MINDO: Herr Halfmann, von außen betrachtet sind Sie Pastor, Suchtberater, Ehemann und Vater. Aber es gibt noch eine andere Seite, die niemand sieht: Bereits seit Ihrer Kindheit leiden Sie an einer Zwangsstörung und waren dazu viele Jahre lang alkohol- und tablettensüchtig. Vor kurzem haben Sie Ihre Geschichte veröffentlicht. Wie sind die Reaktionen auf so viel Ehrlichkeit?

 

VOLKER HALFMANN: Die Reaktionen sind durchweg positiv, und zwar insofern, als dass Menschen es immer wieder als immense Erleichterung empfinden, dass es da jemanden gibt, der das Versteckspiel aufgibt. Oft sagen sie mir: „Ich bin dir so dankbar, weil es mir auch oft so geht!“ Negatives Feedback habe ich persönlich zum Glück noch nicht bekommen – wobei ich vermute, dass diejenigen, die sich an meiner Geschichte stoßen, sich vielleicht auch nicht trauen, es mir ins Gesicht zu sagen.

 

 

MINDO: Wenn vor fünfzehn Jahren jemand gefragt hätte: „Wer ist Volker Halfmann?“ – was hätten Sie geantwortet?

 

HALFMANN: Vielleicht hätte ich das getan, was fast alle in unserem Kulturkreis tun – ich hätte mich über den Beruf definiert und gesagt: „Ich bin Pastor.“ Aber wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich sagen müssen: „Ehrlich gesagt, weiß ich es mittlerweile selber nicht mehr! Ich bin so vielen Alles gewesen, dass ich gar nicht mehr sagen kann, wer der echte Volker hinter all diesen Rollen ist.“ Und in der krisenhaftesten Zeit hätte ich vermutlich sogar geantwortet: „Ich bin ein Nichts!“, denn mein Selbstwert war über die Jahre auf dem absoluten Nullpunkt angekommen.

 

 

Und was antworten Sie heute?

 

HALFMANN: Heute definiere ich mich nicht mehr so sehr durch das, was ich leiste, sondern dadurch, dass ich Gottes geliebtes Kind bin. Ich vertraue darauf, dass ich gewollt bin, geliebt bin, getragen bin. Und erst danach bin ich alles andere: Ehemann und Vater und Pastor und auch ein bisschen chaotisch. Dieses Fundament will ich nicht aus den Augen und dem Herzen verlieren, denn sonst laufe ich nur wieder herum, um mir irgendwo meine Anerkennung zu holen. Und das ist ungesund.

 

 

Sie beschreiben Ihr heutiges Leben mit dem Bild einer zerbrochenen Schüssel, die aber wieder ganz kunstvoll in der Kintsugi-Technik zusammengesetzt wurde, um nun nur umso schöner zu erstrahlen. Was verändert das Erfahren von Leid und Grenzen in einem Menschen?

 

HALFMANN: Das kann man sicher nicht verallgemeinern, aber subjektiv würde ich sagen, dass aus meinem Leid Erfahrungen resultierten, die zum Wertvollsten meines Lebens wurden. Die Erfahrung der Machtlosigkeit, das Wissen „Ich bin hier mit meinem Latein an Ende!“, ist an sich nicht wünschenswert. Wenn aber daraus erwächst, dass ich mich loslassen kann und sagen kann: „Ich schaffe es nicht – Gott, mach du!“, dann führt ein solcher Zerbruch in ein, sagen wir, heilsames Angewiesensein.

Subjektiv würde ich sagen, dass aus meinem Leid Erfahrungen resultierten, die zum Wertvollsten meines Lebens wurden.

Die Erfahrung zu machen, dass wir wohl doch nicht die ach-so-tollen Meister unseres Lebens sind, macht uns barmherziger mit uns selbst und auch mit anderen. In diesem Sinne würden wahrscheinlich die meisten Menschen bestätigen, dass sie zwar auf Krisen und schwere Zeiten nie scharf waren, aber wenn es so etwas wie Wachstumszeiten in ihrem Leben gab, dann waren es diese.

 

 

Haben psychisch erkrankte Menschen unserer Gesellschaft etwas zu geben?

 

HALFMANN: Auf jeden Fall! Psychisch erkrankte Menschen tippen die wunden Stellen unserer Gesellschaft an und halten ihr einen Spiegel vor – einer Gesellschaft, die alles plant und in der alles möglichst glattlaufen soll: „Hier, schaut hin! Wir sind die, die damit nicht mehr zurechtkommen!“ Natürlich guckt man da nicht so gern hin, dabei ist das so wichtig. Zugleich aber kann und darf man psychisch erkrankte Menschen nie allein auf ihre Krankheit reduzieren. Denn sie haben aus ihrer meist hohen Sensibilität heraus, die für die Erkrankung nicht selten mit verantwortlich ist, viel zu geben.

 

 Gehen seit vielen Jahren gemeinsam durch dick und dünn: Claudia und Volker Halfmann.

