau bist und er der perfekte christliche Mann, dann kommt ihr zueinander und dann ist es immer super. Man steht dann auch über allen Verletzungen. Und nicht realistischer: Wenn zwei verletzliche Menschen zueinander kommen und sich so sehen wie sie sind und lernen, miteinander umzugehen, dann wird es gut.

 

Die ganzen „weltlichen“ Dinge waren christlich gestempelt, weil die Kultur mit dem Glauben vermischt wurde. Eine Hausfrau zu sein, so zu leben, wie in den 1950-ern wurde als das christliche Ideal verkauft. Es war meine Aufgabe als Ehefrau, das zu sein, was mein Mann sich wünscht. Es kursierte auch eine Vorstellung davon, dass du, überspitzt gesagt, als Frau immer alle sexuellen Bedürfnisse deines Mannes erfüllen und ständig verfügbar sein musst, ob du willst oder nicht, damit er nicht fremdgehen muss, weil er als Mann ja gar nicht anders kann. Das war zwar nicht unser Thema, aber trotzdem lag ein Druck auf uns Frauen, das zu verhindern. Nach dem Motto: Wenn dein Mann fremdgeht, ist bewiesen, dass du es nicht geschafft hast.

Von klein auf hatte ich ein tiefes Gespür dafür, wie Gott ist. Dass er anders ist als das, was mir über ihn erzählt wurde.

 

MINDO: Wie ist es dir gelungen, diese Glaubenssätze zu überwinden?

 

CHRISTINE POPPE: Die Therapeutin, zu der mein Ex-Mann und ich damals gingen, hatte bemerkt, dass ich extrem unter Druck  stand, weil ich dachte, immer perfekt sein zu müssen. Einmal sagte sie: „Wenn Gäste kommen, kannst du ja einfach einen gekauften Kuchen auf den Tisch stellen, anstatt selber zu backen.“ Und ich dachte nur: „Bist du völlig verrückt geworden? Das geht nicht! Das ist in meiner Welt keine Option!“ Doch letztlich merkte ich, dass es genau um solche Kleinigkeiten geht, die innerlich so eine riesige Bedeutung haben. Mein Selbstwert hing davon ab, dass alle sagen: „Tina kann so toll backen! Ich brauche unbedingt dieses Rezept!“ Ich wollte die perfekte Hausfrau sein – oder sogar besser als alle anderen. Der gekaufte Kuchen stellte plötzlich meine ganze Welt infrage.

 

Auf diese Weise baute ich über Jahre einen Glaubenssatz nach dem anderen ab. Besonders entscheidend war der Punkt: „Ich darf mich scheiden lassen, weil das gut für mich ist, ich darf gut zu mir sein und einen Schlussstrich ziehen.“ Dadurch habe ich diese „Ich-bin-perfekt“-Fassade abgerissen. Das war mega schmerzhaft, aber auch befreiend.

 

Dann habe ich viel gelesen und mich mit diversesten Themen auseinandergesetzt. Zum Beispiel mit dem Feminismus, der meine Clichés, die ich zwanghaft ausfüllte, infrage stellte. Mit theologischen Büchern zu Scheidung, wo ich durch den biblischen Grundtext und den Kontext verstand, dass vieles gar nicht so klar ist, wie ich es immer gehört hatte. Dazu las ich Bücher von Brené Brown, die viel über Scham, Verletzlichkeit und Verbundenheit schreibt. Und so wurde mir nach und nach klar, dass ich mit meinem Versuch, perfekt sein zu wollen, eine Schutzmauer aufgebaut und Verbundenheit vermieden hatte.

 

Als ich mich trennte, merkte ich, dass fast alle meine Freunde nicht wussten, wie es mir in der Ehe gegangen war. Das trug viel zu der Einsamkeit bei, die ich in der Ehe erlebte. Es hing aber auch mit dieser Religiosität zusammen, die vorgibt: „Wenn du verheiratet bist, darfst du nicht schlecht über deinen Partner und deine Ehe reden.“ Folglich sprichst du auch nicht über deine Probleme.

 

 

MINDO: Nach der Trennung hast du erst einmal eine Zeit starker Einsamkeit erlebt. Hattest du wahrgenommen, dass du schon vorher durch deine Schutzmauer in Einsamkeit gelebt hast?

 

CHRISTINE POPPE: Ja, vor der Trennung habe ich das nur alles auf meinen Ex-Mann geschoben. Ich dachte, ich bin einsam, weil er sich nicht mit mir verbindet, weil er nicht mit mir redet. Ich habe nicht gesehen, was mein Anteil war. Vor allem in der Ehe habe ich mich sehr einsam gefühlt. In Freundschaften damals nicht, dafür hatte ich gar keine Wahrnehmung. Als ich mich dann getrennt habe, dachte ich, jetzt wird alles gut. Klar, es war auch vieles gut, ich habe mich frei gefühlt, konnte Beziehungen anders leben und diese schreckliche Einsamkeit, die man in einer Beziehung erlebt, war weg. Doch gleichzeitig konnte ich das generelle Gefühl der Einsamkeit, das ich empfand, nach der Trennung nicht mehr nur auf ihn schieben. So bin ich der Einsamkeit in mir begegnet und musste mich mit ihr auseinandersetzen.

