Reisen ist für viele von uns die populärste Form des Glücks. Wir fliegen zu tropischen Stränden, erkunden pulsierende Großstädte, gehen auf Bildungsreise, um Land und Leute kennenzulernen. Viele schränken sich lieber im Alltag ein, als die schönsten Wochen des Jahres daheim zu verbringen. Wir suchen das Glück in der Ferne – dabei liegt es ganz nah: Tiefe Zufriedenheit, innere Ruhe und das Gefühl von Liebe und Lebendigkeit erwarten uns auf der Reise in unserer eigenes Herz.

 

Häufig erzählen Klienten, die in meine Praxis kommen, dass sie sich selbst aus dem Blick verloren haben. Ihnen ist ihre Mitte abhandengekommen. Sie fühlen sich verloren wie ein Blatt im Wind. Sie spüren, dass ihr Leben nicht stimmig ist. Die innere und äußere Unzufriedenheit ist mit den Jahren gewachsen. Ihre ganze Energie fließt in ihre Arbeit und private Verpflichtungen. Damit der Alltag funktioniert, müssen sie Hunderte verschiedener Aufgaben jonglieren. Unaufhörlich drehen sie sich im Hamsterrad von Aufträgen und Erwartungen. Der Fokus liegt darauf, ihre äußere Welt am Laufen zu halten, während sie sich von ihrer inneren Welt immer weiter entfernt haben. Sie sind nicht wirklich bei sich selbst. Es hat den Anschein, als sei der Weg ins eigene Herz weiter und beschwerlicher als ein Trip nach Papua-Neuguinea.

 

Tiefer sehen

Auf dem Weg zu uns selbst kommen uns viele verschiedene Wachstumschancen entgegen – oft als Problem verkleidet. Wir wollen Schwierigkeiten am liebsten ängstlich ausweichen, sie verdrängen oder leugnen, um schmerzliche Gefühle zu vermeiden. Aber Wegschauen führt in die Erstarrung und unsere Lebendigkeit bleibt auf der Strecke. Unsere Probleme halten uns gepackt, wenn wir sie nicht anpacken. Wenden wir uns ihnen aber zu, schauen sie neugierig an und akzeptieren, was mit uns los ist, können wir sie mit Gott wie mit einem Freund besprechen. Wir machen Fortschritte auf der Reise in unsere Mitte, indem wir in den Spiegel unseres Herzens sehen und Hindernisse proaktiv angehen.

Heilung geschieht, wenn ich mein Nicht-satt-geworden-Sein anschaue und akzeptiere. Ich löse mich von meinen Projektionen und breite meine Sehnsucht vor Gott aus.

Diese Reise in das tiefste Innere wird vielfältig belohnt: Wir lernen, unser Leben liebevoll zu umarmen. Wir beginnen, einverstanden zu sein mit unseren Fähigkeiten und Begrenzungen, söhnen uns aus mit den Brüchen in unserer Biographie und entdecken in uns einen Schatz, den der Schöpfer in uns hineingepflanzt hat. Wir kommen dem Geheimnis auf die Spur, dass wir Gott nahekommen, indem wir bei uns ankommen. Und umgekehrt gilt: Wer sich in seinem Inneren für Gott öffnet, kommt seiner eigentlichen Identität auf die Spur. Jeder Mensch ist eine „lebendige Seele“. Seele meint im biblischen Sprachgebrauch unser umfassendes Menschsein. Wir haben nicht eine Seele, sondern sind eine Seele, vom Schöpferatem belebt und durchdrungen (1. Mose 2,7). In Psalm 23,3 beschreibt König David, wie wir bei Gott zu uns selbst finden: „Die Seele mir bringt er zurück.“ (nach der Übersetzung Buber-Rosenzweig)

 

Die eigene Biographie akzeptieren

Ich komme zu mir, wenn ich mich auf die Reise in meine Vergangenheit aufmache:

→ Was hat mein bisheriges Leben geprägt?

→ Welche Bedeutung hatten biographische Ereignisse, Krisen, Krankheiten, aber auch Erfolgserlebnisse und ermutigende Momente?

→ Welche Rollen wurden mir zugewiesen?

→ Aus welchen guten und auch schmerzlichen Quellen wurden meine Kindheit und Jugend gespeist?

→ Wer oder was hat mich gestärkt?

→ Welche Bilder von Gott und dem Leben habe ich von klein auf verinnerlicht?

→ Kann ich so etwas wie einen roten Faden in meiner Lebensgeschichte erkennen?

