Hallo Junior,

was du im Lauf deiner Jahre alles gesammelt hast! Zeitweise warst du ein Paradebeispiel dafür, dass deine Vorfahren offenbar einmal Sammler und Jäger waren. „15 Uhr: Keller aufräumen.“ So stand es Anfang des Jahres in meinem Kalender. Ich selbst hatte es so eingetragen. Es wurde auch Zeit, nachdem ich die letzten vier Jahre schon immer daran gedacht hatte. Aber das war immer eher vage gewesen: „Ja, ich sollte wirklich bald mal …!“

 

Ich kam mir also ziemlich mutig vor, dass ich endlich (!) aus einer Idee eine Entscheidung gemacht hatte. Und dass aus der Entscheidung ein Termin geworden war. Ja, ich ahnte – nein, ich wusste! –, dass das eher unangenehm werden würde. Aber ich wollte der Notwendigkeit gehorchen und es angehen.

 

Aller Anfang ist schwer

„Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er da ankommt, wohin er nicht will“, erinnerte ich mich. Das hatte ich einst Hunderten von Seminarteilnehmern beigebracht, wenn wir über Ziele und Maßnahmen sprachen. Also los! Das Ziel war klar: Papier und Bücher müssen entsorgt werden.  Aber was soll ich wegwerfen? Was aufbewahren? Ich entschied mich für das Kriterium, das uns schon früher bei unseren zirka 16 Umzügen geholfen hatte: Alles, was wir in den letzten zwei bis drei Jahren – oder sogar noch länger – nicht mehr angefasst hatten, kommt weg.

 

In vier Stahlschränken und einem weiteren aus stabilem Holz hatten sich hunderte von Büchern angesammelt. Einer Gattung ging ich sofort an den Kragen: den Businessbüchern und der Managementliteratur. Die rund sechs Regalmeter Bücher gingen an unsere Tochter, die sie dann preiswert an eine junge Frau vertickte, die in einer Coaching-Ausbildung steckte. Andere Bücher gingen in das „Kostenlos“-Buchregal im Supermarkt um die Ecke. Oder in einen der beiden Second Hand-Läden am Ort. Die nehmen gern geschenkte Bücher und verkaufen sie dann wieder für 50 Cent pro Buch für ihren eigenen guten Zweck. Zwanzig Jahrgänge der Zeitschrift „Psychologie heute“ wanderten übrigens in die Papiertonne, nur die aktuelleren habe ich behalten.

 

Verlustangst weicht dem „Flow“ des Loslassens

Inzwischen sind die Flächen unserer drei Stahlschränke mit Hängeregistratur auch wieder frei. Wegschenken und Wegwerfen macht wirklich Spaß! Systematisch habe ich begonnen, ganze Dokumentationen zu verschiedenen Themen wegzuwerfen. Wissen veraltet ja so schnell! Also weg mit dem Alten, um Platz zu schaffen für das neue Wissen, das ich freilich nicht mehr auf Papier speichere. Meine Schränke werden leichter, die Papiertonnen vor dem Haus schwerer.

„Was mache ich hier eigentlich?“, frage ich mich zwischendurch. Und ich entdecke, dass ich eigentlich nicht den Keller aufräume, sondern mein Leben.

„Als die ausrangierten Möbel vom Sperrmüll abgeholt wurden, fühlte ich mich richtig erleichtert.“ Das sagte ein Freund einmal vor paar Jahren über seine eigene Räumungsaktion aus Keller und Speicher. Ich konnte es ihm nachfühlen. Jetzt erlebe ich es, wieder einmal. Bei jedem unserer Umzüge haben wir das so gemacht: Alles, was nicht an den neuen Ort mit sollte, kam in die Garage. Dort konnte sich jeder holen, was er brauchte. Der Rest kam auf den Müll. So mache ich es auch jetzt wieder.

 

Gedanken und Gefühle

Bei jedem Buch, bei jedem Material, das ich in die Hand nehme, poppen die Gedanken und Gefühle wieder hoch, die mit dem Erwerb oder dem Einsatz des Materials in Seminar und Coaching verbunden waren. Ich werde erinnert an Erfolge im Seminar, wenn Leute begeistert mitgegangen sind, aber auch an Flops. Nicht immer ging die Planung auf. Nicht immer haben alle Teilnehmer das Potenzial erfasst, das mit der einen oder anderen Methode einherging.

 

„Was mache ich hier eigentlich?“, frage ich mich zwischendurch. Und ich entdecke, dass ich eigentlich nicht den Keller aufräume, sondern mein Leben. Ich setze einen Perspektivwechsel um: Ich blicke nach vorn. Ich sehe es vor mir, wie es in wenigen Wochen sein wird, wenn alles Unwichtige ausgeräumt ist. Nicht nur die Gänge im Keller werden frei sein. Auch mein Kopf wird freier mit jedem Stück, das entsorgt wird. Eine schöne Nebenwirkung, die mich auch in den kommenden Monaten begleiten wird.

Werfe ich mein Leben weg, wenn ich das entsorge, was einmal hilfreich und wertvoll war? Keinesfalls. Ich schaffe nur Platz für Neues, das auf seine Weise in der Gegenwart und Zukunft hilfreich und wertvoll sein wird.

