MINDO: Herr Hickert, genau hinsehen, in die Tiefe gehen, die eigenen Motive und Verhaltensmuster hinterfragen – das klingt nach Arbeit und auch nach unbequemen Entdeckungen. Warum lohnt es sich trotzdem, nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben, wenn es um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geht?

 

CHRISTOPH HICKERT: Das Thema „Veränderung von alten Mustern und Prägungen“ beschäftigt mich seit einigen Jahren: Warum sabotieren wir uns immer wieder selber, obwohl wir es eigentlich besser wüssten? Was läuft da genau in uns ab? Wie können wir uns verändern? Im Zusammenhang mit meiner Beratertätigkeit tauchen solche Fragen ebenfalls oft auf. In den Gesprächen gehen wir gemeinsam auf Spurensuche. Und die bleibt nicht an der Oberfläche. Denn oft haben wir aufgrund unserer frühkindlichen Prägungen unbewusst Schutzstile und Verhaltensnotlösungen entwickelt, mit denen wir uns noch heute durchs Leben navigieren. Ohne es zu merken, engen wir uns dadurch selber ein, weil wir als Erwachsene immer noch in einer alten Rüstung herumlaufen, die zwar früher hilfreich und schützend war, aber heute längst nicht mehr nötig ist. Oft führt erst der „Weckruf“ einer handfesten Krise, einer Krankheit oder eines Konflikts dazu, dass wir uns endlich ein Herz fassen, uns mit uns selber auseinanderzusetzen. Dann wachen wir auf und wissen: „So nicht mehr!“ Uns genau anzuschauen, braucht zwar Mut, aber es lohnt sich. Denn es geht um unser Leben! Dieser Weg führt in die Freiheit, raus aus dem Funktionieren, hin zu wirklichem Leben.

 

 

Wie geht man eine gesunde Selbstreflexion, in der man nicht nur um sich kreist, sondern auch wirklich vorwärtskommt, am besten an? Kann man das selber bewerkstelligen oder muss jeder gleich zu einem Coach oder Therapeuten?

Wir gehen ins Coaching oder in eine Beratung, weil wir immer dieselben frustrierenden Erfahrungen machen: Wir stehen an einem Punkt im Leben, an dem wir nicht mehr weiterwissen. Wir haben alles Menschenmögliche unternommen, um endlich etwas verändern zu können: Ziele zu erreichen, Ängste und Depressionen zu überwinden, negative Charakterzüge abzulegen, Konflikte zu entschärfen oder eine Beziehung zu retten. Aber oft gelingt das nicht so einfach. Die eigenen Muster und Verhaltensweisen erweisen sich als hartnäckiger, als wir oft meinen. Spätestens dann wird klar: Veränderung ist schwierig und bedeutet harte Arbeit! Unsere bequemen, gewohnten und bekannten Verhaltensmuster sind oft wie unser Lieblingssessel – wir kehren gerne dorthin zurück. All das zuerst mal mit guten Freunden oder mit dem Partner zu besprechen, ist sicher sinnvoll. Aber manchmal braucht es eben doch mehr und ein kompetenter Wegbegleiter kann hier gezielter weiterhelfen.

 

 

Coaching, Seelsorge, Therapie – was ist eigentlich für wen wann dran?

Die Hauptunterschiede zwischen Coa­ching und Psychotherapie bestehen lediglich in unterschiedlichen Zielen: Therapie dient der Gesundung, zum Beispiel der Bewältigung von Ängsten, Depressionen, Zwängen und anderem. Coaching fördert Persönlichkeitsentwicklung und hilft bei der Entscheidungsfindung oder auch bei Herausforderungen, die aus Berufsrollen und dem Arbeitskontext entstehen. In der Seelsorge wiederum spielen eher geistliche Aspekte wie Glaube, Gebet, Schuld, Vergebung und die Gottesbeziehung eine entscheidende Rolle. Gleichwohl können in allen Bereichen psychotherapeutische Methoden zur Anwendung kommen, je nach Grundausbildung des Beraters.

Wichtig ist, dass der Berater, Coach oder Seelsorger seine Kompetenzen und Grenzen genau kennt, und wo nötig, Ratsuchende entsprechend weiterleitet.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Begriffe in der Praxis nicht so scharf abgegrenzt sind und je nach Fragestellung manchmal auch verschwimmen. Oft kommt ein Ratsuchender mit einem „Präsentierproblem“ in die Beratung. Bei näherer Betrachtung können dabei unterschiedliche Wurzeln zum Vorschein kommen, die unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Wichtig ist, dass der Berater, Coach oder Seelsorger seine Kompetenzen und Grenzen genau kennt, und wo nötig, Ratsuchende entsprechend weiterleitet. Dazu ist die Frage der „Wirkungsfaktoren“ in Beratungssettings entscheidend, was unlängst der Hirnforscher und Neurowissenschaftler Prof. Dr. Roth in einem Vortrag in Zürich noch einmal unterstrichen hat. Empathie und eine ermutigende, zugewandte Beziehungsgestaltung sind für einen nachhaltigen Beratungsprozess entscheidender, als die richtige Technik oder das richtige „Label“.

 

 

Lange Zeit standen Psychologie und Religion ja eher auf Kriegsfuß miteinander. Das ist zum Glück mittlerweile ja weitgehend anders. Wie kann Glaube denn konkret von der Psychologie und ihren Erkenntnissen profitieren?

