MINDO: Herr Hipler, ein bisschen abnehmen, früher schlafen gehen, netter zu den Mitmenschen werden: Warum nehmen wir uns am Jahresanfang eigentlich immer wieder aufs Neue vor, uns zu verändern, obwohl wir oft schon vorher wissen, dass wir wahrscheinlich scheitern werden?

 

MATTHIAS HIPLER: Weil der Wunsch, sich zu verändern, zutiefst menschlich ist, und wir mit einem neuen Jahr eben auch einen neuen Anfang verbinden. Ich glaube, dass die meisten Neujahrsvorsätze daran scheitern, dass sie viel zu allgemein sind und wir uns zudem oft etwas vornehmen, das eine Nummer zu groß für uns ist. Und dann stellen wir spätestens Mitte Januar fest, dass es mal wieder nicht geklappt hat und geben frustriert auf.

 

 

Wie kann man das ändern?

 

Indem man sich realistische Ziele setzt. Nehmen wir das Beispiel „Sport treiben“: Es ist wichtig, dass ich mich zuerst frage: „Was im Blick auf Bewegung möchte ich ändern und in welchem Rahmen will ich das tun?“ Und dann peile ich ein realistisches Ziel an: „Zweimal die Woche will ich mich eine halbe Stunde bewegen.“ Dazu ist es hilfreich, jemanden zu fragen, der einen dabei unterstützt, denn ein bisschen Druck von außen hilft tatsächlich, sich zu verändern. Und auch bewusstes Belohnen verstärkt die Motivation. Wenn ich also eine bestimmte Zeit etwas durchgehalten habe, sollte ich mir zur Belohnung etwas Schönes gönnen – einen Kinobesuch zum Beispiel oder eine Massage oder auch ein leckeres Essen.

 

 

Wie ist das mit größeren Veränderungen – funktioniert das da auch?

 

Meine Erfahrung ist, dass radikale Veränderungen, die richtig an die Wurzel gehen, in der Regel nur durch erlebte und erlittene Krisen ausgelöst werden. Sprich: Erst wenn der Herzinfarkt uns mit unserem ungesunden Lebensstil konfrontiert, hören wir auf zu rauchen oder teilen unsere Zeit achtsamer ein. Erst wenn die Scheidung vor der Tür steht, richten wir unser Leben noch einmal neu aus. Oft sind wir so lange untätig, bis veränderte äußere Umstände uns zu einer Verhaltensänderung zwingen. Und da passiert dann oft ganz viel. Wir wünschen uns zwar keine Krisen, aber sie sind letztlich doch oft der Motor für wirkliche Veränderung.

Wir wünschen uns zwar keine Krisen, aber sie sind letztlich doch oft der Motor für wirkliche Veränderung.

Worin wurzelt überhaupt der Wunsch, sich zu verändern?

 

Zunächst einmal ist es ja so, dass unser ganzes Leben einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterliegt: Wir ziehen um und verlieren unsere gewohnte Umgebung. Eine Beziehung geht auseinander und wir verlieren einen Menschen, der uns viel bedeutet hat. Wir heiraten und verlieren unser bis dahin völlig selbstbestimmtes Leben. Wir erleben also permanent Veränderungen, auf die wir uns einstellen müssen und in der Regel gelingt uns das auch, weil wir alle eine gewisse Fähigkeit mitbekommen haben, flexibel zu reagieren, sonst würden wir das Leben gar nicht bestehen. Hinzu jedoch kommt, dass wir alle ein Idealbild von uns haben, das sich aus den Erwartungen anderer an uns und auch aus unseren eigenen Wünschen speist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir permanent zu hören bekommen: „Erst wenn du das und das hast, besitzt oder tust, bist du erfolgreich, kannst du stolz auf dich sein oder dich an den Strand wagen!“

 

 

Können wir diesen Stimmen und Antreibern entkommen?

 

Ja. Ich lade Menschen in der Beratung gerne dazu ein, mehr Mut zum Mittelmaß zu wagen. Es hat etwas sehr Befreiendes, sagen zu können: „Hey, ich bin völlig durchschnittlich und herrlich normal!“ Es tut gut, sich vor Augen zu malen, dass die Themen, mit denen ich mich herumschlage, Themen sind, mit denen Millionen andere ebenfalls konfrontiert sind. Und jeder von uns ist insofern völlig durchschnittlich, als dass wir wie alle anderen mit Licht- und Schattenseiten zu kämpfen haben und nur eine begrenzte Kraft haben.

 

 

Und warum ist das eine gute Nachricht?