→ Welche Lebensmelodien klingen bis heute nach?

 

 

Die eigene Lebensgeschichte verstehen, setzt starke Kräfte frei, um für mich neue Handlungsperspektiven zu erschließen. Ein schöpferischer Umgang mit meiner Gegenwart und Zukunft wird möglich. Es sind vor allem verletzende und belastende Erfahrungen, die ich anschauen, in Worte fassen und aussprechen darf. Eine seelsorgerlich-geistliche oder auch therapeutische Begleitung erschließen mir neue Sichtweisen auf meine Biographie. Von Christa Wolf stammt die mahnende Erkenntnis: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht stellt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Wenn ich meine Geschichte erzählen kann, ja sagen kann zu allem, was mich geformt und geprägt hat, radikal akzeptieren kann und einverstanden bin mit Schicksalsschlägen und Fehlentscheidungen, söhne ich mich mit mir und meinem Gewordensein aus.

 

 

KOMMEN SIE SICH AUF DIE SPUR!

 

TIEFER SEHEN „Wie nah fühle ich mich mir selbst?“ „Welche Gedanken und Gefühle nehme ich wahr, wenn ich in mich hineinhöre?“

Praxis: Erzählen Sie Gott von Ihren Entdeckungen!

 

HEILSAM GLAUBEN „Welche tiefsten Sehnsüchte bewegen mein Herz?“

Praxis: Drücken Sie Ihre Sehnsüchte auf kreative Weise aus, z. B. in einem Gebet, Gedicht, einem Bild oder einer Collage!

 

LEICHTER LEBEN „Welche konkreten Belastungen will ich loslassen und aus meinem Leben verabschieden?“ „Inwiefern wird sich dadurch meine Lebenssituation positiv verändern?“

Praxis: Wählen Sie ein Symbol für die Befreiung und tragen Sie es eine Woche mit sich, um dann zu schauen, wie es Ihnen damit geht.

In der seelsorgerlichen Begleitung lade ich gerne dazu ein, Jesus Christus in Gedanken mitzunehmen in die früheren schmerzlichen Momente, an die Orte der Verzweiflung oder Einsamkeit. Vor ihm dürfen meine Gefühle ausgebreitet werden. Er kann wirklich im tiefsten verstehen, wie es sich für mich damals angefühlt hat. Ich darf meine Wunden und Narben in das Licht seiner annehmenden Gegenwart ausbreiten und erfahre, wie seine Liebe heilsam hineinwirkt in meine Seele.

 

Wie Verliebte glauben

Was heilsamer Glaube bedeutet, führen uns Verliebte vor Augen. Sie fühlen sich gesehen und hören einander aufmerksam zu. Ihr Alltag strahlt hell und heiter. Verliebte entdecken ihre Kreativität. Sie öffnen sich für die Ideen und Sichtweisen des anderen, sind bereit, sich korrigieren zu lassen. Aus ihrer Beziehung schöpfen sie Lebenskraft, weil sie sich ganz angenommen wissen. Liebende leben uns vor, wie sich heilsames Gottvertrauen anfühlt. Im Kern geht es darum, in Jesus zu bleiben und unser Innerstes für ihn zu öffnen, uns von seiner Liebe umarmen und berühren zulassen und zu erfahren: „Ich bin bei ihm voraussetzungslos angenommen mit allem, was ich bin.“

 

Bilder von Gott anschauen

Natürlich sind die Bilder, die wir über Gott in uns tragen, durchmischt mit den Erfahrungen, die uns geprägt haben. Vor allem die Beziehungen zu Mutter und Vater durchfärben unsere Sicht auf Gott. Wir müssen genau hinschauen, inwieweit wir kindliche Erfahrungen auf ihn projizieren. Denn so lange wir in ihnen gefangen bleiben, verstellen sie uns den Weg in ein Gottvertrauen, das Freiheit atmet.

 

Wer beispielsweise in seinen kindlichen Liebesbedürfnissen nicht ausreichend gesehen wurde, steht in der Gefahr, seinen Liebeshunger auf Gott zu übertragen, und erhofft von ihm alles das zu empfangen, was die Eltern schuldig geblieben sind. Solange diese unbewusste Projektion besteht, mündet sie in die Enttäuschung darüber, dass Gott scheinbar auch nicht das Erhoffte gibt. Das Gefühl, seine Liebe nicht wirklich zu spüren oder sich Gottes Liebe erst verdienen zu müssen, stellt sich als das alte Kindheitsgefühl immer wieder ein.

