MINDO: Frau Mockler, was macht die Beziehungskonstellation zwischen Müttern und Töchtern eigentlich so spannend – und spannungsreich?

 

SUSANNE MOCKLER: Mutter und Kind sind durch die Nabelschnur extrem eng verbunden. Dazu kommt bei Mädchen noch das gleiche Geschlecht. Das bringt ein Höchstmaß an Identifikation mit sich. Die Mutter ist für die Tochter das Maß aller Dinge – zumindest solange sie noch klein ist. Sie ist das Vorbild für Weiblichkeit und dafür, wo sie sich selbst vielleicht einmal hin entwickeln will.

Am Anfang ist da eine extreme Verbundenheit. Psychologisch sprechen wir von einem symbiotischen Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Dann geschieht die Abnabelung. Das fängt schon im Trotzalter an, aber vor allem in der Pubertät kommt dann die große Krise: Die Tochter entdeckt ihr eigenes Selbst. Sie entdeckt, dass sie nicht wie Mama ist – sie ist anders, hat andere Begabungen, ein anderes Wesen. Dann muss Abgrenzung stattfinden. Das ist für beide schmerzlich. Die Tochter marschiert raus in die Welt, entdeckt ihren eigenen Standpunkt, findet ihren Weg. Für die Mutter ist es einerseits schön, aber auch anstrengend. Sie muss loslassen. Manchmal wird die Nabelschnur nicht wirklich gekappt: Es ist noch zu viel Verbundenheit und Identifikation von der Mutter mit der Tochter da, zu viel eigener Wille und Dinge, die auf die Tochter projiziert werden. Gelingt das Loslassen nicht, führt das zu gewaltigen Spannungen und die bleiben oft bis zum Lebensende oder sogar noch über den Tod der Mutter hinaus bestehen.

 

 

Welchen Einfluss haben Mütter auf ihre Töchter in Bezug auf deren Selbstbild und Verhalten?

 

MOCKLER: Wir inhalieren quasi schon mit der Muttermilch das mütterliche Vorbild. Töchter nehmen sich die Mutter als Vorbild – selbst dann, wenn sie sie nicht so viele Stunden am Tag erleben. Mädchen spielen intuitiv nach, was ihre Mamas tun: Sie verkleiden sich mit dem, was sie in Mamas Kleiderschrank finden; sie telefonieren, wie Mama telefoniert. Sie schauen sich ab, wie Frausein aussehen könnte. Das alles passiert durch Nachahmen und deshalb eher subtil. Die Mutter schreibt ihrer Tochter nicht bewusst vor, dass sie so oder so zu sein hat. Aber es passiert durch das, was eine Mutter in Gegenwart ihrer Tochter sagt und was sie ihr an Erwartungen vermittelt. Und natürlich auch dadurch, wie viel Zuwendung, Liebe oder auch Ablehnung sie ihr entgegenbringt. Es gibt Mütter, die ihre Töchter nicht annehmen, weil sie sie gar nicht wollten oder lieber einen Sohn gehabt hätten. Diese unterschwelligen Botschaften kommen an und beeinflussen das Selbstbild intensiv: Bin ich angenommen? Bin ich in Ordnung, so wie ich bin? Kann ich deine Erwartungen erfüllen?

 

 

Worauf sollten Mütter achten, damit sie nicht unbewusst ungute Dinge weitergeben?

 

MOCKLER: Erst in meiner Ausbildung habe ich realisiert, wie viel wir unbewusst weitergeben. Wir sollten uns damals selbst ein paar Tage beobachten und aufschreiben, was wir so alles machen. Dadurch lebt man bewusster. Mir fiel auf, wie sehr mich in den alltäglichen Begegnungen mit den Kindern meine Emotionen leiten. Was wir über unseren Töchtern aussprechen, diese Sätze sitzen und prägen tief. Deshalb ist es wichtig, unsere Sprache zu kontrollieren. Was hört meine Tochter von mir: Ermutigung oder ständige Kritik? Dass sie eine faule Liese ist, wegen ihres Eigensinns nie einen Mann abkriegen wird, die Schwester viel lieber ist oder sie nicht so viel essen soll, weil sie immer pummeliger wird? Solche Sätze können zu einer Art Lebensmotto werden. Manchmal ist es dran, um Entschuldigung zu bitten. Töchter sollten auch das Recht haben, Verletzungen auszusprechen, die sie seitens der Mutter erlebt haben. Als Mutter sollte man die Größe haben, Fehler einzugestehen.

