Am frühen Morgen des 12. Mai 2015 weckte mich meine Mitbewohnerin mit den Worten: „Ich glaube, Marzias Sohn ist tot!“ Sie hatte einen Facebook-Post gelesen. Und tatsächlich: Unmissverständlich stand dort, dass der fünfjährige Matteo einen Verkehrsunfall am Nachmittag zuvor nicht überlebt hatte.

 

Marzia war in diesem Frühjahr einmal ohne ihren Mann, aber mit den beiden Kindern und ihren Eltern an der Nordsee im Urlaub. Ein unbeschrankter Bahnübergang wurde ihnen zum Verhängnis. Sie hatten aus dem Autofenster noch die Schafe bestaunt, dann erinnert sie sich nur noch an diese zwei Worte: „Der Zug…!“ Er erfasste das Auto der Familie. Marzia und ihre Eltern wurden schwer verletzt. Die kleine Tochter kaum. Matteo aber hatte keine Chance – er starb noch an der Unfallstelle.

 

Ich kenne Marzia seit vielen Jahren von unserer gemeinsamen Arbeit bei einem Fernsehsender. Matteo krabbelte damals durch die Redaktion und durchs Studio, während Mama moderierte. Sein Tod hat auch mich zutiefst erschüttert. Wie hält man das aus? „Eigentlich gar nicht“, sagt Marzia, und weiter: „Ich halte das nur mit Gott aus.“ Viele halten sie für stark, „weil sich wohl niemand vorstellen kann, so ein Schicksal zu überleben. Wenn du dein Kind verlierst, willst du nicht mehr leben!“

 

Weiterleben, irgendwie

Fünf Jahre nach dem Unfall lebt Marzia immer noch, und das sehr dankbar. Als Christin ist sie zutiefst davon überzeugt, dass es ihrem verstorbenen Sohn Matteo jetzt sehr gut geht. Hätte sie diese Gewissheit nicht, wäre sie verrückt geworden, sagt sie.

Und trotzdem: Sie vermisst Matteo sehr. Diese ambivalenten Gefühle sind schwer auszuhalten für sie selbst und auch für Außenstehende. Trauernde hören oft Sätze wie: „Ihm geht es doch jetzt gut“, oder beim Tod nach schwerer Krankheit: „Sie ist jetzt doch erlöst“, und meinen damit so etwas wie: „Sei froh, dass es ihr jetzt viel besser geht!“ Für Hinterbliebene aber bleibt der Verlust und die Traurigkeit. Verstorbene fehlen immer, ein Leben lang. Ob sie mit fünf Jahren aus dem Leben gerissen wurden oder mit 88 Jahren nach einem erfüllten Leben friedlich eingeschlafen sind. Menschen hinterlassen eine Lücke, wenn sie gehen.

 

Oder einen Riss – wie in Marzias Leben. Ihre Ehe ging daran kaputt. Marzia und ihr Mann haben die Experten sagen hören, dass 90 Prozent aller Beziehungen an so einem Schicksal nach spätestens zwei Jahren zerbrächen. Ihre zerbrach nach drei Jahren. Auch, weil Marzia sich der Trauer anders stellte als ihr Mann. Marzia hat viel geredet, hat genossen, dass andere zuhörten, mit ihr weinten und sie umsorgten. Nach dem schweren Unfall musste sie ja auch körperlich gesund werden, was viele Monate dauerte. „Zentimeter für Zentimeter bin ich wieder auf die Füße gekommen“, sagt sie.

Menschen hinterlassen eine Lücke, wenn sie gehen – ein Leben lang.

