MINDO: Herr Gutmann, Sie sind Fachpfleger für Psychiatrische Pflege, Burn-out-Berater und Stressbewältigungstrainer. Wie erleben Sie die jüngste Entwicklung in unserer Gesellschaft im Umgang mit Stress?

 

GUTMANN: Stress war ja schon immer ein Thema der Menschheit und wird es natürlich auch bleiben. Und auch heute stellt Burn-out keine eigenständige Krankheit dar, sondern ein Syndrom oder Phänomen, welches sich aus chronischem Stress am Arbeitsplatz heraus entwickelt hat. Es kann sich dadurch allerdings eine Depression entwickeln, die als psychische Erkrankung anerkannt ist. Das ist positiv und negativ zugleich, denn noch immer wollen viele Menschen bei sich lieber von einem Burn-out als von einer Depression sprechen, da dieser ja keine psychische Erkrankung darstellt und es auf den Arbeitsstress „geschoben“ werden kann. Dabei wäre es wünschenswert endlich anzuerkennen, dass Depression nichts mit Schwäche zu tun hat, zumal sie jeden Menschen treffen kann. Man geht davon aus, dass jeder Fünfte im Laufe seines Lebens einmal an einer Depression erkranken wird.

 

 

Hat die Corona-Pandemie die Lage verschlimmert?

 

GUTMANN: Mit Corona und all seinen Auswirkungen ist ein zusätzlicher Stressor in unser Leben gekommen. Viele bereits erprobte, routinierte und effektive Stress-Bewältigungsstrategien brechen plötzlich weg oder werden eingeschränkt. Kürzlich erst hatte ich ein Gespräch mit einem Patienten, der seit einigen Jahren nicht mehr in der Klinik war. Durch Corona ist seine feste Tagesstruktur weggebrochen, er konnte seine Tagesstätte nicht mehr besuchen, nicht mehr ins Schwimmbad gehen und seine Freunde nicht mehr treffen – all das waren tragende Säulen seines Stressmanagements. Was folgte war eine erneute depressive Episode mit einhergehendem Alkoholrückfall. Das vergangene Pandemie-Jahr hat also neue Risiken offenbart, aber auch neue Chancen eröffnet, die es zu erschließen gilt.

 

 

Was treibt uns an?

Was bereitet Menschen Ihrer Erfahrung nach den größten Stress?

 

GUTMANN: Das lässt sich nicht pauschal beantworten, da Menschen bekanntermaßen sehr unterschiedlich sind. Sicherlich wird jetzt in der Corona-Krise deutlich, dass Freiheit und Unabhängigkeit, körperliche und psychische Gesundheit, soziale Kontakte, finanzielle Sicherheit, feste und haltgebende Strukturen sowie Sinn im Leben existenziell wichtig für uns sind. Wird ein Teil davon bedroht, setzt sich häufig eine Maschinerie in Gang, die sich auf die anderen Bereiche ausweitet, was selbstverständlich stresserzeugend ist und möglicherweise auch irgendwann krankmachend.

 

 

Gibt es einen bestimmten Menschentyp, der anfälliger für Stress ist als andere?

 

GUTMANN: Wie gesagt ist Stress nicht per se etwas Krankmachendes. Erst wenn uns die Bewältigungsstrategien und Erholungsphasen fehlen, der Stress also chronisch wird, kann er zum Problem werden. Menschen, die nicht gut Nein sagen können, die ein Helfersyndrom haben, die sich Dinge schnell zu Herzen nehmen, die sich durch Leistung definieren oder zu Perfektionismus neigen, stehen sich häufig selbst im Weg und müssen dann mit (unnötigem) Stress umgehen. Es lohnt daher die Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Stressverstärkern und vorherrschenden Glaubenssätzen, die wir manchmal schon von klein auf mit uns tragen.

 

 

Woran erkennt man, ob man sich bereits in einer Abwärtsspirale Richtung Ausbrennen befindet?