 

Die große Versuchung, in der wir stets stehen, ist, dass wir in „Besser-Schlechter“-Kategorien denken: Es gibt die Richtigen und die Falschen. Die Guten und die Bösen. Die, die richtig, und die, die falsch leben und glauben. Dahinter steckt ein Denken, das mich auf andere herabschauen lässt. Ich erhebe mich über andere, auch, weil das mein Selbstwertgefühl stärkt.

Wir sind alle durchschnittlich, mit unseren Stärken und Schwächen, mit Siegen und Niederlagen, mit edlen und mit selbstsüchtigen Motiven. Sich das einzugestehen, kann sehr entlastend sein.

Darum ist es schön, wenn ich von Herzen sagen kann: „Wir sind alle durchschnittlich, wir sind alle unterwegs im Abenteuer des Lebens – mit unseren Stärken und Schwächen, mit Siegen und Niederlagen, mit edlen und mit selbstsüchtigen Motiven.“ Sich das einzugestehen, kann sehr entlastend sein. Denn dann muss ich auch nicht mehr irgendwelchen idealen Erwartungen entsprechen, die entweder ich selbst oder auch andere an mich stellen. Und ich muss auch nicht mehr meinem Wunsch nachgehen, andere zu bewerten oder sogar zu verurteilen.

 

 

Aber ist es nicht Ihre Aufgabe als Coach und allem voran als Pastor, was Sie ja auch viele Jahre lang waren, Menschen zur Veränderung, ja zum Besserwerden aufzufordern?

 

Als Coach bin ich Wegbegleiter meiner Klienten. Das heißt, ich lasse mich auf den Menschen ein, so wie er ist und mit allem, was er mitbringt. Manche befinden sich gerade in einer Sackgasse. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Oder sie erleben einen ganz starken Leidensdruck, weil sie an einem Punkt gekommen sind, wo sie merken, dass sie mit dem Leben an einer bestimmten Stelle nicht mehr klarkommen. Sie fragen sich zum Beispiel: „Wie kann ich die Trauer bewältigen?“, oder „Wie kann ich eine Trennung verarbeiten, ohne dass ich Schaden leide?“, oder auch „Wie kann ich mich beruflich so umorientieren, dass meine Arbeit für mich erfüllender ist?“ Für solche Menschen bin ich eine Art Reisebegleiter und im besten Sinne ein Gehilfe zum Leben, indem ich dabei helfe, dass Klarheit wächst und jemand erkennt: „Aha, hier ist der Weg, den ich gehen kann.“ Ich bin also nicht der Optimierer anderer, sondern ihr Wegbegleiter – jemand, der anderen zur Seite steht und der natürlich auch Impulse gibt, dass dieser eine Mensch in seiner konkreten Situation einen Schritt weiterkommt, oder in der Krise, in der er vielleicht steckt, reift und neue Stärken entwickelt.

 

 

Kommen wir zum christlichen Glauben. Der fordert uns ja auch dazu auf, Veränderte zu werden und mehr und mehr Jesus Christus widerzuspiegeln – ein Prozess, den die Bibel „Heiligung“ nennt. Frage an den Pastor: Was genau ist eigentlich Heiligung und was ist sie nicht?

 

Von den biblischen Aussagen her würde ich Heiligung nicht als eine Optimierung der persönlichen Frömmigkeit sehen, also dahingehend, dass zum Beispiel meine Gebete immer besser oder erfolgreicher werden oder dass ich als Mensch immer unfehlbarer werde. Ich verstehe es vielmehr als einen Prozess der Veränderung und des Reifens mit dem Ziel, authentischer zu werden – vor Gott, vor mir selbst und anderen Menschen. Heiligung ist immer eingebettet in ein Beziehungsverständnis, denn Glaube ist Beziehung. Es geht also nicht darum, durch den Glauben an Jesus Christus ein besserer Menschen zu werden, …

 

 

Sondern?

 

… sondern darum, dass meine Beziehung zu ihm reift, dass sie sich vertieft, dass ich erlebe: „Jesus ist vertrauenswürdig.“ Dass ich mit ihm und er mit mir durch dick und dünn gehen kann, und dass sich ganz besonders in den Krisen, Brüchen und großen Herausforderungen, die sich mir stellen, die Beziehung als tragfähig erweist – und wächst! So wie bei zwei Freunden, die mit den Jahren immer vertrauter werden, die sich immer noch mehr zu sagen haben, die sich immer weiter öffnen. Wo einer den anderen immer noch ein bisschen besser kennen- und verstehen lernt. Dass die Beziehung zwischen Gott und mir intensiver wird, das verstehe ich unter Heiligung.

 

 

Und das reicht, um echte Veränderung zu erfahren?

