Wie lange dauert es, bis man den Tod eines geliebten Menschen verarbeitet hat? Eine Frage, die ich relativ schnell nach dem Suizid meines Mannes gegoogelt habe. Die Antworten waren teils präzise: Das klassische Trauerjahr sollte genügen, vielleicht auch zwei. Danach sollte es besser werden. Andere erklärten die Trauerphasen, die sich an Modellen von Elisabeth Kübler-Ross oder Verena Kast orientierten. Eine eindeutig gültige Antwort gab es jedoch nicht.

 

Trauer lässt sich nicht in ein starres Konzept pressen. Vor allem nicht nach einem Suizid, wo die Trauer noch ein paar mehr Arme hat, wenn sie einen packt. Trauer kommt und geht wie ein eigener Organismus. Wie ein nerviger Bekannter, der plötzlich vor der Tür steht, wenn es so gar nicht passt. Der immer, wenn er wieder gegangen ist, Spuren hinterlässt. Mal muss man nur einige Krümel wegsaugen, ein anderes Mal hinterlässt er so eine Sauerei, dass man die ganze Wohnung renovieren muss. Eins aber bleibt nach jedem Besuch: Das Zuhause wird immer ein kleines bisschen aufgeräumter und heller.

 

Eigentlich wusste ich das. Der Suizid meines Mannes war nicht der erste Trauerfall in meinem Leben. Außerdem hatte ich mit ihm fast zehn Jahre in einer Beratungsstelle gearbeitet, auch mit trauernden Menschen. Letztendlich ist jede einschneidende Lebensveränderung ein Trauerprozess. Ständig müssen wir loslassen, uns nach Neuem ausrichten. Das beginnt mit der Geburt – dem ersten Veränderungsprozess unseres Lebens – und geht dann ständig weiter. Wir verabschieden uns von Freunden, Gruppen, Jobs, Wohnorten, Landschaften, Kulturen, Vorstellungen.

Es wird ständig gestorben – aber auch ständig gelebt. Das wusste ich. Und daran wollte ich mich festhalten. Ich wollte ein Ziel vor Augen haben, eine Hoffnung, dass das Leben irgendwann zu mir zurückkehrt, mitten in dieses Grauen. Denn genau das war die erste Zeit nach dem Suizid meines Mannes: das nackte Grauen!

 

Das Grauen umarmen

Klingt furchtbar. Ist es auch. Das Grauen steckt voller Furcht. Blanker Furcht. Wenn man jedoch nur einen einzigen Buchstaben in diesem Wort vertauscht, wird das Wort „Frucht“ daraus. So paradox es klingt, aber das Grauen hat Potenzial. Wenn man es annimmt. Doch das ist alles andere als leicht.

 

Nach dem Tod eines geliebten Menschen passiert Vieles gleichzeitig. Der Mensch ist nicht mehr da, die Liebe aber schon. Mal fühlt sich wie abgeschnitten, nicht komplett, ein Teil von einem selbst ist verschwunden. Gleichzeitig hat man aber kaum Möglichkeiten, das zu spüren, weil man so viel organisieren muss: die Beerdigung und die Nachlassverwaltung. Wenn man Glück hat, ist man damit durch. Nach einem Suizid sieht das oft anders aus.

Hier spielt die Polizei noch eine Rolle, manchmal kann man den Leichnam nicht mehr sehen, manchmal findet man ihn selbst. Der Suizid schlägt ein wie eine Granate, niemand ist darauf vorbereitet. Zuerst erwischt es einen selbst, dann werden die anderen von der Wucht getroffen. Alle sind plötzlich verletzt. Wer am nächsten dran war, bekommt die meisten Splitter ab. Einige kratzen nur an der Oberfläche, andere sitzen tief drin und beginnen irgendwann zu eitern oder verletzen sogar Organe. Manchmal bringt der Suizid weitere Erschütterungen mit sich oder verbrennt sogar ganze Teile des Landes. So war es bei uns.

Ein Suizid schlägt ein wie eine Granate, niemand ist darauf vorbereitet. Zuerst erwischt es einen selbst – dann werden die anderen von der Wucht getroffen.

Mein Mann hat nicht nur Suizid begangen. Nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er uns hoch verschuldet hatte. Wir hatten keinen Cent mehr auf dem Konto. Stattdessen Kredite, bis ans Limit ausgeschöpft. Meine damals dreijährige Tochter und ich verloren nicht nur unsere Familie, sondern auch unsere Sicherheit. Es hat Monate gedauert, bis ich eine Witwenrente bekam. Über ein Jahr, bis ich wusste, ob wir unser Haus behalten können. Ein weiteres Jahr, bis ich wusste, ob und was ich beruflich noch machen kann. Es hat ewig gedauert, bis die Trauer gefühlsmäßig Raum bekam. Weil vorher so viel Existenzielles geklärt werden musste.

