Unsere Sommerferien waren stets ein einziger Traum. Denn was gibt es Schöneres auf der Welt als den Geruch von frischem Heu? Oder die Kühle des frühmorgendlichen Taus unter nackten Kinderfüßen? Oder pinkfarbene Sonnenuntergänge und Regenbögen nach einem Gewitter? Stundenlang streunten wir – meine beiden Brüder, ich und jede Menge Freunde aus dem Dorf – an Bachläufen entlang, bauten Staudämme und Baumhäuser, ritten Ponys, garten Kartoffeln am offenen Feuer und ließen uns hoch auf dem Heuwagen den Wind um die Nasen wehen.
Immer Neues gab es zu entdecken und Langeweile war schlicht ein Fremdwort. Bei allem aber, was sich täglich an Neuen reizen bot – die schönsten Stunden verbrachten wir im hauseigenen Swimmingpool. Der war einst weniger aus elitären als vielmehr aus notwendigen Gründen angelegt worden. Den Bauernhof mit mehr als einhundert muhenden, grunzenden und wiehernden Vierbeinern auch nur für ein paar Tage für einen familiären Kurztrip zu verlassen, war für meine Eltern schier unmöglich. Und so baute mein Vater eines Frühlings in wochenlanger Knochenarbeit die tiefblaue Urlaubsentschädigung. Zur Freude seiner Sprösslinge. Nicht selten wurden wir nach stundenlangen Wasserschlachten bläulich durchgefroren von unseren Eltern mit besorgter Miene aus dem kühlen Nass befördert. Es war eine Riesengaudi! Und es war der Ort, an dem ich eine der alltäglichsten und doch wichtigsten Erfahrungen meines Lebens machte: Ich lernte, wie man schwimmt.
Hab keine Angst, lass dich fallen! Du weißt doch, wie es geht. Vertrau dem Wasser!
Ich war fünf und eine richtige Wasserratte, doch ohne Schwimmflügel war ich vollkommen aufgeschmissen. Ich glaubte einfach nicht, dass die Wogen mich tragen, statt verschlingen würden. Und so blieb die Schwimmhilfe fest an die Arme gezurrt. Mit engelsgleicher Geduld versuchte mein Vater mir das Unmögliche beizubringen. Rein technisch hatte ich es längst begriffen: Richtige Armbewegung, Brustbeinschlag, Einatmen, Ausatmen – und vor allem: keine Angst. Doch die Umsetzung schien ungleich schwerer: Jedes Mal, wenn mein Vater seine Arme, auf denen ich der Länge nach ausgebreitet im Wasser lag, langsam senkte, überfiel mich Panik! Ich begann wie wild zu rudern, verlor die Kontrolle, vergaß das Atmen und schluckte Unmengen Wasser. Es war absolut kein Vergnügen, doch ich wollte ich es unbedingt: Schwimmen!
Mit ruhiger Stimme ermutigte er mich: „Hab keine Angst – lass dich fallen! Du weißt doch, wie es geht. Vertrau dem Wasser! Es ist stärker als du. Es wird dich tragen.“ Und tatsächlich: Eines Tages war es soweit. Nie vergesse ich die ersten Meter, die ich ohne jegliche Hilfe hinter mich brachte. Mein Vater hatte Recht behalten: das Wasser trug.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Tiefes Wasser kann mich längst schon nicht mehr schrecken, doch manch andere Befürchtung umklammert von Zeit zu Zeit meine Seele. Werden wir in unserem Land noch einmal Krieg erleben? Wann kommt es zur ultimativen Klimakatastrophe? Wird uns irgendwann irgendwer bis in unsere eigenen vier Wände hinein kontrollieren? Werden eines Tages auch in unserem Land Menschen wieder für ihre Weltanschauung, ihren Glauben oder ihre Herkunft geächtet, gejagt, verhaftet, eingesperrt und am Ende gar getötet?
Und was ist mit mir? Auch private Ängste und kleine Feigheiten rauben mir den Seelenfrieden: Wie wird mein Leben in zwanzig Jahren aussehen? Wird mich Krankheit treffen? Werde ich im Alter einsam sein? Und vor allem: Wird mein Glaube bis zum Ende durchhalten? Werde ich stark sein? Wird Gott für mich stark sein?
Wie wird mein Leben in zwanzig Jahren aussehen? Wird mich Krankheit treffen? Werde ich im Alter einsam sein?
Immer dann, wenn der Zweifel an mir nagt, denke ich an diesen Sommer zurück und weiß: Glauben, das ist wie Schwimmen. In Gedanken steige auf den Beckenrand, breite meine Arme aus und sage mir: „Dort unter dir, dieses riesige Becken voller Wasser, ist das Meer der Liebe Gottes. Hab keine Angst! Du weißt, wie es geht. Lass dich fallen. Vertraue dem Wasser. Es ist stärker als du. Es wird dich tragen.“
Gottes Liebe ist wie der Ozean. Sie ist die größte Realität unseres Lebens, auch dann, wenn wir sie nicht sehen und nur selten fühlen oder gar begreifen. Im Glauben lassen wir uns fallen. Gegen allen Zweifel. Gegen alle Ängste. Heute und morgen. Jeden Tag neu. Und wir erleben: Es stimmt! Das Wasser – es trägt.
SABINE MÜLLER
ist Redaktionsleiterin von MINDO und Texterin.