 

GUTMANN: Oftmals erkennen Betroffene das selbst erst sehr spät oder wollen es nicht wahrhaben. Es heißt ja, dass jemand, der ausbrennt, vorher einmal für eine Sache gebrannt haben muss. Menschen brennen aus, wenn sie mehr Energie abgeben, als sie wieder zurückbekommen. Neben dem fast pausenlosen Arbeiten werden Hobbys, soziale Kontakte und Beziehungen zunehmend vernachlässigt. Man fühlt sich unentbehrlich, ohne einen läuft es nicht. Die eigenen Bedürfnisse werden vernachlässigt, Misserfolge und Enttäuschungen werden verdrängt, man reagiert schnell gereizt oder aggressiv. Und irgendwann herrscht auch ein gewisser Zynismus vor. Der Funke, der einen einst brennen ließ, kommt dann irgendwann mehr oder weniger zum Erlöschen, und es machen sich depressionsähnliche Symptome breit. Energie, Freude, Antrieb, Leistung und Konzentration nehmen ab, man fühlt sich chronisch müde und erschöpft, man grübelt, kann schlechter schlafen und greift vielleicht auch zu Alkohol oder anderen Drogen. Ebenso können – oft psychosomatisch bedingte – Schmerzen auftreten, häufig sind Kopf- oder Rückenschmerzen.

Muss ich immer alles so mitmachen, wie es von mir gefordert wird?

Darum ist es so wichtig, dass aus dem persönlichen Umfeld Rückmeldungen kommen. Wenn Angehörige, Freunde, Kollegen oder Vorgesetzte entsprechende Hinweise hinsichtlich negativer Veränderungen geben, sollte man diesen offen und ehrlich nachgehen und sie nicht bagatellisieren, ehe es möglicherweise zu einem Burn-out kommt.

 

 

Wege zu einer gesünderen Gesellschaft

Welche Rolle spielt neben persönlichen Stressoren die Berufswelt, welche unsere sich immer schneller wandelnde Gesellschaft?

 

GUTMANN: Neben den individuellen inneren Faktoren spielen die äußeren natürlich genauso eine Rolle. Burn-out entsteht zumeist erst durch das Ineinandergreifen von beiden. Oftmals begegnet uns heute die Devise „Schneller, höher, weiter“ – und genau hier können viele Menschen einfach nicht mehr mithalten. Es kommt daher auch sehr darauf an, wie in Unternehmen die Führungs- und Leitkultur gelebt wird: Werden Mitarbeiter motiviert, gefördert, geschätzt und gelobt – oder werden sie als jederzeit austauschbare Wesen angesehen? Werden gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen angeboten? Andererseits liegt es aber auch immer an jedem Menschen selbst. Muss ich immer alles so mitmachen, wie es von mir gefordert wird?

 

 

Wenn Sie träumen dürften: Was müsste sich am gesellschaftlichen Grundton denn ändern, damit wir insgesamt weniger gestresst wären?

 

GUTMANN: Die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat dazu einmal einen schönen Satz gesagt: „Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht.“ Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen des obersten biblischen Gebots der Nächstenliebe annehmen – und sich diejenigen, die mit christlichen Weisheiten nichts anfangen können, der Philanthropie verschreiben und zu echten Menschenfreunden werden. Es müsste weniger Egozentrizität und mehr Offenheit im Umgang miteinander geben, ehrliches Interesse am Mitmenschen, selbstlose Bereitschaft zur Mithilfe und Unterstützung. Und auch eine gewisse Lernbereitschaft und Erweiterung des Blickwinkels und Horizonts würde vielen sicher guttun. In meinem Buch „Humane Psychiatrie: Psychosoziale Versorgung zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ habe ich geschrieben, dass es zu einem besseren Miteinander und einer Eindämmung psychischer Störungen kommen könnte, wenn wir Menschen uns (gegenseitig) weniger unnötigen Stress bereiten würden. Davon bin ich noch immer überzeugt.

 

 

Schlaf und Stressmanagement

Sie haben ein Buch geschrieben, in dem Sie im Rahmen eines effektiven Stressmanagements auf Weisheiten der Bibel verweisen. Der Titel „Jesus aber schlief“ spielt auf die Erzählung an, wo Jesus mitten im Sturm in einem Boot schläft, während die Jünger um ihr Leben rudern.  Warum konnte Jesus schlafen – mitten in Sturm, in Stress und Bedrohung?

 

GUTMANN: Vermutlich, weil er Jesus war, Gottes Sohn. Das heißt, er wusste nicht nur um seine Fähigkeiten, also seine Bewältigungsstrategien – er wusste vor allem, wer er war und wer sein Vater war. In diesem Wissen ruhte er. Und darum konnte der Sturm ihm nichts anhaben.