Gehen seit vielen Jahren gemeinsam durch dick und dünn: Claudia und Volker Halfmann.

 

 

Und wie sieht es mit der Akzeptanz seitens der christlichen Gemeinde aus?

 

HALFMANN: Hier herrscht – wie in der Gesellschaft generell – leider immer noch eine recht große Unkenntnis über psychische Erkrankungen, seien es nun Depressionen, Ängste oder Zwangserkrankungen oder was auch immer. Und wie überall gibt es auch hier eine Befangenheit im Umgang mit den Betroffenen. Problematisch wird das jedoch erst dann, wenn eine psychische Erkrankung auf eine ungute Weise moralisiert wird und Druck aufgebaut wird nach dem Motto: „Wenn du richtig glauben würdest, dann hättest du das nicht!“ Denn dadurch bekommt der Mensch über das Leid seiner Erkrankung hinaus zusätzlich eine geistliche Last auferlegt.

Natürlich gibt es das auch bei körperlichen Krankheiten, dass man den Betroffenen sagt, dass Gott ihnen auf diesem Weg etwas zeigen will. Aber bei psychischen Erkrankungen scheint mir die Annahme, die Krankheit sei irgendwie auch mit einer persönlichen Schuld verquickt, noch verbreiteter zu sein. Und richtig schlimm ist es bei Suchterkrankungen, weil denen zusätzlich immer noch das Stigma des moralischen Versagens anhaftet.

Es gibt zahlreiche Bibelstellen, die diese ganze „Lebste gut und glaubste gut, dann geht’s dir auch gut“-Nummer ad absurdum führen.

Was entgegnen Sie jemandem, der Ihnen sagt, dass Jesus Sie heilen würde, wenn Sie nur wirklich wollten?

 

HALFMANN: Dieser Person würde ich sagen, dass es sowohl bei körperlichen als auch bei psychischen Erkrankungen kein verbrieftes Recht auf Heilung gibt, auch wenn Gott vieles tun kann und auch ich Situationen erlebt habe, wo er heilend eingegriffen hat. Aber so lange noch nicht Himmel ist, schreien wir und mit uns die ganze Schöpfung nach der Vollendung der Erlösung – allem voran der unseres Körpers, wie es in Römer 8,23 heißt. Und da sind wir eben noch nicht. Es gibt zahlreiche Stellen in der Bibel, die diese ganze „Lebste gut und glaubste gut, dann geht’s dir auch gut“-Nummer ad absurdum führen.

 

 

Welche Rolle spielte in Ihrem Gesundungsprozess zum einen Therapie und zum anderen die Seelsorge?

 

HALFMANN: Medizin und Therapie sind in Bezug auf psychische Erkrankungen ja mittlerweile sehr weit, und das ist wunderbar! In meinem Fall – also bei einer Zwangsstörung – braucht es eine kognitive Verhaltenstherapie, um nachhaltig ein anderes Verhalten einzuüben. Und vielleicht braucht es auch zusätzlich einen tiefenpsychologischen Ansatz, um das, was vielleicht hinter den Zwängen steckt, zu enttarnen, denn nur dann kann man anders in die Zukunft gehen. All das schafft man in der Regel nicht ohne ärztliche Hilfe.

Aber neben all dem werden natürlich immer auch geistliche Fragen berührt. Vor allem, wenn jemand schon in einer Gottesbeziehung steht, denn da gerät Vieles ins Wanken. Es türmen sich Fragen auf wie „Was soll das überhaupt?“, „Ich habe so viel gebetet, warum passiert nichts?“, „Sieht Gott mich überhaupt?“ und so weiter. Ganz oft kommen in einem solchen Prozess dann auch völlig verquere Gottesbilder ans Licht. All das gehört in die christliche Seelsorge. Fragen nach dem Sinn beantworten und einen Halt im Leben bieten kann die Psychotherapie nämlich nicht.

 

 

Inwiefern hat sich der Blick auf Psychologie und Therapie in christlichen Kreisen in den letzten Jahren verändert?

 

Halfmann: Noch vor 30 Jahren war bei vielen Christen alles, was aus dem Bereich der Psychologie und Psychotherapie kam, völlig verpönt. Man konnte sich gar nicht öffnen für Erkenntnisse aus diesem Bereich. Mittlerweile hat sich das sicher verändert, ich schätze jedoch vor allem deshalb, weil man wahrscheinlich keine Gemeinde mehr antrifft, in der nicht irgendjemand an einer Depression oder Angststörung oder sonstigem leidet und vielleicht sogar in einer Klinik war. Man kann der Thematik schlichtweg nicht länger ausweichen. Wirklich durch damit sind wir vielerorts aber sicher dennoch nicht.

 

 

Heute geht es Ihnen wieder gut und auch Ihr Glaube hat wieder Boden unter den Füßen. Eigentlich schön, und doch sagen Sie: „Das Schlimmste, was mir passieren kann ist, dass jemand sagt: ,Schaut mal, der hat es gepackt!‘“ Warum sollte das schlimm sein?