 

In dieser Zeit des Grauens leisten wir Unvorstellbares. Weil wir müssen. Entweder wir stellen uns dem Grauen oder wir schlagen ihm die Tür vor der Nase zu. Doch dadurch ändert sich nichts. Das Grauen wartet wie ein treuer Hund vor der Haustür, bis wir sie wieder öffnen. Notfalls kommt es zur Hintertür hinein.

Es ist da. Auch wenn es mir nicht gefällt. Ich halte es kaum aus. Es ist furchtbar – und es ist fruchtbar. Denn es bleibt nicht ewig. Irgendwann geht es wieder. Nachdem ich es umarmt und gesagt habe: „Es ist okay, dass du da bist. Irgendwas machen wir mit dir. Du hast Potenzial – wie alles im Leben.“ Irgendwann ist es zufrieden, das Grauen, und macht einem neuen Besucher Platz: der Ruhe.

 

Ruhen und Erden akzeptieren

Irgendwann geht nichts mehr. Menschen brauchen Pausen, um sich zu regenerieren. Und wenn wir sie nicht bekommen, holt unser Körper sich diese Pausen selbst. Je nachdem, welche Bugwelle ein Todesfall oder Suizid nach sich zieht, dauert es lange, bis das Grauen abgeebbt ist. Bei mir waren es etwa eineinhalb Jahre Daueranspannung. Danach konnte ich langsam loslassen. Und dann kam die Ruhe – allerdings nicht so friedfertig, wie sie klingt.

 

Meine Ruhe war eher penetrant. Wie ein Besucher, der mir nicht mehr von der Seite weicht. Mein Körper fühlte sich extrem schwer an. Ich war Monate lang nur noch müde. Ich konnte stundenlang schlafen und hatte einen Infekt nach dem anderen. Diese hartnäckige Ruhe blieb so lange, bis ich mich quasi selbst wieder eingeholt hatte. Bis ich dazu in der Lage war, mich nicht mehr nur um das zu kümmern, was erledigt werden musste, sondern auch um mich selbst. Aber: Wer war das eigentlich? Ich selbst?

Beim Erden schlagen wir neue Wurzeln. Wir tasten uns vorsichtig vor in eine neue Welt. In ein Leben, das es vorher nicht gab.

Nach dem Ruhen kam das Erden. Eine Zeit, in der man herausfindet, was von einem noch übrig ist. Was hat die Explosion überlebt, und was nicht? Was möchte ich überhaupt noch behalten? Und was gibt es vielleicht, das all die Jahre brach gelegen hat? Gibt es gar Facetten an mir, die ich noch nicht entdeckt habe?

 

Es ist eine Zeit des Fragens, aber auch des Fühlens. Denn während des Grauens und des Ruhens haben Emotionen oft wenig Raum. Oder sie sind so heftig, dass sie uns unkontrolliert mitreißen. Beim Erden haben wir die Gelegenheit zum Nachtrauern. Wir können uns das Grauen aus sicherer Distanz anschauen und neu einordnen. Wir können Wut, Scham und Schuldgefühle, die fast immer mit einem Suizid einhergehen, nachfühlen, anders ausdrücken und neu bewerten.

Beim Erden schlagen wir neue Wurzeln. Wir tasten uns vorsichtig vor in eine neue Welt. In ein Leben, das es vorher nicht gab. Das nicht wie durch einen Suizid von außen verändert wird. Sondern das wir selbst gestalten – sofern wir uns dazu entscheiden.

 

 

Aufs Grünen warten

Das Erden hat bei mir dazu geführt, einen neuen Beruf zu erlernen: Bildhauerei. Dabei habe ich eine Bildhauerin kennengelernt, die ein von außen unscheinbares, aber immens wichtiges Thema in ihren Plastiken verdeutlicht: die Verpuppung. Wir möchten, dass alles möglichst schnell geht. Nicht umsonst habe ich kurz nach dem Suizid gegoogelt, wie lange dieser ganze Scheiß womöglich anhalten wird. Was wir dabei aber übersehen, ist die wertvolle Wartezeit.