 

 

Apropos Schlaf: Welche Rolle spielt er für unser Stressmanagement – und wie finden wir ihn, wenn wir ihn verloren haben?

 

GUTMANN: Schlaf spielt eine sehr wichtige Rolle. Wir alle brauchen ihn in ausreichender Form, um unsere Akkus wieder aufzuladen. Sowohl zu wenig als auch zu viel oder zu oft unterbrochener Schlaf kann sich negativ auf uns auswirken.

 

Wenn uns der gesunde Schlaf abhandengekommen ist, macht es Sinn, sich auf die Suche nach dem Auslöser zu machen. Oft spielt Stress dabei eine Rolle. Auch Koffeingenuss zu später Stunde oder das Licht von Bildschirmen kann durch den absinkenden Melatoninspiegel einen Einfluss auf unseren Schlaf haben. Ebenso ein erhöhter Insulinspiegel, weshalb man sowohl nicht mit leerem als auch nicht mit zu vollem Magen ins Bett gehen sollte.

 

Hilfreich können zudem bestimmte Rituale vor dem Zubettgehen sein: zum Beispiel ein Gebet zu sprechen oder Tagebuch zu schreiben. Für viele hat sich ein Dankbarkeitstagebuch bewährt, in dem man aufschreibt, für was am vergangenen Tag man dankbar ist. Ebenso können ein Entspannungsbad, Musikhören, verschiedene Schlaf- oder Kräutertees, ein Lavendelkisschen oder Atem- und Entspannungsübungen hilfreich sein. Und manchmal hilft sogar eine Umgestaltung des Schlafzimmers, damit man sich dort wohlfühlt und besser zur Ruhe kommen kann.

 

 

Sie geben in Ihrem Buch rund 40 Stressmanagement-Tipps und verknüpfen diese mit biblischen Zusagen. Wenn Sie diese breite Palette an Impulsen auf die grundlegendsten reduzieren müssten: Welche wären das?

 

GUTMANN: Zunächst einmal muss ich noch einmal betonen, dass nicht jeden Menschen das Gleiche stresst, jeder von uns hat andere Baustellen, wo wir in puncto Stressmanagement ansetzen müssen. Und doch ist der Allroundtipp sicherlich: „Lassen Sie Gott an Ihren Problemen teilhaben!“, denn es ist immer entlastend und befreiend, all seine Ängste und Sorgen bei ihm abzuladen. Und das ist ja zum Glück jederzeit möglich. Bei allen anderen Tipps kommt es immer auf die Person und ihre individuelle Lebenslage an, weshalb sich einzelne Tipps hier nur schwer herunterbrechen lassen.

 

 

Sie selbst sagen, dass Ratschläge oft als Schläge wahrgenommen werden. Das gilt sicher besonders dort, wo dabei mit der Bibel hantiert wird. Ist es daher nicht zu einfach, zu sagen: „Wenn wir all den guten Lebensrat und die Weisheit der Bibel beherzigen, leben wir stets in Balance und brennen nie aus“?

 

GUTMANN: Die Bibel ist ein Buch, das nicht primär für das 21. Jahrhundert geschrieben wurde und in dessen Zentrum die Geschichte der Rettung und des Heils steht, die Gott mit uns Menschen schreibt. Aber ich bin davon überzeugt, dass sie mit ihren Weisheiten und Erzählungen unser Leben leichter machen möchte. Gleichzeitig gilt: Selbst, wenn man noch so gläubig und bibelfest ist, ist man nicht vor Stress, Ausbrennen oder einer psychischen Erkrankung geschützt. Der christliche Glaube und die Bibel können eine hilfreiche Stütze im Leben sein. Falsch verstanden oder ausgelegt können sie für viele Menschen aber auch zur Qual werden. Dies erlebe ich in der Klinik immer wieder.

Selbst, wenn man noch so gläubig und bibelfest ist, ist man nicht vor Stress, Ausbrennen oder einer psychischen Erkrankung geschützt.