Oft sollen Töchter die Erwartungen ihrer Mütter erfüllen oder das nicht gelebte Leben für sie leben.

Wir prägen aber auch mit unseren Erwartungen an das Leben oder auch den Enttäuschungen, die wir erlebt haben. Oft sollen Töchter die Erwartungen ihrer Mütter erfüllen oder das nicht gelebte Leben für sie leben. Auch da kann man an sich arbeiten, indem man sich anschaut, was die eigenen Erwartungen und Motive sind. Schreiben ist ein gutes Mittel zur Selbstreflektion. Und Gespräche mit anderen. Wenn man merkt, dass es eine Störung in der Beziehung gibt, sollte man sich möglichst früh Hilfe suchen. Das kann eine Freundin sein, aber auch Seelsorge oder Therapie.

 

 

Was sind die Themen, die in der Mutter-Tochter-Beziehung für die meiste Spannung sorgen?

 

MOCKLER: Die Wünsche und Bedürfnisse, die die Tochter stillen soll, und die Maßstäbe, die die Mutter setzt. Da sind oft Dinge wie Haushaltsführung und Kindererziehung das Thema. Dazu die Partnerwahl, wo Mütter meiner Meinung nach kein Recht haben, sich einzumischen – höchstens als freundschaftliche Ratgeberin, aber ohne zu bevormunden. Das gleiche gilt übrigens bei der Berufswahl. Töchter müssen ihren eigenen Weg gehen dürfen. Wenn Mütter ihre erwachsenen Töchter bemuttern oder ihnen sagen, was sie zu tun haben, ist das unangemessen. Familien- und Lebensthemen, aber auch Lebensstil-Unterschiede, sind also zentrale Punkte, wo Mütter und Töchter wechselseitig intolerant sind. Erwachsene Töchter sollten nicht so viel hadern, wenn sie ihre Mutter zu spießig oder zu flippig finden. Beide sollten sich gegenseitig stehen lassen. Das ist eine Riesenherausforderung – aber die Liebe gibt frei.

 

 

Und was sind die Dinge, die die Beziehung im positiven Sinne so besonders machen?

 

MOCKLER: Wenn die Ablösung gelingt, ist es eine wunderschöne Beziehung. Mutter und Tochter sind ja fast seelenverwandt. Sie schwingen oft miteinander, ohne dass sie sagen könnten, woran es liegt. Es gibt eine große Nähe, Vertrautheit und oft eine freundschaftliche Beziehung. Die aber kein Ersatz für eine Freundin ist. Töchter sollten Freundinnen haben und Mütter auch – und zwar Freundinnen auf Augenhöhe. In einer gelungenen Mutter-Tochter-Beziehung ist auch die Freiheit da, sich gegenseitig zu korrigieren. Es gibt eine Großzügigkeit miteinander, die man sonst nicht so erlebt.

 

 

Inwiefern ist es hilfreich, nicht nur seine eigene Prägung zu verstehen, sondern auch, warum die Mutter so geworden ist, wie sie ist?

 

MOCKLER: Da schauen wir in der systemischen Therapie sehr genau hin: Wo kommst du her? Was ist deine Mutter für eine Person, was hat sie geprägt? Und natürlich auch dein Vater. Es ist hochinteressant, wie sich dann oft Dinge lösen oder den Leuten ein Licht aufgeht: „Stimmt, sie hat diese Sorgen gehabt und deshalb bin ich heute oft so besorgt!“ Und dann aber auch festzustellen, dass es ja gar nicht die eigenen Sorgen sind. Aufarbeiten ist wichtig: hinschauen, die Geschichte kennenlernen und verstehen. Aber auch schauen, was für Ressourcen man entdecken kann.

