„Ihr wollt über Mütter und Töchter schreiben?“, sagt unsere jüngste Tochter Nora, „dann müsst ihr euch unbedingt die ,Gilmore Girls‘ anschauen. Das haben wir im Studium immer gesehen und vor einiger Zeit gab es eine Fortsetzung.“ Die Gilmore Girls also, eine Mutter-Tochter-Soap-Opera. Was fasziniert junge Frauen daran? Nora meint: „Die Mutter Lorelai und ihre Tochter Rory sind wie beste Freundinnen und auch ähnlich verrückt. Sie teilen Leidenschaften wie unvernünftig viel Kaffee trinken, nächtelang Fernsehsendungen ansehen, chinesisches Essen bestellen.“

 

Mütter und Töchter – beste Freundinnen? In der Tat haben viele junge Frauen heute eine viel engere Beziehung zu ihrer Mutter als diese zu ihren Müttern hatten. Entwicklungspsychologen sagen allerdings: Es braucht ein Mindestmaß an Rebellion, um erwachsen zu werden. Eine durchgehend kumpelhafte Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist aus psychologischer Sicht nicht ratsam. Wie aber können Mütter-Töchter Beziehungen gelingen? Und wie können Töchter von schwierigen Müttern profitieren?

 

Mütter haben eine Geschichte

Als ich etwa 17 Jahre alt war, lag meine Mutter eines Tages mit Grippe im Bett. Ich erinnere mich daran, dass ich ihr das Essen brachte und mich zu ihr setzte. Beiläufig sagte sie: „Du hast eine Schwester, die heißt auch Luitgardis.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“ Noch eine Luitgardis? Wo kam die auf einmal her? Ich hatte zwei jüngere Schwestern und wusste, dass es aus der ersten Ehe meines Vaters noch drei Halbgeschwister gab. Keine hieß Luitgardis. Mit wachsendem Erstaunen erfuhr ich nun, dass mein Vater neben seiner ersten Ehe ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt hatte und mit dieser zwischen 1946 und 1952 weitere vier Kinder gezeugt hatte. Mein Vater hatte also nicht sechs Kinder, sondern plötzlich zehn. Leider kam so ein Moment der Offenheit nie wieder. Meine Mutter wollte nicht mehr darüber reden und ich traute mich damals nicht, meinen Vater darauf anzusprechen.

 

Warum wird eigentlich in Familien so viel totgeschwiegen? Die Bibel tut das nicht. Offen wird zum Beispiel berichtet, dass Abrahams kinderlose Frau Sarah stinkeifersüchtig auf ihre Sklavin war, die von Abraham schwanger war. Schwierige Familienverhältnisse gab es also schon damals.

 

„Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus. Lügen und Geheimnisse sind oft sehr mächtig. In der Regel ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen, dann kann man entscheiden, wie man damit umgehen will. Und die Herausforderung dabei ist, die Eltern zu ehren, obwohl sie fehlerhafte und oft schuldbeladene Menschen sind.

 

Als Kind habe ich den Namen „Luitgardis“ gehasst. Jedem Lehrer musste ich ihn buchstabieren und die Mitschüler lachten mich aus. Luitgardis ist die Schutzpatronin der Flamen, hatte mir mein Vater erklärt: „Luit“ ist das flämische Wort für „Leute“ und „gardis“ leitet sich ab von „garder“, das „beschützen“ heißt. Leutebeschützerin also. Mein Vater hätte sich jedoch nie träumen lassen, dass ich mal Pastorin werde. Sein Herz schlug für Flandern, nicht für Gott. Er hielt nichts von dem belgischen Staat, der im Norden von niederländisch sprechenden Flamen bewohnt wird, im Süden von französisch sprechenden Wallonen. In der 1930 von ihm gegründeten Zeitschrift „Reinaert“ (dt. Fuchs) griff er die belgische Politik mit beißendem Sarkasmus an.

Ja, Mütter geben ihren Töchtern viel. Deshalb ist es auch so leicht, den Töchtern ein schlechtes Gewissen zu machen.

Meine Mutter lernte meinen Vater im April 1953 kennen, drei Monate später heirateten sie. Sie war 28, er 55. Sie wusste damals: Er war aus Belgien geflohen, am Ende des 2. Weltkriegs. In sein geliebtes Flandern konnte er nie mehr zurück. Der belgische Staat hatte das Todesurteil verhängt – über ihn und andere politisch Gleichgesinnte. Nun arbeitete er in Deutschland als Lehrer für Latein und Französisch.

