„Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ (Psalm 103,9). – Als Christen werden wir aufgefordert, genau darauf unsere ganze Hoffnung zu setzen. So heißt es im ersten Brief des Apostels Petrus: „Setzt eure ganze Hoffnung auf die Gnade, die euch bei der Wiederkehr von Jesus Christus erwartet“ (1. Petrus 1,13). Das allerdings ist gar nicht so einfach, wie es zunächst vielleicht klingen mag, denn die Gnade lässt sich nun mal nicht verdienen und auch nicht kontrollieren. Das ist für uns als Menschen der Postmoderne, die sich vornehmlich durch die eigene Leistung definieren, nur schwer zu ertragen. Besser fänden wir es, wenn wir uns unser Heil selbst erarbeiten könnten – und Gott dann nur noch einen Gnadenbonus oben draufsetzen würde.

 

Ein weiteres Problem mit der uns im Evangelium zugesprochenen Gnade ist, dass sie so schlecht greifbar ist. Wir haben doch alle viel lieber schwarze Zahlen auf unserem Kontoauszug als das vage Versprechen unserer Bank, dass sie unsere roten Zahlen am Ende ausgleichen wird (wobei Gottes Versprechen keinesfalls vage ist, aber wir müssen ihm vertrauen). Der Volksmund sagt: „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“. Diese Haltung gibt es auch im geistlichen Leben. So war es schon für das Volk Israel nicht zu ertragen, dass es so lange am Fuß des Berges Sinai warten sollte, bis der Anführer Mose mit den Weisungen Gottes zu ihm zurückkam. Die Israeliten sehnten sich nach einem Gott zum Anfassen. Darum forderten sie von Moses Stellvertreter Aaron: „Auf! Mach uns einen Gott, der uns führt!“

Lieber projizieren wir all unsere Hoffnungen auf eine geistliche Persönlichkeit, als uns an einen unsichtbaren Gott zu wenden und auf seine Barmherzigkeit zu vertrauen.

Bis heute hat sich an diesem Wunsch nichts geändert. Wir sehnen uns nach einem Gott zum Anfassen, wir brauchen etwas, was wir sehen und spüren können, etwas, das sich nicht ständig unserer Kontrolle entzieht. Darum gibt es in der christlichen Kultur ebenso einen Starkult wie in der Popkultur: Lieber projizieren wir all unsere Hoffnungen und Sehnsüchte auf eine gerade angesagte geistliche Persönlichkeit, als uns an einen unsichtbaren Gott zu wenden und auf seine Barmherzigkeit zu vertrauen. Wir haben ebenso wie das Volk Israel unsere goldenen Kälber, angefangen bei beliebten Star-Geistlichen bis hin zu fundamentalistischen Sonderlehren, die lediglich dem Zweck dienen, uns das Vertrauen zu ersparen. Wir wollen den Schöpfer des Universums in eine Form gießen und für uns verfügbar machen!

 

 

Vermeintliche Sicherheiten

Folgende Erzählung verdeutlicht sehr schön, wie unser Sicherheitsbedürfnis das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit verhindert: Während einer Wanderung in den Bergen rutscht ein Mann aus, schlittert den steilen Abhang hinunter und kann sich gerade noch an einem Ast festhalten, bevor er in eine fünfzig Meter tiefe Schlucht stürzt. So hängt er nun an diesem Ast – unter sich den sicheren Tod – und ruft verzweifelt um Hilfe. Als seine Kräfte schwinden und er bereits jede Hoffnung aufgegeben hat, hört er von oben die Stimme Gottes, die ihm sagt: „Ich bin für dich da und werde dich retten. Lass einfach den Ast los, damit ich dich auffangen kann!“ Es vergehen einige Sekunden der Stille. Dann hört man den Wanderer erneut rufen: „Ist da oben vielleicht sonst noch jemand?“

 

Den meisten Menschen fällt es unendlich schwer, ihre vermeintlichen Sicherheiten loszulassen. Das aber ist nötig, um sich in die liebenden Arme Gottes fallen lassen zu können und auf seine Barmherzigkeit zu vertrauen. Viele Menschen bleiben lieber an ihren Ästen hängen – das gilt auch für Christen mit ihren frommen Ästen: Lieber bauen sie auf ihre sichtbare tadellose Frömmigkeit, als einer unsichtbaren Gnade zu vertrauen; lieber klammern sie sich an die angebliche Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift in all ihren Aussagen, als den nicht kontrollierbaren Zusagen Gottes in eben dieser Schrift zu vertrauen; lieber stecken sie Gott in die Schubladen ihres Verstandes und schreiben ihm vor, wie er wann zu handeln hat, als mit einem Gott zu leben, der sich ihrer Kontrolle entzieht.

 

Der Mensch gibt nicht gerne die Kontrolle ab – das gilt für Glaubende genauso wie für jeden anderen auch. Wir sind es gewohnt, zu haben und zu halten. Eben darum ist der Tod unser größter Feind, den es so lange wie möglich zu verdrängen gilt, denn wenn es ans Sterben geht, werden wir alles loslassen müssen. Dann bleibt uns nichts, absolut nichts mehr, woran wir uns hier auf der Erde noch festklammern könnten.

 

Wer auf Barmherzigkeit angewiesen ist, der muss loslassen. Weder kann er sich seinen Nächsten aussuchen, der ihm hilft, noch hat er eine Garantie dafür, nicht in die falschen Hände zu geraten. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu vertrauen. Aber auch der, der Barmherzigkeit übt, muss lernen, zu vertrauen. Weder kann er sich sicher sein, selbst dabei keinen Schaden zu nehmen, noch hat er eine Garantie, dass sein barmherziges Eingreifen zum gewünschten Erfolg führt.