 

 

MINDO: Du bist in dieser Zeit nicht nur dir selbst, sondern auch Gott neu begegnet. Was an deinem Gottesbild hast du als hilfreich empfunden, wovon musstest du dich lösen?

 

CHRISTINE POPPE: Ich habe mich von vielem gelöst, vor allem von der Gesetzlichkeit. Vom Verstand her glaubte ich immer: Gott ist gut, er liebt mich, er will etwas Gutes für mich und ich kann immer zu ihm kommen. In krassen Momenten habe ich ihn oft angeschrien und ihm Vorwürfe gemacht. Und habe erlebt: Er kann das aushalten, er fühlt mit mir! In seiner Gegenwart kann ich mich so sehen, wie ich wirklich bin – und nicht, wie ich mich nach außen hin darzustellen versuche.

 

 

MINDO: Was genau heißt das?

 

CHRISTINE POPPE: Ich kann mir vorstellen, dass da noch jemand anderes mit mir im Raum ist. Wie sieht er mich an, wenn ich ihn jetzt anschreie? Sagt er: „Jetzt reiß dich mal zusammen!“ oder: „Ja, ich weiß“? Das ist ein Erleben. Gottes Reaktionen sind nicht so, wie ich sie von Menschen kannte. Sondern sie sind verständnisvoll, liebevoll, bei ihm hat alles Raum.

Irgendwann beschloss ich: „Mir ist egal, was Gott will. Ich mache jetzt das, was für mich gut ist – weil ich einfach nicht mehr kann!“ Und dann erlebte ich verwundert, dass Gott mich nicht allein lässt.

MINDO: Konntest du das gut trennen – wo Menschen dich eingeengt haben und wo Gott anders ist? Oder musstest du erst manche falschen Glaubenssätze überwinden?

 

CHRISTINE POPPE: Der schlimmste Kampf fand statt, als ich darüber nachdachte, mich scheiden zu lassen. Diesbezüglich hatte ich das innere Bild von Gott, dass er mich zwar liebt, aber dass er auch Erwartungen hat. Und zwar, dass ich mich an das Ja-Wort halte, das ich gegeben hatte. Meine Therapeutin versuchte mit mir herauszuarbeiten, dass Gott nicht so ist. „Aber Gott liebt dich doch!  Wenn du glaubst, dass er dich liebt, wie würde er auf dich reagieren?“ Aber das kam bei mir nicht an.

 

Irgendwann beschloss ich dann: „Mir ist egal, was Gott will. Ich mache jetzt das, was für mich gut ist – weil ich einfach nicht mehr kann! Ich trenne mich jetzt, auch wenn ich denke, dass es falsch ist.“ Und dann erlebte ich verwundert, dass Gott mich nicht allein lässt, sondern dass er da ist und sich um mich kümmert. In verzweifelten Momenten ging ich zu ihm und erlebte eine Reaktion, die liebevoll und freundlich war und nicht vorwurfsvoll. Er gab mir zu verstehen: „Ich bin da, ich halte dich, du musst da nicht allein durchgehen.“

 

Von klein auf hatte ich ein tiefes Gespür dafür, wie Gott ist. Dass er anders ist als das, was mir über ihn erzählt wurde. Und als ich mich dann entschieden hatte, mich scheiden zu lassen, habe ich mich von dem falschen Glaubenskonstrukt gelöst. Damit hat vieles von dem, was ich dachte, dass ich es müsste, und auch wie ich dachte, dass Gott ist, seine Macht verloren. Weil ich erlebt habe, dass er sich mir gegenüber anders verhält. Das tiefe, innere Wissen über ihn, das ich im Laufe meines Erwachsenenwerdens verloren hatte, kam zurück.

 

 

MINDO: Mit diesem Wissen im Hinterkopf: Was bedeutet für dich heute, dich nicht mehr zu zähmen?

 

CHRISTINE POPPE: Mich nicht mehr zu zähmen bedeutet für mich, meine Wahrheit zu sprechen – auch wenn das für andere vielleicht unangenehm ist. Aufzuhören, das Wohl anderer stets über mein eigenes zu stellen. Aufzuhören, andere zu schützen, statt für mich einzustehen. Und auch, aufzuhören zu schweigen, wenn andere mir schaden oder geschadet haben, um sie zu schützen. Das gilt nicht nur für meine erste Ehe oder meinen Ex-Mann, sondern auch für andere Menschen oder Organisationen, die mir oder anderen in irgendeiner Form geschadet haben oder immer noch schaden. Das muss nicht immer öffentlich stattfinden. Manches ist besser im Privaten aufgehoben. Aber es muss stattfinden. Weil ich wichtig bin. Weil jeder einzelne Mensch wichtig ist. Und weil sich Dinge ändern müssen.

 

 

MINDO: Vielen Dank, Tina, für deine Zeit und deine Offenheit.

 

 

Die Fragen stellte Andrea Specht.

 

 

CHRISTINE POPPE

ist Autorin, Traumacoachin und Unternehmerin und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Hannover. Ihr Buch „Von dem Versuch, mich selbst zu zähmen, und dem Mut, es sein zu lassen“ ist soeben bei SCM R. Brockhaus erschienen.

 

 

Mehr unter: www.christinepoppe.com

 

Christine Poppe auf Instagram folgen: @alltagsfreuden

 

 

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