 

Einfacher leben ist nicht einfach

Irgendwie sind wir Menschen paradoxe und komische Wesen. Wir wissen zum Beispiel, dass wir Bücher abbauen sollten, die wir (hoffentlich) gelesen haben. In dem Film „Walk the Line“ trifft Johnny Cash seine spätere Frau June. Sie ist als Sängerin ebenfalls auf Tournee. Sie begegnen sich, während sie gerade im Hotel ihren Koffer auspackt. Dabei greift sie auch nach ein, zwei Büchern: „Kennst du die? Ich habe sie schon gelesen. Ich schenke sie dir, wenn du willst!“ Johnny nahm sie. Loslassen ist so einfach. Aber was machen wir meistens, bevor wir eigene Bücher weitergeben? Wir kaufen ein neues!

Je mehr wir uns an der Vergangenheit festhalten, an ihren Erfolgen und Niederlagen, desto weniger haben wir einen offenen Blick für die Möglichkeiten von Morgen.

Die „Simplify your life“-Bewegung hat Bücher und Newsletter produziert. Die meisten Tipps sind nichts anderes als gesunder Menschenverstand, der auf ein ganz normales Problem angewandt wird. Das Problem analysieren, die Ursache herausfinden – und beseitigen! So einfach ist das.

 

Je mehr wir uns an der Vergangenheit festhalten, an ihren Erfolgen und Niederlagen, desto weniger haben wir einen offenen Blick für die Möglichkeiten von Morgen. Seitdem ich mir das neu bewusst gemacht habe, ist Wegwerfen und Ausmisten ein Adrenalin freisetzender Sport für mich geworden.

 

Vorurteile und Fehlurteile entsorgen

Beim Aufräumen und Entsorgen kann ich wunderbar weiterdenken. Warum nicht gleich ein paar alte Denkweisen, die nicht mehr effektiv sind, mit entsorgen? Bei Jesus habe ich gelernt, dass nur ein durch Heiligen Geist erneuertes Herz auch neu denken kann. Der auf den eigenen Vorteil bedachte Egoismus wird dann entsorgt und durch einen offenen Blick auf die Bedürfnisse der anderen ersetzt. Das macht tatsächlich glücklich! „Lasst euch von Gott durch Veränderung eurer Denkweise in neue Menschen verwandeln. Dann werdet ihr wissen, was Gott von euch will: es ist das, was gut ist und ihn freut und seinem Willen vollkommen entspricht“, lese ich in der Bibel in einem Brief von Paulus (Römer 12,2). „Okay, Paulus, ich lerne. Es darf nicht beim Entsorgen alter Papiere bleiben. Ich muss neues Denken lernen, jeden Tag ein bisschen mehr.“

 

Mit leichtem Gepäck reisen

Im Hapag-Lloyd-Passagierdienst war ich einige Zeit verantwortlich für die Buchung von Kabinen auf Frachtschiffen im Dienst nach Australien. Etwa acht Wochen dauerte damals eine solche Reise. Auch „Einschiffungen“ gehörten zu meiner Aufgabe, also die Begrüßung der gebuchten Gäste am Liegeplatz des Frachters unmittelbar vor der Abreise.

 

Eines Tages kam eine kleine alte Dame zum Schiff. Sie wirkte zierlich, zerbrechlich, aber irgendwie auch topfit. Sie hatte wache Augen, die mich fröhlich anfunkelten. Sie kam mit einem aus meiner Sicht viel zu kleinen Koffer, den sie selbst trug. Eine Umhängetasche auf der Schulter, ein kleiner Kosmetikkoffer, ein Schirm, ein Mantel – das war alles, was sie sonst noch bei sich hatte. „Gnädige Frau, wo ist Ihr Gepäck?“ fragte ich sie. „Das Schiff wird in einer Stunde ablegen.“

 

„Mehr brauche ich nicht,“ antworte sie verschmitzt. „Ich reise gern mit leichtem Gepäck, das ich ohne die Hilfe anderer selbst kontrollieren kann.“ Ich brachte sie in ihre Kabine. Ich habe sie nie wiedergesehen. Aber ihr Satz „Ich reise gern mit leichtem Gepäck“ begleitet mich bis heute.

 

Junior, als Junge hast du Freude am Sammeln gehabt: Steine, Stöckchen, Baumblätter, alte Schrauben, Sticker, Aufkleber, Wiking-Autos und so weiter. Später wurden die Sammelobjekte – Bücher, Kameras, Objektive – teurer. Heute als Senior habe ich Freude am Wegwerfen, Wegschenken, Ausmisten, Aufräumen. Schließlich will ich die letzte Wegstrecke mit leichtem Gepäck reisen.

 

Dein entlasteter Senior

Heinz-Martin Adler

verheiratet mit Margret, Vater, Großvater und Urgroßvater, war Verlagsmitarbeiter, Geschäftsführer, Trainer und Erwachsenenbildner und befindet sich heute im aktiven Unruhestand. 

 

E-Mail: hmadler@t-online.de

 

 

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