 

Barmherzigkeit ist also immer ein Risiko – sowohl für den, der sie in Anspruch nimmt, als auch für den, der sie ausübt. Doch Jesus versichert uns: „Wer versucht, sein Leben zu retten, wird es verlieren. Aber wer sein Leben für mich aufgibt, wird es retten. Was nützt es, die ganze Welt zu gewinnen, aber dabei an der eigenen Seele Schaden zu nehmen oder sie zu verlieren?“ (Lukas 9,24+25)

 

 

Nichts für Kontrollfreaks

Zu den häufigsten Barmherzigkeitsbremsen gehören

 

die Angst, ausgenutzt zu werden,

die Angst, überfordert zu sein,

die Angst, sich selbst (kultisch) zu verunreinigen,

die Angst, Gott ins Handwerk zu pfuschen

sowie die Angst vor falscher Milde und mangelnder Gerechtigkeit.

 

Gerne würde ich hier schreiben: „Alle diese Ängste sind komplett unbegründet!“, aber das kann ich nicht, denn sie sind vollkommen berechtigt. Wer barmherzig handelt, dem kann es durchaus passieren, dass er ausgenutzt wird oder in Situationen kommt, die ihn überfordern. Wer sich für andere einsetzt, der steht immer in der Gefahr, sich co-abhängig zu machen und damit Teil eines Systems zu werden, das er doch eigentlich beseitigen wollte. Wer mit anderen Menschen mitleidet, der kommt in die Versuchung, ihnen schmerzvolle Konsequenzen zu ersparen, die für ihre umfassende Heilung notwendig wären. Das alles ist möglich, denn Barmherzigkeit ist immer ein Risiko. Das aber bedeutet: Wer erst dann Barmherzigkeit übt, wenn er zuvor eine hundertprozentige Garantie hat, dass dabei nichts schiefgehen kann, der wird niemals barmherzig werden! Insofern haben es ausgesprochene Kontrollfreaks besonders schwer, barmherzige Menschen zu werden.

 

Barmherzigkeit ist immer ein Risiko – sowohl für den, der sie in Anspruch nimmt, als auch für den, der sie ausübt.

Ich schreibe das aus eigener Erfahrung, denn ich selbst war über viele Jahre ein solcher Kontrollfreak. Aufgrund meiner abhängigen Persönlichkeitsstruktur sowie meiner Zwangserkrankung habe ich meine ganze Energie dafür aufgewendet, jedes einzelne Wort und jede noch so kleine Geste von mir zu kontrollieren, damit ich auf gar keinen Fall in irgendein Fettnäpfchen trete und jemanden verletze. Neue Situationen machten mir Angst, die Begegnung mit einzelnen Menschen machte mir Angst, mein mögliches Versagen machte mir Angst – und wenn es ganz schlimm wurde, dann machte mir jeder neue Tag Angst; dann schlief ich mit dieser Angst spät in der Nacht ein und wachte früh am Morgen wieder mit ihr auf.

 

Doch je mehr ich mein Leben kontrollieren wollte, umso mehr glitt es mir aus den Händen. Durch einige schwere Krisen hindurch bin ich letztlich zu der befreienden Erkenntnis gekommen, dass ich die wichtigsten Dinge im Leben nicht in der Hand habe. Sie entziehen sich meiner Kontrolle. Also habe ich kapituliert – und zwar nicht allein aufgrund meiner Suchterkrankung, sondern auch weit darüber hinaus in Bezug auf meinen Wunsch, mein Leben abzusichern.

 

Bei den Anonymen Alkoholikern lautet der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zur Heilung: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ Und ich werde nicht müde, zu betonen: Eine solche Kapitulation ist das Fundament eines gesunden Christseins. Menschen, die auf Jesus Christus vertrauen, bekennen: „Wir gaben zu, dass wir der Sünde gegenüber machtlos sind – und unser Heil nicht mehr meistern konnten.“ Überall dort, wo eine solche Kapitulation noch nicht wirklich vollzogen wurde, besteht die Gefahr, dass es zu einem angstbesetzten Christsein kommt, welches sich krampfhaft an vermeintliche Sicherheiten klammert.

 

 

No risk, no mercy

„No risk, no fun“ – kein Risiko, kein Spaß – sagen wir, um deutlich zu machen, dass unser ständiges Streben nach Sicherheit zu einem stinklangweiligen Leben führt. Im geistlichen Bereich führt dieses Sicherheitsbedürfnis zu einem selbstgerechten Kontroll-Christentum, bei dem Gott in die Schubladen des Verstandes passt, die Rätsel der Welt gelöst sind und die Menschen in „drinnen oder draußen“ eingeteilt werden. Für Barmherzigkeit bleibt da kein Platz mehr: „No risk, no mercy“.

 

Wenn Gott uns zu barmherzigen Menschen machen will, dann kann es daher durchaus sein, dass er uns in Krisensituationen geraten lässt, in denen die Äste, an denen wir uns festklammern, nicht mehr ausreichen. Dann mutet er uns das Risiko zu, loszulassen und in seine barmherzigen Arme zu fallen.

 

Wer das einmal erlebt hat, geht verändert daraus hervor. Er ist nicht länger in der Lage, andere Menschen für ihr Scheitern und Straucheln zu verurteilen, sondern fühlt mit ihnen mit. Anstatt andere zu richten, fängt er an, sich über sie zu erbarmen. Weil er fühlt, was er sieht. Und wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann.

 

 

 

(Der Artikel ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus Volker Halfmanns aktuellem Buch „Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann“  (SCM R. Brockhaus).

 

Volker Halfmann

verheiratet, drei Kinder, ist Pastor, Buchautor und Suchtberater beim Blauen Kreuz. Vor kurzem ist sein neuestes Buch „Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann“ erschienen (SCM R. Brockhaus).

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