„Würdest du das bitte noch mal wiederholen!“ Irritiert sah ich meinen Mann an und begriff überhaupt nicht, was er da eigentlich gerade gesagt hatte. „Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr“, wiederholte er langsam für mich. „Wir lassen uns scheiden, denn ich habe keine Hoffnung mehr für unsere Ehe!“ Ich sank auf einen Stuhl und versuchte, die Worte, die ich gerade gehört hatte, aufzunehmen, doch es gelang mir nicht wirklich. Wie durch einen Nebel hörte ich meinen Mann reden und nur langsam drangen einzelne Bruchstücke zu mir durch: Keine Hoffnung, Scheidung … „Das hier kann doch alles nicht wahr sein!“, dachte ich. „Ich bin im falschen Film! Sicher ist das alles nur ein böser Traum und ich werde gleich aufwachen …“   Doch in den nächsten Wochen erlebte ich, dass ich mich weder im Programm vertan hatte noch aus einem Traum aufwachte – das, was ich erlebte, war die Realität, der echte Film meines Lebens! In den Augen meines Mannes war unsere Ehe gescheitert – er wollte und konnte nicht mehr, daran gab es nichts zu rütteln. Und damit brach meine heile Welt über Nacht zusammen und ich konnte nichts tun, um den Schaden aufzuhalten.

 

Es dauerte Monate, bis ich wirklich verstand, dass nicht nur mein Mann gescheitert war, sondern auch ich. Nicht nur er hatte es nicht geschafft, seine Gefühle für mich zu bewahren – auch ich hatte ihm entscheidende Dinge, die er gebraucht hätte, nicht gegeben. Botschaften, die er gesandt hatte, waren bei mir nicht angekommen, und vielen seiner Bedürfnisse war ich nicht gerecht geworden. Ich musste mir eingestehen, dass ich es nicht geschafft hatte, eine gute Ehe zu führen – aus welchen Gründen auch immer.

 

Gestrandet oder gescheitert?

Das Internet-Lexikon „Wikipedia“ definiert Scheitern wie folgt: „Als Scheitern bezeichnet man in der Seefahrt ein Schiff, das vom Sturm auf Klippen oder auf eine felsige Küste geworfen wurde und unter den Wellenstößen zerschellt ist. Stranden bedeutet im Gegensatz dazu, dass das Schiff auf ein flaches Ufer oder eine Sandbank getrieben wurde und dort festsitzt, wo es dann durch Erleichterung seiner Last oder durch die eintretende Flut manchmal wieder flott gemacht werden kann.“ Wenn ein Schiff also lediglich strandet, gibt es also Hoffnung und noch Möglichkeiten, den Kahn wieder flott zu bekommen. Das Scheitern eines Schiffes jedoch ist endgültig; der Kahn ist zerschellt und die Katastrophe nicht mehr abzuwenden.

Scheitern bedeutet, dass wir mit unserem Latein am Ende sind und sich weit und breit kein Weg mehr auftut, dem Einbruch zu entgehen.

Auch unser Lebensboot kann aus unterschiedlichen Gründen festsitzen – Anforderungen im Beruf, denen wir uns plötzlich nicht mehr gewachsen fühlen, eine Ehekrise oder finanzielle Schwierigkeiten – all das können Sandbänke oder flache Ufer sein, wo es plötzlich nicht mehr weitergeht. Wir geraten in eine Krise und brauchen Hilfe von außen, um uns aus unserer misslichen Lage zu befreien. Doch genauso wie beim Schiff, das eben nur „manchmal“ wieder flott gemacht werden kann, müssen auch wir uns vielleicht in einer bestimmten Situation der Tatsache stellen, dass alles Mühen umsonst war. Den anstrengenden Job schaffen wir trotz Freizeitausgleich und einem langen Urlaub einfach nicht mehr, die Eheberatung macht deutlich, dass eine Trennung unausweichlich ist und die finanzielle Krise entwickelt sich trotz Schuldnerberatung zu einem Konkurs. Alle Hoffnung, die Niederlage irgendwie abzuwenden, ist geplatzt, und wir müssen uns eingestehen, dass wir es „nicht geschafft“ haben. Scheitern bedeutet, dass wir mit unserem Latein am Ende sind und sich weit und breit kein Weg mehr auftut, dem Einbruch zu entgehen.