Ich selber habe einerseits ein theologisches Studium absolviert und andererseits eine Individualpsychologische und Systemische Ausbildung genossen. Ich konnte sowohl von der Theologie als auch der Psychologie sehr profitieren. Gerade die Kombination fasziniert mich und hat mir geholfen, mich und meine eigenen „Knörze“ und Baustellen besser zu verstehen und versöhnter damit umzugehen.Das Wort „Psychologie“ bedeutet ja ursprünglich auch „Seelenkunde“ und ist abgeleitet vom altgriechischen Wort „psyché“, was Seele“ oder „Gemüt“ heißt. Insofern spricht die Bibel viel von der Psyche, also der Seele. Als anerkannte Wissenschaft ist die Psychologie noch relativ jung. Die Psychologie bietet aus meiner Sicht viele hilfreiche und konkrete Instrumente, um das, was sich in der Seele unbewusst abspielt zu erkennen, zu benennen und anders damit umzugehen.

 

 

Und was kann umgekehrt Psychologie vom Glauben lernen?

Aus meiner Erfahrung ist jeder Mensch auch ein suchendes Wesen. Hinter vielen unserer Lebensfragen steht letztendlich die Sehnsucht: „Wer liebt und akzeptiert mich bedingungslos so wie ich bin?“ Und auch: „Wo gehöre ich dazu, voraussetzungslos, ohne dass ich mir dies zuerst durch eine Leistung verdienen muss?“ Diese beiden Fragen kann die Psychologie nur bedingt beantworten.

„Wer liebt mich bedingungslos wie ich bin?“ und „Wo gehöre ich dazu?“ – diese beiden Fragen kann die Psychologie nur bedingt beantworten.

Beim Lesen verschiedener Bibelstellen wurde mir bewusst, dass Gott uns genau diese vollkommene Annahme, Liebe und Zugehörigkeit zukommen lassen will. Wir müssen dieser Akzeptanz nicht länger hinterherrennen, wir können sie uns schenken lassen. „Dich habe ich erwählt und nicht verstoßen“, heißt es in Jesaja 41,9. Dies ist eine der wesentlichsten Identitätszusagen, die Gott uns in der Bibel macht. Ob wir das bereits fühlen können oder nicht, es gilt: Sie und ich, wir sind keine Zufallsprodukte. Wir sind von höchster Stelle erwählt – von Gott selbst! – und vollkommen akzeptiert! Das definiert unsere wahre Identität.

 

 

Kann Selbstreflexion auch gefährlich werden?

Wenn das Ziel der Selbstreflexion nur der Selbstoptimierung dienen soll, dann sind wir auf dem Holzweg. Mit all unserem Reflektieren und Verändern können wir letztendlich nicht perfekt oder vollkommen werden. Wenn es aber darum geht, mich selber immer besser kennen- und verstehen zu lernen, mich mit mir selber und meiner Geschichte auszusöhnen und mich zu akzeptieren, so wie ich bin und nicht, wie ich sein sollte, dann führt Selbstreflexion auch in eine Gelassenheit und innere Freiheit. Ansonsten kommt man immer stärker ins Grübeln und dies ist nicht zieldienlich.

 

 

Der gute Wunsch, sich weiterentwickeln zu wollen – ob als Mensch, im Beruf oder auch als Jesus-Nachfolger –, kann aber auch kippen. Wie schafft man es, auf eine gute Art und Weise an der eigenen Entwicklung zu arbeiten und sich doch gleichzeitig auch so anzunehmen, wie man ist, und der heute überall und permanent geforderten Selbstoptimierung eine Absage zu erteilen?

Ich erinnere mich manchmal an den legendären Spruch von Papst Johannes XXIII., der zu sich selber sagte: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Wie gesagt: Sich weiterzuentwickeln und sein Potenzial zu entfalten, finde ich gut. Aber es geht auch darum, immer wieder barmherzig mit sich selber umzugehen und sich selber nicht so wichtig zu nehmen. Wie oft gehen wir hart mit uns selber ins Gericht, und klagen uns an, wenn wir mal wieder etwas verbockt haben: „Du blöde Kuh, du dummer Esel, wie konntest du nur!“ Aber solche Selbstverurteilungen sind nicht hilfreich. Sie führen zu mehr Druck und selbstanklagenden Schuldgefühlen. Der bekannte TheologeHenri Nouwen meinte gar, dass dies die größte Falle eines Christen sei: die Unzufriedenheit mit sich selbst! Im Lauf der Jahre ist er zur Erkenntnis gekommen, dass die größten Fallen in unserem Leben nicht der Erfolg, nicht die Berühmtheit und nicht die Macht sind, sondern die Verachtung seiner selbst. Sich immer wieder auch selbst zu vergeben, und sich in aller Unvollkommenheit anzunehmen – weil dies Jesus bereits getan hat –, das ist der Königsweg und lässt uns entspannen und aufatmen.

 

 

Herr Hickert, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

 

-> Lesen Sie hier die Besprechung von „Nur wer sich ändert, bleibt lebendig“.

 

 

 

CHRISTOPH HICKERT

ist Dipl. Coach & Supervisor BSO, psychologischer Lebens- und Laufbahnberater in eigener Beratungspraxis in Männedorf/Schweiz sowie Autor des Buches „Nur wer sich ändert, bleibt lebendig“ (SCM Hänssler).

 

www.beratung-coaching.ch

 

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