 

Die Ehe meiner Eltern gestaltete sich schwierig. Mein Vater war sehr jähzornig, „da flog schon mal die Bratpfanne durchs Treppenhaus“, erinnert sich meine Tante. Die Eltern meiner Mutter waren Christen und nie in der NSDAP gewesen, sie hatte deshalb kein Abitur machen dürfen. Wir Töchter erlebten unsere Mutter als extrem moralisch. Kleider mussten stets das Knie bedecken – und das in Zeiten des Minirocks! Wir sollten nicht mit einem Jungen allein ins Kino gehen und nicht in die Disco. Und später, eine Frau als Pastorin (so wie ich es war), das ging für meine Mutter gar nicht! Kleine Kinder taufen, Jugendliche konfirmieren – das war in ihren Augen alles „unbiblisch“. Stets hat sie mich als Ungläubige bezeichnet. Geistlich fand ich nie einen Zugang zu ihr.

 

„Ich kann es ihr nie recht machen“

Eine Gewissensfrage, die Katja an den NDR schickte und die ich in einem Beitrag beantworten sollte, lautete: „Meine Mutter ist 89 und wohnt 300 Kilometer entfernt. Ich kann ihr nichts recht machen. Egal, wie oft ich sie anrufe oder besuche, sie wirft mir vor, dass ich mich zu wenig um sie kümmere. Sie ist eine Meisterin darin, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.“

 

Ja, Mütter geben ihren Töchtern viel. So viel, wie diese ihnen nie zurückgeben können. Deshalb ist es auch so leicht, den Töchtern ein schlechtes Gewissen zu machen. Frauen, die jetzt 89 sind, sind 1931 geboren. Ihre Jugend erlebten sie um den 2. Weltkrieg herum. Da konnte nicht viel Rücksicht auf ihre Bedürfnisse genommen werden. Sie mussten sich durchkämpfen. Es ging ums Überleben. Es ist ähnlich wie bei einem Igel. Wenn er sich bei Gefahren schützen will, rollt er sich zusammen und zeigt seine Stacheln. Die weiche Bauchseite wird versteckt. Die Stacheln machen den Igel unangreifbar. Wer ihm zu nahe kommt, wird verletzt.

 

Manche Mütter sind aufgrund ihrer Geschichte „stachelig“ geworden. Die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, dass die Tochter sich von ihrem schlechten Gewissen hin- und herschieben lässt. Sie darf vielmehr die Handelnde werden und aktiv die Regeln bestimmen.

 

Katja könnte ihrer Mutter beispielsweise sagen: „Einmal in der Woche rufe ich dich an. Und einmal im Monat komme ich dich besuchen. Ich organisiere dir auch gerne Hilfe vor Ort.“ – Vielleicht kann auch die Mutter mit solchen Absprachen besser leben. Katja könnte ihre Mutter auch mal nach ihrer Kindheit fragen. Sie könnte womöglich besser verstehen, warum ihre Mutter in manchem so hart geworden ist. Und vielleicht bekommt Katja irgendwann statt der Stacheln das weiche Fell des Bauches gezeigt.

 

Liebe braucht Grenzen

Immer wieder gibt es Streit zwischen Kerstin und ihrer 15-jährigen Tochter Nina, wann sie abends nach Partys zu Hause sein sollte. Kerstin findet, halb zwölf Uhr ist das Späteste, aber Nina ist darüber stinkwütend und sagt: „Dann brauche ich gar nicht erst loszugehen!“ Alle anderen dürfen angeblich bis zwei Uhr bleiben. Kerstin fragt sich: Bin ich altmodisch?

 

An diese Diskussionen kann ich mich selbst nur zu gut erinnern. Wir waren aus der Sicht unserer Kinder die einzigen Eltern weit und breit, die derart konservativ waren. Da gab es Wut und Tränen. Eines Tages jedoch kam unsere jüngste Tochter Nora sehr nachdenklich nach Hause. Sie hatte sich bei ihrer Freundin über ihre Eltern beklagt. Die Freundin aber hatte gesagt: „Deinen Eltern liegt wenigstens was an dir. Ich kann nachts wegbleiben, solange ich will. Meine Eltern sind nur mit sich selbst beschäftigt. Das gibt mir das Gefühl, dass ich ihnen nicht wichtig bin.“ Nora war erschüttert. Die verhassten Grenzen standen auf einmal in einem anderen Licht. Sie bedeuteten nun: Mir liegt was an dir.

Nein, Kerstin ist nicht altmodisch. Altmodisch ist die anti-autoritäre Erziehung. Heutige Hirnforscher sind überzeugt: Heranwachsende brauchen Grenzen und Regeln, um sich geborgen zu fühlen. Sie sind wie die Wände für ein Haus, geben ihm Struktur und Halt.