 

Viele Menschen lieben Fernsehsendungen, in der Menschen in lustigen Situationen gezeigt werden. Wir lachen über die Versprecher von Fernsehmoderatoren und die Stolperer von Kindern beim Laufenlernen, weil wir wissen, dass Fehlermachen zum Leben dazugehört. Kinder lernen gehen, weil sie nach dem Hinfallen immer wieder aufstehen und der Fernsehmoderator hat seine Moderation ja meistens auch im Griff. Darum können wir über diese kleinen Ausrutscher lachen, denn schließlich wird alles wieder gut. Was aber, wenn jemand wirklich „abstürzt“, nicht mehr so schnell aufsteht und nichts mehr wieder gut wird? Was, wenn sich eine finanzielle Krise zum Desaster entwickelt und Konkurs angemeldet werden muss oder die Ehekrise in einer Scheidung endet? Leider ist die Lebenswirklichkeit des Scheiterns in unserer Gesellschaft häufig immer noch mit einem Stigma behaftet. Niemand redet gerne über Misserfolge oder Niederlagen, obwohl dieses Thema jeden Menschen irgendwann und irgendwie einmal betrifft – mal mehr und mal weniger, im Kleinen wie im Großen.

 

Selber schuld oder Schicksal?

Menschen können aus unterschiedlichen Gründen scheitern und nicht immer ist ihr Unglück selbst verschuldet. Es macht einen Unterschied, ob ich bei einer Prüfung versage, weil ich nicht gelernt habe – oder ob meine Prüfungsangst mich so sehr lähmt, dass ich alles falsch mache, obwohl ich den Stoff eigentlich beherrsche. Ein finanzieller Ruin kann die Folge davon sein, dass ich ständig mehr ausgebe, als ich eigentlich habe – aber er kann auch eintreten, weil mein größter Kunde, der mir eine hohe Summe schuldet, plötzlich Konkurs anmelden muss und meine kleine Firma diesen Verlust nicht verkraftet. Scheitern kann also sowohl selbst verschuldet, durch Fehlverhalten anderer verschuldet oder auch aufgrund „unglücklicher Umstände“ passieren. Was aber ist in welchem Fall zu tun?

 

a) Selbstverschuldetes Scheitern

Wer selbst verschuldet scheitert, sollte sich folgende Fragen stellen: Wo waren meine Schwachstellen? Was ist mein Anteil an diesem Scheitern? Die Haltung „Mir kann das nicht passieren“ macht blind für alle Anzeichen, dass die eigene Welt an einem bestimmten Punkt gerade in Scherben geht. Wie gut kenne ich mich selbst? Habe ich eine klare Sicht meiner Fähigkeiten (positiv wie negativ), meiner Neigungen und meiner Schwächen? – Wir sollten mit aller Kraft danach streben, uns selbst kennenzulernen, damit wir so gut wie irgend möglich einschätzen können, an welcher Stelle ein Absturz in unserem Leben passieren könnte. Wir müssen sowohl wissen, wie wir dies verhindern können, als auch, was wir im Fall eines Zusammenbruchs tun können.

 

b) Fremdverschuldetes Scheitern

Wie gut kenne ich die anderen? Ist mir bewusst, zu welchem Verhalten Menschen fähig sind? Selbst von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, der die Menschen über alles liebte, wird in Johannes 2,24 gesagt: „Er vertraute sich ihnen nicht an; denn er kannte sie alle.“ Hier ist sicherlich nicht gemeint, dass Jesus niemanden mehr an sich heran ließ. Er liebte die Menschen, denen er begegnete. Aber er wusste eben auch, dass es sich um Menschen handelt, deren Motive nicht immer lupenrein sind, die Fehler machen, die falsche Entscheidungen treffen und versagen. Jesus rechnete mit dem Scheitern, mit dem Versagen und dem Schuldigwerden von Menschen. Auch wir sollten deshalb Fehlverhalten anderer einkalkulieren und im Bewusstsein über unsere eigenen Schwächen auch mit dem Versagen anderer rechnen.

