MINDO: Herr Berger, können wir eigentlich neutral glauben? Oder wieviel Ich spielt beim Glauben eine Rolle?

 

JÖRG BERGER: Unglaublich viel – und das ist erst einmal gut so! Viele Christen nehmen an dieser Stelle ihren eigenen Glauben nicht ernst genug. Sie vergessen, dass Gott sich selbst in den Menschen hineingelegt hat, als er ihn geschaffen hat. Dadurch steckt in jedem von uns ein klein wenig von Gottes Wesen, das sich durch unsere ganz persönliche Geschichte anders ausdrückt als in anderen Menschen. Und darum hat auch die Art und Weise, wie ich Gott wahrnehme, viel mit meinem Ich zu tun.

 

 

Wir glauben also auf die Art und Weise, wie wir es tun, weil wir sind wie wir sind?

 

BERGER: Ja, das ist der Ausgangspunkt. Aber danach geht es natürlich weiter. Schon unsere menschlichen Beziehungen werden ja erst richtig spannend, wo jemand unseren Horizont erweitert. Jemand überrascht mich und zeigt sich ganz anders, als ich ihn eingeschätzt hatte. Dadurch wird eine Beziehung auch zu einer Möglichkeit, über mich selbst hinauszuwachsen.

Genau das erfahren wir auch und umso mehr mit Gott. Er korrigiert das Bild, das ich mir von ihm gemacht habe. Er sprengt meine Vorstellungen und führt mich in ein Leben, das aufregender, aber auch herausfordernder ist, als ich mir ein religiöses Leben vielleicht vorgestellt hätte.

 

 

Und warum ist es wichtig, dass wir uns diese Tatsache vor Augen halten? Man könnte ja auch einwerfen, das sei egal.

 

BERGER: Weil mein Glaube und meine Lebensrealität immer wieder so aufeinanderstoßen, dass mein Glaube in die Krise kommen muss. Und dann verliere ich meinen Glauben – oder aber er wächst mit den Realitäten des Lebens. Deshalb ist es hilfreich, wenn ich mir bewusst mache, welche Rolle das Ich in meinem Glauben spielt.

Wenn ich eine allgemein gültige Gotteserkenntnis hätte, müsste ich dann nicht jeden korrigieren, der eine Glaubensfrage anders sieht als ich?

Ein Beispiel: Vielleicht ist mein Leben lange gut gelaufen und ich konnte meinen Kinderglauben weiterführen: „Wenn ich schön brav und fromm bin, dann beschützt mich Gott.“ Plötzlich aber kommt Leid in mein Leben und ich muss mich fragen: „Warum macht Gott das?“ Und noch wichtiger: „Wie ist Gott wirklich?“ Auf der Suche nach einer Antwort, blicke ich mit neuen Augen in die Bibel und entdecke eine mir bisher unbekannte Wahrheit: dass Gott niemandem ein Leben ohne Leid versprochen hat. Er steht ganz anders zu Leid, als ich dachte – und trotzdem lässt er mich nicht alleine damit!

 

 

Wie lerne ich denn zu unterscheiden zwischen dem Gottesbild, das ich aufgrund meiner persönlichen Brille habe, und dem, wie Gott wirklich ist?

 

BERGER: Viele Glaubende stellen sich diese Frage, gerade wenn sie schon einiges an Lebens- und Glaubenserfahrung haben. Die Frage ist sehr aufrichtig gemeint. Gleichzeitig stecken aber auch Anmaßung und Selbstüberforderung darin: Wer bin ich denn, dass ich die Bibel objektiv verstehen oder Gott objektiv erkennen könnte, unabhängig von meiner persönlichen Prägung, von meiner Kultur und der Generation, in der ich aufgewachsen bin?

Aber die Frage ist auch gefährlich. Denn wenn ich eine allgemein gültige Gotteserkenntnis hätte, müsste ich dann nicht jeden belehren und korrigieren, der eine Glaubensfrage anders sieht als ich? Zum Glück ist die Bibel voller Menschen, die eine sehr begrenzte Gotteserkenntnis hatten. Trotzdem lebten sie selbstbewusst ihren Glauben und übernahmen Verantwortung. Gott korrigierte sie, wo nötig, und führte ihren Glauben über ihre persönlichen oder kulturellen Grenzen hinaus. Letztlich ist es nicht meine Erkenntnis, sondern meine Beziehung zu Gott, die gewährleistet, dass mein Glaube weiter reicht als meine persönlichen Prägungen.

 

 

Viele spüren, dass ihr Ich nicht immer so ist, wie sie es sich von ihrem Glauben her wünschen. Sie wären gerne liebevoller, vergebungsbereiter oder mutiger im Vertrauen auf Gott. Wie kommen wir da hin?

 

BERGER: Dazu muss der Glaube bis tief in unser Nervensystem vordringen. Dann prägt er die Art und Weise, wie wir Situationen wahrnehmen und bestimmt auch unsere spontanen Gefühle und Reaktionen. Das aber gelingt nur durch authentische Erfahrungen. Zum Beispiel solche: Ich bespreche mit Gott eine Sache, für die ich mich entsetzlich schäme, und warte vertrauensvoll auf seine Reaktion. Oder: Ich lasse einem anderen den Vortritt und beobachte aufmerksam, was Gott aus meinem Verzicht macht. Solche kleinen „Mutproben“ führen zu Erfahrungen, die meinen Glauben vertrauender machen und auch mein Ich nachhaltig verändern.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

Jörg Berger

ist Psychologe und Psychotherapeut in eigener Praxis und Autor mehrerer Ratgeberbücher. Zum Thema hat er zusammen mit dem Theologen Andreas Rosenwink das Buch „Der Herzenskompass“ verfasst, das vor kurzem erschienen ist (Verlag der Francke-Buchhandlung).

 

Mehr zum Thema: www.derherzenskompass.de

 

 

www.psychotherapie-berger.de

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