Heilung geschieht, wenn ich mein Nicht-satt-geworden-Sein anschaue und akzeptiere. Ich gestehe ein, dass Menschen meine Defizite nicht dauerhaft auffüllen können. Ich löse mich von meinen Projektionen und breite meine Sehnsucht vor Gott aus. „Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen“, betet David in Psalm 38.

 

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Unser Gottesbild steht aber auch in Wechselwirkung mit unserem Selbstbild. Wenn ich mich mit den Gottesbildern der Bibel beschäftige, werde ich sie immer durch die Brille meiner Biographie wahrnehmen. Wer abwertend über sich selber denkt, wird auch bei Gott entwertende Züge wiederfinden. Wer sehr strenge Maßstäbe an sich selbst richtet, wird eine gewisse Härte in biblischen Aussagen herauslesen. Dass unsere Vorstellungen von Gott nicht frei von Projektionen sind, ist völlig normal. In meiner Gottesbeziehung bleibe ich lebenslang herausgefordert, meine eigenen Bilder kritisch anzuschauen, zu hinterfragen und sie von biblischen Gottesbildern durchleuchten zu lassen. Ich erzähle Gott von meinen Bildern und öffne mich für das Wirken seines Geistes, der mich „in alle Wahrheit leiten“ wird. (Johannes 16,13)

 

Leben mit leichtem Gepäck

Mit jeder Kerze auf unserer Geburtstagstorte wächst das innere Gespür für das, was uns gut tut. Wir gehen achtsamer mit unseren Bedürfnissen um. Wir sagen, was wir wollen und was nicht. Dazu gehört die Fähigkeit, uns gegenüber schädlichen Erwartungen und Anforderungen anderer Menschen bewusst abzugrenzen und uns von krankmachenden Beziehungen zu lösen. Selbstfürsorge setzt Abgrenzungsfähigkeiten voraus.

 

Wir gewinnen Lebensleichtigkeit, indem wir uns darin üben, Lasten loszulassen. Altlasten aus unserer Vergangenheit verstellen uns den Blick nach vorne, wenn wir sie nicht aus der Hand geben. Loslassen bedeutet, einverstanden zu sein mit dem, was war. Mich mit Situationen, in denen ich verletzt wurde oder verletzt habe, mit Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten der Barmherzigkeit Gottes zu überlassen. Und auch Abschied nehmen zu dürfen von unerfüllten Lebensträumen, die unerreichbar geworden sind.

 

Unser Leben atmet Freiheit, wenn wir uns von Lebensillusionen trennen, die wir uns im Blick auf uns selbst gemacht haben. Beispielsweise die Überzeugung, alles im Griff zu haben und kontrollieren zu können. Auch die irrige Annahme, dass wir immer nur heilige Motive verfolgen. Oder auch, dass wir zu oft unseren Selbstwert über Leistung und Besitz definieren.

 

Mut zur Durchschnittlichkeit

Es wirkt zutiefst befreiend, die Wahrheit über mich zu akzeptieren, dass ich ein völlig durchschnittlicher Mensch bin. Die meisten von uns wünschen sich, etwas Besonderes zu sein, mit makelloser Weste, besonders christlich und gut. Gelingt das nicht, kippt es häufig ins Gegenteil von Selbstverurteilung und dem Gefühl, besonders schlecht zu sein. Wir leben alle in den gleichen Spannungen zwischen Gut und Böse, Erfolgen und Niederlagen, edlen und unedlen Motiven. Es braucht eine gehörige Portion Selbstreflektion und Mut, um dem Club der Durchschnittlichen beizutreten.

 

Und doch wollen wir auch als ziemlich normale Leute die Sehnsucht unseres Herzens nie aus den Augen verlieren. Sie ist kostbar und von Gott eingepflanzt. Wenn wir mit unserer Sehnsucht in Berührung bleiben, weist sie uns auf den hin, der unseren Alltag übersteigt. Alltägliche Probleme relativieren sich, wenn ich sie aus Gottes Perspektive betrachte. Gott befähigt uns, Menschen und Situationen zu segnen, die auf uns lasten. Selbst giftige Personen verwandeln sich, wenn wir sie unter den Segen Gottes geben. Indem wir segnen, verändert sich unser Blickwinkel und wir entdecken eine himmlische Perspektive für irdische Probleme.

Matthias Hipler

betreibt eine Praxis für Psychotherapie, Paartherapie und Coaching in Hanau und ist Autor zahlreicher Bücher.

 

www.psychotherapie-hipler.de

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