MINDO: Frau Wendel, unser Leben wird immer schneller, zumindest fühlt es sich so an. Ist es nur voller geworden – oder oft schon zu voll?
KERSTIN WENDEL: Ich glaube, dass es tatsächlich bei vielen zu voll ist. Das merke ich an einer gewissen Hetze und an Überlastungssymptomen, die Menschen zeigen oder über die sie sprechen. Manche Menschen signalisieren: „Stoßzeiten würde ich ja überstehen – aber plötzlich besteht das Leben nur noch aus Stoßzeiten!“ Das bringt auch unsere Leistungsgesellschaft mit sich: Viele versuchen, die diversen Spielbälle – Beruf, Familie, Ehrenamt, Privates – hochzuhalten, aber das ist mit einem 40-Stunden-Job oft schwierig. Eine Ausnahme ist ein Freund von mir, der bewusst nur 30 Stunden arbeitet. Den erlebe ich nie im Zuviel-Modus.
Ein weiterer Aspekt ist die sogenannte „Fear Of Missing Out“, also die Angst, etwas zu verpassen. Als meine Oma noch lebte, las sie „Das Goldene Blatt.“ Das war ihr Blick in eine andere, beeindruckende Welt, aber es war klar: Diese Welt ist ganz weit weg! Die heutige digitale Welt lässt uns zusammenrücken. Ich kann in viele Welten springen. Da kommt schnell das Gefühl auf, die anderen hätten ein besseres Leben – und das müsste ich auch haben. Wir katapultieren uns also leider oft selbst in ein Zuviel hinein. Aber dürfen lernen, das auch wieder zu ändern.
Keine Angst vor leeren Räumen
Sie haben ein Buch zum Thema „Weniger“ geschrieben. Darin erzählen Sie von einem Urlaub in einer minimalistisch eingerichteten Ferienwohnung und davon, dass man die Leere besonders schätzt, wenn das Leben sehr voll ist. Wie ist das gemeint?
WENDEL: Ich merke, dass es mir guttut, wenn ich in leeren Räumen bin. Damit meine ich richtige Räume, aber auch aufgeräumte Schreibtische, freie Zeit, einen leeren Kalender etc. Die Leere gibt mir das Gefühl, dass hier etwas beginnen kann.
Die heutige digitale Welt lässt uns zusammenrücken. Da kommt schnell das Gefühl auf, die anderen hätten ein besseres Leben.
Mein Mann und ich haben vor Längerem mit „leeren Wochenenden“ angefangen, weil wir eben auch volle Wochenenden kennen. Das erste Mal ging ich da etwas beklommen rein: Können wir das aushalten? Wird es eine positive Erfahrung oder gibt es Frust, Langeweile, Einsamkeit, Schmerz? Denn gerade die schmerzhaften Dinge melden sich in der Regel, wenn es leere Räume gibt. Aber siehe da: Es fühlte sich gut an!
Und doch ist der Begriff ist für viele eher negativ belegt, er wird oft mit Verzicht verbunden. Sie hingegen sagen, dass es ein Türöffner zu etwas sehr Gutem sein kann. Wie könnte das aussehen?
WENDEL: Zum einen kann eine tiefe Zufriedenheit entstehen, wenn ich etwas streiche. Ich blicke zurück auf den Tag oder eine Entscheidung und kann sagen, dass es gut war, ich mich lebendig gefühlt habe. Vielleicht habe ich Sinn, Schönheit, Erfolg oder Gemeinschaft erlebt. Diese Zufriedenheit entsteht, indem ich im Moment und bei der Sache bin – nicht etwa dadurch, dass ich übermäßig viel mache.
Augenöffner war für mich ein Beispiel aus der Naturheilkunde. Da gibt es den zeitlich begrenzten bewussten Verzicht auf Essen. Das klingt erst mal schrecklich. Der Verzicht wirkt sich aber positiv auf den Körper aus, weil dadurch Reparaturmechanismen einsetzen. Wow! Und diesen positiven Effekt kann man auf viele Lebensbereiche übertragen. Zunächst fühlt sich „weniger“ oft negativ an, später aber kann es köstlich sein …
Mir hat einmal jemand sagte, ich hätte die ganze Ewigkeit Zeit, um mich zu erholen, deswegen solle ich hier auf Erden durchpowern. Es anders zu handhaben sei egoistisch. Wie sehen Sie das?