 

c) Schicksal

Manchmal treffen mehrere Faktoren unglücklich zusammen, deren Folge ein Scheitern in einem bestimmten Bereich zur Folge hat. In der Nacht vor der Führerscheinprüfung habe ich vielleicht ausgesprochen schlecht geschlafen und bin deshalb übermüdet. Dann fährt mir auch noch der Bus vor der Nase weg, ich komme zu spät, was mir zusätzlich zu meiner Prüfungsangst noch mehr Stress macht. Zitternd sitze ich dann endlich im Auto und gleich bei der ersten Rechts-vor-links-Kreuzung nehme ich jemandem die Vorfahrt, weil ich mich einfach nicht konzentrieren kann. Wer ist nun Schuld, dass ich durchgefallen bin? Eine Verkettung von unglücklichen Umständen hat in diesem Fall dazu geführt, dass ich versagt habe. Wichtig bei jedem Scheitern ist in jedem Fall, ehrlich hinzuschauen und herauszufinden, was genau die Krise und das Scheitern ausgelöst hat. Es gilt, die richtige Balance zu finden zwischen falscher Selbstanklage und dem Schuldverschieben auf andere oder „die Umstände“.

 

 

Scheitern, aber nicht untergehen

Petrus ist wohl der Jünger Jesu, der in seinem Leben am häufigsten gescheitert ist. Was hat er Jesus nicht alles versprochen – und wie kläglich hat er oft versagt! „Herr, wenn du es bist, dann will ich zu dir kommen“, sagt er zu Jesus auf dem See (Matthäus 14,22ff). Doch bereits nach wenigen Schritten auf dem Wasser verlässt ihn der Mut und er beginnt zu sinken. Sein Glaube reicht nicht aus und hätte Jesus nicht eingegriffen, wäre er unweigerlich untergegangen.

Wer das Boot nicht verlässt, kann auch nicht die Erfahrung machen, dass er von Jesus gehalten wird, wenn er unterzugehen droht.

In vielen Predigten kommt Petrus deshalb in dieser Geschichte nicht gut weg. Er gilt als der Jünger mit der großen Klappe, der immer wieder kläglich versagt, weil er sich völlig überschätzt hat. Für mich ist er jedoch der Jünger mit dem größten Mut, denn er war der Einzige, der es überhaupt wagte, das sichere Boot zu verlassen und sich auf den Weg zu Jesus zu machen. Wie ein Kind, das laufen lernt, macht er seine ersten Schritte – und wie ein Kind, das plötzlich unsicher wird, Angst bekommt und stürzt, geht er unter. Und was tut Jesus? Er greift nach dem Sinkenden, reißt ihn an sich und rettet ihm das Leben. Und so erlebt Petrus gerade in seinem Scheitern etwas, was die Jünger im sicheren Boot so nie erfahren haben: Petrus erfährt, wie es ist, in der Not von Jesus ergriffen zu werden. Darum kann man Scheitern auch anders betrachten. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, heißt es. Sprich: Wer das Boot nicht verlässt, kann auch nicht die Erfahrung machen, dass er von Jesus gehalten wird, wenn er unterzugehen droht.

 

Scheitern als Chance begreifen

Das heißt: Scheitern muss nicht ausschließlich negativ sein, sondern kann zur echten Chance für unser Leben werden. Scheitern kann zu neuem Wachstum führen. Doch das passiert nur dann, wenn wir uns ehrlich unserem Scheitern stellen und es als Chance für unser Leben begreifen. Jesus hat einmal zu seinen Jüngern gesagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8). Das schließt auch die Wahrheit über mich selbst und meine Situation mit ein – auch wenn diese nicht immer angenehm ist. Nur da, wo ich mir nichts mehr vormache, mein Versagen vor mir selbst und anderen eingestehe und der Wahrheit über mich ins Gesicht blicke, kann ich frei werden, neu anzufangen. Solange ich die Krise ignoriereund mir einrede, dass alles gar nicht so schlimm ist und es schon „irgendwie“ weitergehen wird, werde ich mich nicht weiter entwickeln, sondern bleibe auf der Stelle stehen. Manch einer resigniert auch völlig. Er schließt zwar mit der Vergangenheit ab, sieht aber keine Chance mehr für die Zukunft und gibt auf. Auf diese Weise wird er zum Opfer und der Antrieb, das Leben nach dem Zerbruch wieder aufzubauen, ist verloren.