Als Widmung schreibe ich in meine Bücher oft folgende Sätze: „Die Stürme des Lebens können nicht immer aufgehalten werden, aber wir können lernen, besser damit umzugehen. Wie gut ist es, dass es hier jemanden gibt, der uns den sicheren Weg durch die Fluten zeigen möchte.“ Zur Verdeutlichung verwende ich auch gerne einen Satz aus Johannes 5,12: „Wer Jesus hat, der hat das Leben.“ Ja, wer Jesus hat, der hat das ewige Leben. Bis es aber so weit ist, haben wir auch unser irdisches Leben zu bestreiten. Und das Leben ist nun mal kein Ponyhof! Wir müssen uns immer wieder neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen, uns neu ausrichten, dazulernen, stolpern, aufstehen und weitergehen. Der Glaube kann uns dabei Halt und Sinn geben, er richtet uns auf das aus, was noch vor uns liegt. Bis dahin ist und bleibt das Leben streckenweise ein steiniger Weg, der sich aber bewältigen lässt. Das ist die gute Nachricht.

 

Gelassen leben lernen

Und wie findet man einen gangbaren Weg hin zu mehr Balance, ohne dabei ins Gegenteil, nämlich in „Entspannungsstress“ zu geraten?

 

GUTMANN: Ich glaube, das Allerwichtigste ist, dass man Jesus im Herzen hat und seinen Nächsten versucht zu lieben, wie sich selbst. Diesen Satz finde ich sehr wichtig, denn hier geht es ja um uns selbst. Sich selbst anzunehmen und wertzuschätzen und sich nicht mit anderen zu vergleichen, ist ein wichtiger Ansatzpunkt, den viele Menschen außen vor lassen. Und wenn zusätzlich zu dem Mangel an Selbstliebe dann auch noch „Du musst“-Sätze regieren, kann das ziemlichen Stress erzeugen. Daher glaube ich, dass die Auseinandersetzung mit und das tiefere Verstehen der Liebe Gottes zu uns eine entscheidende Rolle für ein entspanntes, gelassenes und zufriedenes Leben darstellt.

 

 

Nun können wir nicht alles beeinflussen, was von außen auf uns eindringt. Aber wenn wir auf das schauen, was wir in der Hand haben: Wie gelingt es, einen Lebensstil zu entwickeln, der den Druck aus dem Leben nimmt?

 

GUTMANN: Dafür ist es wichtig, zu akzeptieren, dass wir Menschen sind. Menschen, die fehlerhaft und unvollkommen sind. Das ist absolut nicht schlimm, sondern völlig normal. Um einen gesunden Lebensstil zu entwickeln, macht es durchaus Sinn, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich vielleicht auch philosophische Fragen zu stellen: Wer bin ich? Was zeichnet mich aus? Was möchte ich im oder vom Leben?

Wichtig erscheint mir hierbei, sich vor Augen zu halten, dass man ein geliebtes Kind Gottes ist, mit all seinen vermeintlichen Fehlern und Schwächen. Um noch einmal auf die Bibel zurückzukommen: Gottes Kraft ist gerade in den Schwachen mächtig (2. Korinther 12,9) und er gebraucht vermeintlich „schwächere“ Menschen für sein Werk.

 

Und auch Zufriedenheit und Dankbarkeit möchte ich an dieser Stelle noch einmal nennen. Beide können äußerst wichtige Wegbegleiter hin zu einem stressfreieren Leben sein. Wir müssen uns nicht mit anderen vergleichen oder ihnen nacheifern. Ich bin ich und du bist du – und das ist super!

 

 

Und zu guter Letzt: Wie gehen Sie selber mit Stress um, sprich: Wobei entspannen Sie am besten?

 

GUTMANN: Ich entspanne am liebsten in der heißen Badewanne mit wohltuenden Badezusätzen und ich höre für mein Leben gerne Musik. Darüber hinaus habe ich vor einiger Zeit das Sammeln und Präparieren von Fossilien für mich entdeckt. Mich entspannt die Suche in der Natur und fasziniert das Finden von urzeitlicher Geschichte, die vor einem so noch niemand gesehen hat. Meine Frau sagt dazu immer: „Steineklopfen ist dein Yoga!“

 

Herr Gutmann, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

 

 

Hier → geht’s zur Rezension von „Jesus aber schlief“

Jonathan Gutmann

ist Fachpfleger für Psychiatrische Pflege und arbeitet auf der akutpsychiatrischen Station und im Bereich Qualitätssicherung und Pflegeentwicklung in der „Klinik Hohe Mark“ in Oberursel. Daneben ist er Fachbuchautor (aktuell „Jesus aber schlief“, Francke-Buch), Burn-out-Berater und Stressbewältigungstrainer.

 

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