 

HALFMANN: Ich kann mit solchen Schwarz-Weiß-Kategorien nicht gut, weil ich glaube, dass das Leben das in den allermeisten Fällen so nicht hergibt – vorher alles dunkel und dann alles hell und perfekt! Natürlich wünscht man sich das, aber das hat eher mit Projektion als mit der Realität zu tun. Man will jemanden sehen, der mit nichts mehr Probleme hat. Deshalb erträgt man auch kaum einen Hollywoodfilm, der kein Happy-End hat.

Ich verstehe, dass viele sehen wollen: „Der hat es gepackt!“ Weil sie sich dann dem Glauben hingeben könnten, dass es ein heiles Leben gibt.

Dazu kommt, dass ich mich nicht in eine Rolle begeben will, in der ich Gefahr laufe, dass alle bestürzt sind, sollte ich einen Rückfall erleiden. Ich brauche es, in diesem Zustand des Angewiesenseins auf Gott zu bleiben, ich brauche es, dass Gott mich rauszieht, wo ich hinfalle, denn die Risse meines Lebens bleiben ja nun mal bestehen. Natürlich geht es mir heute viel besser, Gott sei Dank! Aber ich würde ein falsches Bild zeichnen, wenn ich so täte, als läge das alles völlig hinter mir. Ich verstehe, dass viele sehen wollen: „Der hat es gepackt!“ Weil sie sich dann dem Glauben hingeben könnten, dass es ein heiles Leben gibt. Aber dieses Wunschkino gibt es nicht! Was es aber auf jeden Fall gibt, ist ein Leben, in dem ich wieder aufstehen darf, in dem ich von Gott aufgerichtet werde und wo ich mich an ihm festhalten darf.

 

 

Wie kann denn die christliche Gemeinde verstärkt zu einem Ort werden, an dem Menschen, die durch körperliches, aber auch psychisches Leid gehen, sicher sind?

 

HALFMANN: Ich denke, das müssen wir in kleinen Schritten angehen. In meiner Gemeinde hatten wir neulich das Thema „Ehrlichkeit riskieren“, und ich habe gesagt: „Leute, wir könnten ja mal damit anfangen, wenigstens kleine Löcher in die Fassaden zu schneiden. Wir müssen ja nicht gleich alles runterlassen!“

Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr merken, dass die christliche Gemeinde nichts weiter ist, als der Club der Gestrandeten – auch, wenn viele sich selber nicht so sehen. Eigentlich sind wir eine riesige Selbsthilfegruppe, eine Gemeinschaft von mehr oder weniger kranken Menschen, die es alleine nicht gebacken kriegen, aber die Jesus berufen hat. Wenn dieses Denken wieder Schule macht, dann kommt auch wieder mehr Gnade in die Gemeinden.

Ich kann nur immer wieder über den Galaterbrief staunen, der beschreibt, wie eine Gemeinde in der Gnade anfängt und in der Gesetzlichkeit endet. Und wie der Apostel Paulus mit allen Worten, die ihm zur Verfügung stehen, den Menschen klarzumachen versucht: „Hey, wenn ihr euch darauf einlasst, ist das euer Tod!“ Aber da sind wir ja alle immer wieder so schnell: Da kriecht das Leistungsstreben in die Herzen, denn wir alle wissen, wie wir eigentlich sein sollten, und die Latte liegt so hoch! Dass aber das Scheitern von Gott längst einkalkuliert ist und wir sonst den Karfreitag gar nicht bräuchten, das geht oft unter.

All das rüberzubringen, ist sicher zum einen eine Frage der Verkündigung, aber mehr noch eine Frage von Menschen, die versuchen, transparent zu leben. Die sich nicht verstecken, sondern ehrlich sagen: „Also, die letzte Woche war bei mir jetzt nicht so der Brüller …“

 

 

Und zuletzt: Was möchten Sie Christen, die psychisch erkrankt sind, als Ermutigung mitgeben?

 

HALFMANN: „Schämt euch nicht!“ und „Ihr seid nicht allein!“ Ich dachte immer, ich sei der Einzige mit einer solchen Erkrankung. Doch ihr ahnt nicht, wie vielen es so geht! Und auch: „Gott ist da!“ Das sage ich nicht nur so daher, sondern ich habe ganz oft erfahren, dass es stimmt, was in Psalm 23 steht: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir!“ Das glaube ich. Gott ist denen nahe, die fertig sind.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

 

WEITER: → Lesen Sie hier die Rezension zu Volker Halfmanns Buch „Mein goldener Sprung in der Schüssel“

VOLKER HALFMANN

verheiratet, drei Kinder, ist Pastor in Karlstadt und Suchtberater in der Psychosozialen Suchtberatungsstelle des Blauen Kreuzes. Die Geschichte seiner Erkrankung hat er in seinem Buch „Mein goldener Sprung in der Schüssel“ aufgeschrieben (SCM R. Brockhaus). Er bloggt unter www.schwereloswerden.de

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