Das zu würdigen, was die Mutter hingekriegt hat, und dann auch zu verzeihen, ist hilfreich.

Das alles kann helfen, dass man selber frei wird. Ich finde es wichtig, das, was ist und war, zu würdigen: Was hat meine Mutter erlebt? Was ist ihr ganz besonderer Erfahrungsschatz? Was hat sie zu der Person gemacht, die sie ist? Oft reden Töchter abschätzig über ihre Mütter und sagen, was sie alles nicht hingekriegt haben. Aber das zu würdigen, was sie hingekriegt haben, und dann auch zu verzeihen, ist hilfreich. Dass man mit Großzügigkeit und liebender Wertschätzung auf die Mutter schaut und natürlich auch als Mutter auf die Tochter.

 

 

Was sind ganz praktische Schritte, das Verhältnis besser und versöhnlicher zu gestalten – auch oder gerade, wenn die Eltern schon älter sind?

 

MOCKLER: Man kann nicht ändern, was war. Viele würden das gern, aber es geht nicht. Demut ist eine wichtige Herzenshaltung: „Ich akzeptiere, dass es so ist. Es mag wehtun, aber es gehört zu meinem Leben!“ Das ist der erste Schritt. Ich verabschiede mich von dem Schmerz der Vergangenheit. Er soll nicht mein heutiger Schmerz sein.

Wenn die Eltern noch ansprechbar sind, sollte man klärende Gespräche führen. Nicht abrechnend, sondern in Liebe und Wertschätzung. Sagen, was man sich gewünscht oder gebraucht hätte. Manchmal wird dann klar, dass die Mutter selbst an ihrem Defizit leidet. Dass sie erleichtert ist, wenn es endlich auf den Tisch kommt. Dann kann Heilung und Versöhnung stattfinden. Ich kenne aber auch Mütter, die dominant und herrschsüchtig bleiben. Dann ist es dran, auf Distanz zu gehen. Dann darf man auch klar sagen, dass man sein eigenes Leben führen will.

Es gibt das biblische Gebot, seine Eltern zu ehren. Das fällt manchen schwer, wenn es eine hochstrittige, komplizierte Beziehung ist. Aber ich kann zum Beispiel sagen: „Ich danke dir, dass du mich auf die Welt gebracht hast, dass ich leben darf. Danke für das, was du mir im Rahmen deiner Möglichkeiten gegeben hast!“ Auch das ist eine Form von Ehren. Schwierig kann es werden, wenn alte Menschen selbstverständlich erwarten, von den Töchtern gepflegt zu werden. Man darf als Mutter nicht die Nabelschnur umkehren und sagen, dass die Tochter einen jetzt nähren, versorgen und einem alles geben muss. Es ist schön, wenn das in einem guten Verhältnis geht, aber auch in Ordnung, wenn nicht. Es ist wichtig, dass die Ablösung gut klappt – dass die Mutter loslässt und die Tochter auch.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Nicole Sturm.

Susanne Mockler

ist systemische Paartherapeutin mit eigener Praxis und hat einen Bachelor-Abschluss in Psychologie. Regelmäßig halten sie und ihr Mann, der Journalist Marcus Mockler, Vorträge und Seminare zum Thema „Ehe und Familie“ und haben den Ehe-Ratgeber „Das Emma-Prinzip“ (adeo Verlag) verfasst. Das Paar lebt mit seinen Kindern auf der Schwäbischen Alb.

 

www.susanne-mockler.de und www.geliebtes-leben.de 

 

 

NICOLE STURM, die das Interview geführt hat, arbeitet als psychotherapeutischer Coach, Theologin und Autorin. Mehr: www.vorwärtsleben.de

Das könnte Sie auch interessieren