Winkend versuche ich meinem Mann anzuzeigen, wo ich bin. Ein schwieriges Unterfangen im Gedränge der Menschenmenge, die mich verschluckt und im Zeitlupentempo vorwärtsschiebt. Im Versuch, möglichst wenig Aufsehen zu erregen, kämpfe ich mich entschuldigend und winkend durch die Menschenmenge in seine Richtung. Endlich entdeckt er mich und kommt nun auch mir entgegen.

Auf dem Nachhauseweg muss ich noch kurz etwas erledigen. In einem Bürogebäude treffe ich im sonst menschenleeren Gang auf einen Bekannten. Ich mache mich bemerkbar und grüße ihn. Er nickt kurz und unbeteiligt, als ob ich eine Unbekannte wäre. Auf dem Weg nach Hause zerbreche ich mir den Kopf über diese seltsame Begegnung. Habe ich mich derart verändert, dass ich nicht mehr zu erkennen bin? Könnte es sein, dass ich ihn irgendwann verärgert habe und er daher bewusst so abweisend reagiert hat? Oder war er einfach in Gedanken vertieft? Ob wohl alles in Ordnung ist mit ihm?

 

Allein in der Wüste

Wenn wir uns von Menschen übersehen fühlen, ist dies schmerzhaft. Und schnell kann es geschehen, dass wir unser Erleben auf menschlicher Ebene auch auf unsere Gottesbeziehung übertragen. Gerade in Wüstenzeiten des Lebens, wenn wir die Orientierung verlieren und uns erdrückende Einsamkeit umfängt, drängt sich schnell einmal die Frage auf: Hat Gott mich wohl aus den Augen verloren? Verzweifelt versuche ich, ihn auf mich aufmerksam zu machen. Doch er scheint nicht darauf zu reagieren.

 

Wenn man in der Bibel liest, wird schnell deutlich, dass die Wüste ein bedeutsames Motiv ist. Erstaunlich viele Menschen, von denen die Bibel berichtet, haben Wüstenzeiten durchlebt. Angefangen mit Mose und dem Volk Israel, das vierzig Jahre lang in der Wüste im Kreis ging. Einige wählten diesen Zielort aus freien Stücken. Selbst Jesus begab sich einmal für vierzig Tage in die Wüste. Die junge, schwangere, ägyptische Sklavin Hagar war so verzweifelt, dass sie in die Wüste floh (1. Mose 16). Bloß weg aus ihrer demütigenden Lebenssituation! In der Wüste, mitten in ihrer Verzweiflung, begegnete ihr der lebendige Gott. Er sprach mit ihr und nahm ihre Not ernst. Berührt gab sie Gott einen Namen, der sonst nirgendwo in der Bibel zu finden ist: „El-Roi“, der Gott, der mich sieht (1. Mose 16,13).

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ – wie leicht geht uns das über die Lippen, wenn es uns gut geht und wunderbare Dinge in unserem Leben geschehen. Doch wie schwer und bitter werden diese Worte, wenn wir fast am Leben verzweifeln!

Gott hatte alles gesehen und gehört: Die Ungerechtigkeit, die Hagar widerfahren war, und ihr Jammern. Und er überließ sie nicht ihrem Schicksal und ihrer Einsamkeit. Am Tiefpunkt ihres Lebens war er da. Und sah. Selbst als sie davonlief, um sich vor ihrer Herrin und dem Rest der Welt zu verstecken, folgte er ihr. Durch seinen Engel fragte Gott sie, wieso sie davongelaufen sei. Er gab ihr ein Versprechen und erinnerte sie an ihre Bestimmung. Aus diesem Grund nannte Hagar ihn den Gott, der mich sieht!

 

Dies blieb allerdings nicht ihre einzige Wüstenerfahrung. Fünf Kapitel später – in 1. Mose 21,8–20 – lesen wir, dass Hagar und Ismael nach der Geburt von Isaak in die Wüste vertrieben wurden. Auf Initiative von Sarah – und Abraham ließ es zu. Und Gott auch. Eine schwierige Geschichte. Vieles daran ist unverständlich. Ismael war zu jenem Zeitpunkt ein Teenager, also mindestens 13 Jahre alt. Das Wasser reichte nicht lange und die Verzweiflung wuchs. Schließlich legte Hagar ihren Sohn unter einen Strauch und wandte sich weinend ab, weil sie nicht mitansehen konnte, wie er starb. Wo war er jetzt, der Gott, der sie sieht? Der Gott, der ihr Jahre vorher in derselben Wüste begegnet war? Doch dann zeigte er sich ihr erneut und sprach durch einen Engel zu ihr: „Hagar, ich habe dich nicht aus den Augen verloren. Ich bin da. Und ich habe noch viel vor mit dir und deinem Sohn. Ich werde ihn zu einem großen Volk machen.“ Der Engel lenkte Hagars Blick auf einen Brunnen. Ismaels und ihr Leben waren gerettet.

 

Gott verliert dich nicht aus den Augen

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ – wie leicht geht uns das über die Lippen, wenn es uns gutgeht und wunderbare Dinge in unserem Leben geschehen! Doch wie schwer und bitter werden diese Worte, wenn wir fast am Leben verzweifeln. Trotzdem hat diese Tatsache bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Genau dann, wenn es scheint, als hätte er uns vergessen, gilt: Gott sieht mich! Gott sieht dich!

 

Die Wüste ist kein Ort, an dem Gott dich bestrafen will oder dir seine Liebe entzieht, sondern wo er dir begegnen, dein Herz berühren und heilen möchte. In Hosea 2,16 sagt Gott im Blick auf sein untreues Volk, dass er es in die Wüste führen und freundlich mit ihm reden will. El-Roi, der Gott, der alles sieht, kennt deine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er wird dich nicht deiner Not überlassen, sondern rechtzeitig eingreifen, dich trösten, retten und dir eine neue Perspektive schenken.

Hoffnungsschimmer

Ganz ungewollt bin ich in der Wüste gestrandet. Ich fühle mich verletzlich, verwundbar und bin unsicher, ob Du – himmlischer Vater – mich tatsächlich noch im Blick hast. Bitte begegne mir auf eine so persönliche Weise, dass mein Herz erkennt, dass Du mich siehst.

Dr. Debora Sommer

Jahrgang 1974, ist Dozentin am Theologischen Seminar St. Chrischona, Referentin, Autorin und Menschenbegleiterin. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei jungen Erwachsenen und lebt in der Schweiz (www.deborasommer.com)

 

Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem neuesten Buch „Halt finden“, das im Verlag der Francke-Buch GmbH erscheint. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.

 

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