 

Wenn wir mit unserem Lebensboot scheitern, ist das immer eine Zeit des Innehaltens. Wir können nicht mehr ausweichen, nicht mehr verdrängen. Wir werden regelrecht „ausgebremst“ und müssen uns neu orientieren lernen. Eine Lebensphase ist zu Ende gegangen, neue Wahrheiten und Werte werden wichtig. Scheitern führt mich an einen Scheideweg und ich muss neu wählen: „Wer bin ich? Wo will ich hin? Was macht mich aus?“ Scheitern macht mir klar, dass ich nicht weitermachen kann wie bisher. Es wird nichts mehr beschönigt, sondern die Wahrheit ist ans Licht gekommen, die Fakten liegen auf dem Tisch und ich muss mich ihnen stellen und entscheiden, was ich damit machen will. Hierin liegt eine ungeheure Chance zum persönlichen Wachstum und zur Reifung meiner Persönlichkeit. Nach dem Scheitern muss deshalb am Anfang immer stehen: „Ja, ich habe einen Fehler gemacht, ich habe versagt, ich bin gescheitert.“ Wer aus Fehlern lernen will, muss sie zunächst einmal eingestehen – vor sich selbst, vor Gott und manchmal auch vor anderen. Ich muss zugeben können, dass ich keine Kontrolle mehr habe und auf Hilfe angewiesen bin. Das macht demütig, und je mehr Erkenntnis ich über mich selbst gewinne und auch lerne, mir selbst mein Fehlverhalten zu vergeben, umso barmherziger werde ich auch mit anderen sein können, die versagen und schuldig werden.

 

Mut zum Neuanfang

„Fallen ist keine Schande, Liegenbleiben schon!“ Ein Kind, das laufen lernt, lernt im Versagen. Wieder und wieder fällt es hin und trägt so manche Blessur davon. Doch in der Regel rappelt es sich so lange immer wieder hoch, bis es sicher auf den Beinen steht, die es durch dieses Leben tragen sollen. Würde es irgendwann resigniert liegen bleiben und aufgeben, würde es das Laufen niemals lernen. Heißt: Jedes Versagen birgt die Chance des Wachstums, weil wir im Versagen lernen.

Gott, der uns ganz unten, wo wir ihn nie erwartet hätten, begegnen will, will uns auch aufheben und wieder auf die Füße stellen.

Jesus Christus hatte stets ein Herz für Verlierer und hat es heute noch. Niemals beurteilt er die Tatsache des Scheiterns allein negativ. Im Gegenteil: Er fordert die Menschen auf, zu ihm zu kommen – trotz und gerade in ihrem Scheitern – und verspricht ihnen einen Neuanfang. Dabei erteilt er keine platten Ratschläge, sondern lädt ein in eine lernende Lebensgemeinschaft mit sich selber: „Kommt zu mir, die ihr müde geworden und belastet seid (die ihr kurz vor dem Scheitern steht oder gescheitert seid) und lernt von mir“ (Matthäus 11,28), denn „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6). Für den Gescheiterten heißt das:

 

„Ich bin die Wahrheit“

Eine Bestandsaufnahme in der Situation zu machen durch die von Jesus Christus geschenkte Wahrheit. Das tut nicht selten weh, weil wir in seiner Gegenwart merken, wer und wie wir wirklich sind. Im Licht der Wahrheit Jesu gelingt es uns nicht mehr, uns und anderen etwas vorzumachen.

 

„Ich bin der Weg“

Jesus ist der Weg, aber wir selbst müssen gehen. Nach der Bestandsaufnahme gilt es darum, neue Wege zu gehen, um Vergebung zu bitten und sie zu gewähren, alte Denkgewohnheiten aufzugeben und neue einzuüben. Weil ich weiß, dass Jesus Christus ein Herz für mich und meine Situation hat, kann ich aufstehen und weitergehen.

 

„Ich bin das Leben“

Wenn wir die ersten beiden Schritte gegangen sind, werden wir das Leben langsam wieder neu entdecken! Unsere Lebensfreude kehrt zurück, unsere Beziehung zu Jesus Christus beginnt zum ersten Mal oder wird intensiver sein, das Leben bunter und vielfältiger.

 

Ein Neustart nach einem Zerbruch ist ein langer Weg, ein Prozess und ein großes Stück Arbeit, das uns oft bis zum Äußersten fordert. Aber es lohnt sich unbedingt! In der Beziehung zu Jesus Christus können wir Ermutigung und die nötige Kraft für den neuen Weg. Er, der uns ganz unten, wo wir Gott nie erwartet hätten, begegnen will, will uns auch aufheben und wieder auf die Füße stellen. Der Tunnel des Scheiterns hat eine Ausfahrt. Zunächst mag es nur ein ganz kleines, unscheinbares Licht sein. Aber es wird heller, wenn wir beginnen, auf es zuzugehen.

INGE FRANTZEN

ist Systemische Lebensberaterin (IGNIS) und arbeitet als Redakteurin bei MINDO.

 

E-Mail: inge.frantzen@mindo-magazin.de

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