 

 

 

 

Wenn Mütter pflegebedürftig werden

Die 66-jährige Iris pflegt ihre 91-jährige Mutter. Sie hat Demenz. Am Tag schläft sie, nachts will sie spazieren gehen. Manchmal schließt Iris sie ein, damit sie nicht die Treppe runterfällt. Iris hat Rückenschmerzen und ist nur noch ein Nervenbündel. Aber sie meint, sie ist es ihrer Mutter schuldig, sie zu pflegen.

Noch nie dauerte die Mutter-Tochter-Beziehung so lange wie heute.

In meiner Gemeinde gab es eine Landwirtsfamilie. Der Opa wurde zunehmend dement. Er stellte den Topf auf die Herdplatte und vergaß, sie auszustellen. Er lief weg und fand nicht mehr zurück. Wenn die Familie aufs Feld musste, schlossen sie den Opa in seinem Zimmer ein. Als ich sie darauf ansprach, stieß ich auf eine Art Tabu: „Man lässt seine Verwandten nicht von Fremden betreuen.“ Das hatte ein ganz schlechtes Image. Aber früher wurden die Menschen nicht so alt wie heute und damit auch seltener dement. Und man lebte mehr in Großfamilien zusammen. Die Pflege der Alten wurde also auf viele Schultern verteilt.

 

Nie dauerte die Mutter-Tochter-Beziehung so lange wie heute. Weil Menschen heute älter werden, hat sich die gemeinsame Lebenszeit von Kindern und Eltern deutlich verlängert. Und Frauen werden im Durchschnitt zirka fünf Jahre älter als Männer. Darum dauert die Mutter-Tochter-Beziehung länger als die mit dem Vater.

 

Iris steht alleine da mit ihrer alten Mutter. Sie hat ein hohes Verantwortungsgefühl, aber ihre Liebe braucht Grenzen. Iris sollte nicht warten, bis sie zusammenbricht und dann auf einmal sehr plötzlich gehandelt werden muss. Sie sollte beizeiten nach Lösungen suchen, wie sie unterstützt werden kann.

 

Gottes Spuren

Ob meine Mutter je den wahren Grund erfahren hat, warum mein Vater in Belgien 1944 zum Tode verurteilt worden war? Nach ihrem Tod fand ich in einer alten Truhe vergilbte Papiere. Und da stand es: Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Mein Vater hatte wohl darauf gesetzt, dass sie die flämische Sache unterstützen würden. Aber, noch schlimmer, 1941 hatte er für die SS als Übersetzer gearbeitet. Ob meine Mutter auch deswegen so sehr übers Ziel hinausgeschossen war mit ihrem fanatischen Glauben? Als unbewusste Wiedergutmachung?

 

Meine Namens- und Halbschwester Luitgardis habe ich nie kennengelernt. Sie ist schon lange tot. Vor einiger Zeit besuchte ich zwei andere meiner Halbgeschwister in Belgien. Ich war sehr bedrückt über ihre Schicksale und die ihrer Mütter. Doch am Tag des Besuchs lasen wir morgens den Bibelvers aus den Herrnhuter Losungen: „Unser Gott wandte den Fluch in Segen.“ Das ging mir direkt ins Herz. Ich frage mich jetzt: Wo sind Gottes Spuren in der Geschichte mit meiner Mutter? Und was ist Gottes Aufgabe für mich, um diese Geschichte anders und besser fortzuführen?

 

Ganz aufwühlend wurde es, als meine Mutter im Sterben lag. Noch ein paar Tage vorher hatte ich zu Freunden gesagt: „Meine Mutter im Sterben begleiten, das geht gar nicht.“ Und sie hatten mir quasi die Absolution erteilt: „Ja, klar, bei eurer schwierigen Beziehung, das musst du auch nicht.“ Aber dann kam doch alles ganz anders. Das zu erzählen, würde jetzt hier zu weit führen. Sie können es gerne in unserem Buch nachlesen.

Luitgardis Parasie

Jahrgang 1954, ist systemische Familientherapeutin und Pastorin einer evangelischen Kirchengemeinde. Sie ist verheiratet mit dem Arzt und Psychotherapeuten Dr. Jost Wetter-Parasie, mit dem sie gemeinsam das Buch „Starke Mütter, starke Töchter“ verfasst hat (Neukirchener Verlag). Das Paar hat drei erwachsene Töchter und mehrere Enkelkinder.

 

 

www.wetter-parasie.de

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