 

Ja, denn wir bleiben in der Begegnung mit Gott ja nicht wie wir sind. Um noch einmal das Bild der Freundschaft aufzugreifen: Ein Freund, mit dem ich viele Jahre unterwegs bin, verändert mich natürlich: Ich lerne mich zu öffnen. Ich erlebe, dass er ein Freund bleibt, auch wenn ich meine Schattenseiten offenbare. Er steht mir zur Seite – aber er hat auch den Mut, mir zu sagen: „Hey, an der Stelle hier liegst du falsch.“

Vielleicht kann man Heiligung sogar so definieren: Gott färbt auf uns ab!

Oder denken wir an ein Ehepaar, das viele Jahre verheiratet ist, das miteinander gerungen, Krisen erlebt und Freudentage gefeiert hat – da hat man den Eindruck, dass der eine auf den anderen abgefärbt hat. Vielleicht kann man Heiligung sogar so definieren: Gott färbt auf uns ab!

 

 

Klingt gut. Aber wie geht das ganz praktisch?

 

Schauen wir uns die großen Vorbilder der Bibel an, kann man auch nicht sagen, dass sie ein perfektes Leben geführt hätten. Zum Beispiel Petrus, der Jesus verleugnet. Oder der großartige König David: Er wird zum Mörder und Ehebrecher und ist ein katastrophaler Familienvorstand! Und trotzdem wenden sie sich immer wieder Gott zu, so wie sie sind, und mit dem, was sie getan haben – und erleben Annahme, Weiterentwicklung und Reife. Auf demselben Weg erfahren auch wir Veränderung: Ich gehe zu Jesus. Ich wende mich ihm zu, bin bereit, mich zu öffnen. Ich nehme ihn mit hinein in meine Entscheidungsprozesse. Ich klage ihm mein Leid. Ich frage ihn danach, wie ich eine Baustelle in meinem Leben abarbeiten kann. Ich breite sie vor ihm aus, sage ihm, wie es mir damit geht, und wo ich mir Veränderung wünsche. Und dann mache ich einen Plan und gehe los, denn ich weiß: Gott ist mit in meinem Boot. Ich feiere kleine Erfolge und lasse mich von Misserfolgen nicht nachhaltig entmutigen. Es mögen nur kleine Schritte sein, aber diese bringen mich auf Dauer zu größeren Zielen. Im Gegensatz dazu produziert der Perfektionismus, der bei manchen Christen vorhanden ist, nichts als Entmutigung. Denn wenn Ziele und Erwartung zu hoch gesteckt sind, dann bin ich zum Scheitern verurteilt. Dann versuche ich vielleicht ein paar Mal, ein besserer Mensch und ein besserer Christ zu werden, bis ich merke, dass mir das nicht gelingt, und dann gebe ich entmutigt auf.

 

 

Was ist Ihrer Meinung nach denn eins dieser größeren Ziele?

 

Ich glaube, ein großes Ziel von Heiligung ist, dass ich in einem Versöhnungsprozess bleibe – im Blick auf mein eigenes Leben, aber auch im Blick auf Gott und die falschen Bilder, die ich von ihm habe. Viele von uns müssen den drohenden Gott und unerbittlichen Richter, der uns ständig antreibt, hinter sich lassen. Stattdessen dürfen wir Gott mehr und mehr in seinem wahren Wesen kennenlernen und an uns heranlassen. Und auch mit uns selbst und unserem Gewordensein dürfen wir Frieden schließen. Letztlich glaube ich, dass ein Ziel der Heiligung ist, dass sich in den Beziehungen, die ich lebe – zu mir, zu Gott und anderen –, ein Geist der Versöhnung widerspiegelt.

 

 

Ein schönes Fazit. Vielleicht ergänzen Sie daher zum Schluss noch zwei Sätze für uns: „Ich darf so bleiben, wie ich bin, weil …“

 

… ich unter dem Zuspruch von Christus lebe: gewollt und angenommen zu sein, geliebt und begnadigt. Dieser Zuspruch gibt meinen Füßen Halt und trägt mich. Denn er gilt mir, wie ich bin – und nicht, wie ich sein sollte!

 

 

„Ich darf anders werden, weil …“

 

… dieses Angenommen-Sein Kräfte zur Veränderung freisetzt. Welche Menschen hatten den größten Einfluss auf mich? Das waren die, die mich genommen und respektiert haben, wie ich bin. Darum glaube ich, dass auch durch den Zuspruch von Jesus eine enorme Energie zum Anderswerden freigesetzt wird. Aber nicht, um ihm noch mehr zu gefallen – sondern weil ich sein Gefallen gefunden habe! Und dann geht es weiter mit dem Abenteuer Leben. Wenn ich mit Jesus unterwegs bin, wird mich seine Gegenwart wie von selber verwandeln.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

Matthias Hipler

betreibt eine Praxis für Psychotherapie, Paartherapie und Coaching in Hanau und ist Autor zahlreicher Bücher. www.psychotherapie-hipler.de

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