WENDEL: Ich würde auf Jesus verweisen: Er hat immer dafür gesorgt, dass er und seine engsten Freunde genug Ruhe hatten. Er hat sich durchaus unterbrechen lassen, hat dann aber die Stille zu einem anderen Zeitpunkt genommen. Jesus hat Ruhe ausgestrahlt – das merkt man an der Art, wie er mit den Menschen gesprochen hat. Diese Ruhe, aus der er lebte, ist ihm nie verlorengegangen. Jesus ist in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Gott, seinem Vater, geblieben und wusste deshalb genau, was er tun und lassen soll. Diese Klarheit hat sich auf seine Gespräche, Heilungen, sein ganzes Leben ausgewirkt. Darum wurden Menschenmengen und Herausforderungen für ihn nie zur Überforderung.
Das Tempo drosseln
Beobachten Sie, dass es Christen leichter fällt, dieses Weniger zu leben?
WENDEL: Nein, überhaupt nicht! Ich kenne viele Engagierte, Begeisterte, Aktive, die damit ringen, ihr Weniger zu finden, und immer wieder in Grenzerfahrungen kommen mit ihrem Körper oder ihrer Seele. Man muss auch ehrlich sehen, dass Christen im Grunde genommen einen Arbeitsbereich mehr haben als andere. Viele engagieren sich ehrenamtlich in der Gemeinde, haben aber deshalb nicht automatisch mehr Kraft oder Zeit. Da muss man an anderen Stellen irgendwo kürzen lernen, um das händeln zu können.
Jeder Mensch hat eine Selbstführungsaufgabe und der müssen wir uns stellen.
Die Bibel lädt häufig zum Abgeben, Abladen, Zur-Ruhe-Kommen ein. Das ist etwas, was wir uns sagen lassen dürfen, weil das Tempo, das gefahren wird, oft sehr hoch ist. Zurückrudern heißt im Übrigen nicht, dem Ego mehr Platz einzuräumen. Es geht ja nicht darum, Menschen zu Egoisten machen oder zu einem Ich-drehe-mich-um-mich-selbst-Leben einzuladen. Aber es darf so sein, dass wir in eine Ausgeglichenheit, Genussfähigkeit, Achtsamkeit und Verantwortlichkeit hineinzufinden, die gesund ist. Da hat jeder Mensch eine Selbstführungsaufgabe und der müssen wir uns stellen.
Gibt es gerade im christlichen Kontext etwas, wo Sie sich ein Umdenken wünschen würden?
WENDEL: Meine Gemeinde lebt etwas, das ich sehr hilfreich finde: Sie lädt dazu ein, sich für eine Aufgabe zu entscheiden. Dass Leute sich in mehreren Bereichen engagieren, sollte eine Ausnahme sein. Das ist eine Art Begrenzung, die guttun und freisetzen kann: Ich bin dabei, engagiere mich, muss aber nicht in die Überforderung gehen. Das ist besonders für Menschen wie mich eine Hilfe, die sich gerne einbringen, viele Notstände sehen. Man darf lernen, zu fragen: „Wo möchtest du, Gott, mich haben?“ Keiner ist überall zuständig.
Welche Rolle spielen innere Antreiber, wenn man versucht, sein Leben zu entschlacken?
WENDEL: Eine sehr große! Wenn jemand seine inneren Antreiber erkannt hat – beispielsweise „Mach es perfekt!“ – und auch ein Stück weit von ihnen geheilt wurde, wird es leichter. Ich kann lernen, über mich selbst zu schmunzeln, zum Beispiel darüber, dass ich immer alles schnell machen will. Meldet sich dann im Alltag ein Antreiber, kann ich schauen, wie ich darauf reagieren möchte. Das ist spannend und die ehrlichen Erkenntnisse sind hilfreich. Denn ohne diese wird man immer wieder den gleichen Überforderungen oder auch Gesundheitsproblemen gegenüberstehen.
Vertrau deinem Bauch!
Sie plädieren dafür, öfter dem Bauchgefühl zu vertrauen. Wieso sollte nicht einzig und allein der Kopf entscheiden?
WENDEL: Weil die Kombi aus beiden richtig gut ist. Kopfmenschen sind möglicherweise schnell in ihren Entscheidungen und merken anschließend: „Das fühlt sich nicht gut an!“ Und dann wird innerlich gegen das Gefühl argumentiert: „Das wird schon klappen! Das hat schon mal funktioniert. Du willst doch jetzt keinen enttäuschen!“ Man versucht, das Bauchgefühl wegzudrücken. Ich glaube aber, dass es ein gutes Signal ist für die eigenen Grenzen.