 

Ich hasse sie. Aber ohne sie geht nichts. Selbst wenn ein Keimling die dicksten Wurzeln hat, können wir ihn nicht dazu zwingen, sofort ein Baum zu werden. Wenn wir an seinen ersten Blättern ziehen, reißen wir sie höchstens ab. Oder wir entfernen vielleicht sogar die noch jungen Wurzeln. Bei Raupen ist die Verpuppung das von außen unspektakulärste Stadium. Doch genau in dieser Zeit werden sie zu Schmetterlingen. Und genau das passiert auch mit uns beim Grünen.

 

Wir können es nicht erzwingen, aber es wird passieren. Irgendwann treiben wir wieder aus. Irgendwann sind wir wieder ein großer, tief verwurzelter Baum. Wir sind nicht derselbe, der wir vorher waren – aber wir leben. Ich behaupte, sogar intensiver als zuvor. Sofern wir uns auf die verschiedenen Besucher der Trauer einlassen.

 

Wie lange das dauert? Ich habe keine Ahnung. Ich bin nach über vier Jahren selbst noch dabei. Die drei Freunde Grauen, Ruhen und Erden kommen immer noch ab und zu vorbei, aber sie bleiben immer kürzer und die Abstände zwischen ihren Besuchen werden länger. Das Grünen hingegen ist bei mit eingezogen und treibt ab und zu Blätter. Vielleicht kommt demnächst auch eine Blüte?

 

Ob wir uns Trauer als Phasen, Jahre, Wellen oder Besucher vorstellen – sie ist stets höchst individuell und hat viel mit der Persönlichkeit und den Umständen zu tun, in denen wir einen Verlust erleben. Letztendlich ist die Dauer auch nicht so wichtig, denn sicher ist: Es endet irgendwann. Trauer ist ein Zyklus, der immer wiederkehrt und sich verändert, bis er schließlich ganz verebbt.

 

Mit dem Profi surfen

Diese grauen Wellen können uns Angst machen. Weil sie unberechenbar sind. Wir können aber kontrollieren, was wir mit ihnen machen. Ob wir gegen sie kämpfen oder mit ihnen schwimmen – oder sogar auf ihnen surfen! Ab und zu gelingt mir das. Weil ich nicht alleine auf die Wellen klettern muss. Weil ich einen Surflehrer habe. Jemanden, der Profi ist im Grauen aushalten, im Ruhen und Erden, im Grünen.

Gott hat es ausgehalten, dass ich eine lange Zeit gar nicht mit ihm gesprochen, sondern nur geseufzt habe.

In der Trauer war ich nicht alleine. Es gibt eine Konstante, die sich nie verändert. Für mich ist das der Schöpfer, Gott, der Anfang und das Ende. Ihn konnte ich anbrüllen, wenn ich rasend war vor Wut. Zu ihm konnte ich stumm schreien, wenn ich vor Verzweiflung am Boden lag. Bei ihm konnte ich mich zurückziehen, wenn ich nur schlafen konnte. Er hat meine Scham und meine Schuldgefühle, die man oft nach einem Suizid hat, nicht nur ausgehalten, sondern verstanden. All die „Was-wäre-wenn-ich-dies-oder-das-anders-gemacht-hätte-dann-wäre-er-heute-noch-am-Leben“-Quälereien.

 

Gott hat es ausgehalten, dass ich eine lange Zeit gar nicht mit ihm gesprochen, sondern nur geseufzt habe. Dass ich genervt von ihm bin, sauer, weil er nicht so eingreift, wie ich das gerne hätte. Gott kann das, was ich oft nicht kann. Er hält mich und die Trauerwellen aus. Weil er weiß, wie das ist. Am Kreuz hat sein Sohn Jesus das Grauen erlebt, im Grab das Ruhen, im Totenreich das Erden, und nach seiner Auferstehung das Grünen. Er ist der Meister im Groeien – so nenne ich dieses Prinzip. „Groeien“ ist Niederländisch und bedeutet „Grünen und Wachsen“.

 

Und doch klingt das Grauen und Ruhen noch durch. Ein Wort, das man kaum aussprechen kann, weil Trauer manchmal genau das ist: unaussprechlich. Eine Art unbequeme Hygge. Etwas, das keiner will, aber jeder braucht. Denn wie gesagt: Gestorben wird immer. Gelebt aber auch.

Nicole Schenderlein

ist Journalistin, Bildhauerin und Projektleiterin von  „Blattwenden“, einem Angebot für Suizidhinterbliebene und Menschen in anderen Lebensumbrüchen.

 

Mehr: www.blattwenden.eu

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