Ich mache die Erfahrung, dass es von anderen gar nicht so negativ gesehen wird, wenn man mal zurückrudert. Gerade für chronisch kranke Menschen – ich gehörte ja leider auch sehr lange dazu – ist es wichtig, nach eigenen Grundsätzen leben zu lernen. Sie müssen oft auf ihren Bauch hören, wenn etwas zu viel ist, selbst wenn andere das nicht nachvollziehen können. Da möchte ich Mut machen. Aus meinen Krankheitsjahren ist bei mir persönlich noch übriggeblieben, dass ich in Sachen Erschöpfung sehr aufpassen muss. Das heißt für mich, dass ich mich beispielsweise nicht an mehr als zwei Abenden in der Woche verabrede, weil ich weiß, mehr packe ich nicht. Seitdem ich das entschieden habe, fällt es mir viel leichter, mit Entscheidungen umzugehen. Als Kernfrage hilft mir persönlich: „Wie fühle ich mich jetzt damit?“ Das ist eine hilfreiche Frage, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Angenommen jemand möchte sein Leben entschlacken – wie würden Sie das angehen: Das Leben radikal umkrempeln oder eher Schritt für Schritt?
WENDEL: Ich denke, dass beide Varianten gut funktionieren. Ich selbst habe es beim ersten Mal radikal gemacht. Da habe ich mir jeden Lebensbereich vorgenommen und auf „Weniger“ durchgecheckt. Das war nötig, weil es körperlich nicht anders ging. Ich habe dabei erlebt, dass ich mein Leben jederzeit aktiv zum Guten beeinflussen kann.
Weniger kann mithelfen, das Wesentliche des Glaubens neu zu erfassen. Ich merke, dass sich mein Gebetsleben vertieft und intensiviert hat.
Ich kenne aber auch Leute, die das auf lange Sicht machen, immer nur in einzelnen Bereichen. Das kann genauso gut sein, weil manche sich vielleicht überfordert fühlen beim Gedanken an einen radikalen Cut. Dann ist es einfacher, sich erst mal nur einen Lebensbereich vorzunehmen. Manche fangen dann Feuer und merken, wie gut das tut, und haben so den Mut, weitere Lebensbereiche anzugehen.
Inwiefern können sogenannte „Visionstage“ dabei eine Hilfe sein?
WENDEL: Ich bin von meiner Tendenz jemand, die mehr Pläne hat als sie bewältigen kann. Der Vision Day am Anfang des Jahres hilft mir, das Jahr in den Fokus zu nehmen und mir bestimmte Fragen zu stellen, damit es nicht utopisch wird. Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, auch innerhalb des Jahres draufzuschauen und eventuell nachzubessern und Ziele auf den Monat runterzubrechen: „Gibt es etwas, dass ich diesen Monat verwirklichen möchte?“ Oder wo ich vielleicht sehe, dass ein Vorhaben so groß ist, dass ich nicht noch etwas anderes machen kann? Ich stehe jetzt am Ende einer großen ehrenamtlichen Mitarbeit und habe mir bewusst vorgenommen, nichts Größeres anzugehen, bevor das beendet ist. Und anschließend mache ich erstmal ein halbes Jahr Pause im Ehrenamt.
Wie kann sich dieses Ausstrecken nach Weniger auf unsere Gottesbeziehung auswirken?
WENDEL: Es kann mithelfen, das Wesentliche des Glaubens neu zu erfassen. Ich merke, dass sich mein Gebetsleben vertieft und intensiviert hat. Das empfinde ich als großes Geschenk, weil ich es nicht erwartet hätte. Es lehrt mich auch zu schauen: Was will ich mit meinem Leben? Ich werde irgendwann sterben, das kann früher oder später sein, und dann möchte ich zurückschauen und loslassen können. Das werde ich aber nur gut können, wenn ich das gelebt habe, wozu Gott mich begabt und beauftragt hat. Außerdem und vor allem, wenn ich in meiner Beziehung zu ihm immer mehr in die Tiefe gekommen bin. Da geht es um Mehr, aber dafür braucht es nicht mehr Wirbel, sondern die Fähigkeit, sich immer tiefer mit Jesus zu verbinden. Dazu gehört auch Einsamkeit. Das aber kann ich nur erleben, wenn ich zu bestimmten Zeiten Überflutungen ausspare.
Ein letzter Gedanke zum Thema?
WENDEL: Mir gefällt ein Zitat von Theodor Storm: „Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat.“ Das finde ich passend, weil es zum Weniger einlädt, und dazu, sich zu begrenzen. Gleichzeitig zeigt es auf, dass es trotzdem ein Leben in der Berufung ist, weil etwas entstehen darf. Storm nennt es etwas Geschnitztes, also ein Werkstück. Ich nenne es Segen.
Frau Wendel, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Nicole Sturm.