Bereits wenige Tage nach dem Unfall, noch im Krankenhaus, hatte sie eine Petition gestartet: Für besser gesicherte Bahnübergänge. Die Petition ist leider gescheitert, auf ihre Forderung wurde von offizieller Seite nicht eingegangen. Und doch hat sie vieles bewirkt, erzählt Marzia: „Innerhalb kürzester Zeit haben über 50.000 Menschen unterschrieben, weil sie unser Schicksal und die Situation an Bahnübergängen in Deutschland sehr berührt hat. Diese Menschen überqueren Bahnübergänge heute anders als vorher, das könnte man also durchaus als Erfolg werden – als ,menschlichen‘ oder sehr ,praktischen‘.“ Und: Marzia hat diese Arbeit geholfen, das zu verarbeiten, was sie erlebt hatte: „Ich konnte dem Ganzen auf diese Weise einen positiven Knick geben, so etwas wie einen Sinn. Aus dieser schlimmen Situation etwas Gutes zu ziehen, war sehr heilsam.“

 

Marzia hatte lange große Angst, sie könnte Matteo irgendwann vergessen. Sie klammerte sich daher an Erinnerungen: An seine markigen Sprüche, an sein Lachen, seine Lieblingsspielzeuge. Viele sagten ihr, dass sie ihren Sohn niemals vergessen würde. Aber dass ihre Erinnerung blasser würde – und das sei gut so. Marzia weiß heute, dass das stimmt: „Ohne dieses schleichende Loslassen würde ich nicht überleben.“

 

Die Narben bleiben

Zu Matteos Abschiedsfeier, die die Familie bewusst von der Beisetzung getrennt hatte, haben ihr Eltern von Matteos Freunden ein besonderes Geschenk gemacht: Jeder hatte Erlebnisse mit Matteo aufgeschrieben. In dieser bunten, fröhlichen Mappe blättert Marzia heute immer wieder und lacht und weint gleichzeitig. Das ist ihr zu einem kostbaren Erinnerungs-Ritual geworden.

 

Die Narben des Unfalls werden ihr ein Leben lang bleiben. Die seelischen genauso wie die körperlichen. Aus einer großen Narbe an ihrer linken Wade hat Marzia mittlerweile ein Kunstwerk der Erinnerung machen lassen. „Niemals lasse ich mir ein Tattoo stechen!“, war jahrzehntelang ihr Credo. Nun ziert ihr Unterschenkel ein buntes Watercolour-Tattoo mit Bedeutung. Alle in der Familie lieben Musik, für Marzia ist sie Beruf und Berufung zugleich, sie arbeitet als Sängerin. Ein großer Notenschlüssel zeugt davon, die drei Noten stehen für ihre drei Kinder. Die mit dem Stern ist für Matteo, denn er ist ja im Himmel. „Wenn ich dieses Tattoo sehe, klopft mein Herz – weil es so schön ist und ich in dem Moment immer an alle meine Kinder denke“, sagt Marzia.

 

 Ein Tattoo überdeckt heute die Unfallnarben an Marzias Bein, die Noten stehen für ihre Kinder – die mit Stern erinnert an Matteo.

Ein Tattoo überdeckt heute die Unfallnarben an Marzias Bein, die Noten stehen für ihre Kinder – die mit Stern erinnert an Matteo.

 

Was gibt sie Menschen mit, die ein ähnliches Schicksal zu tragen haben, will ich von Marzia wissen. Sie überlegt kurz, betont dann, dass jeder Mensch anders sei und anderes brauche. Es gebe die Extrovertierten, die viel reden, und die Introvertierten, die sich in sich zurückziehen. Viele hätten ein tolles Umfeld, andere vielleicht nicht. Und manch einer sei in irgendeiner Weise gläubig, andere nicht. Marzia ist gläubige Christin, darum beginnt ihre Liste mit den Tipps für andere Betroffene mit einem Punkt, der aus ihrem tiefsten Herzen kommt:

 

Suche Trost bei Gott. Du kannst nie tiefer fallen als in seine Hand. Ich habe es genau so erlebt.

 

Suche dir Menschen, die dir guttun, und deren Herzen für dich offen sind. Mit denen du weinen kannst, wütend sein kannst. Menschen, die dich festhalten, umsorgen und ganz praktisch für dich da sind.

 

Such dir einen Therapeuten. Traumata können wir selten in angemessener Form allein bewältigen. Experten haben mir geholfen, meine schlimmen Erlebnisse gut zu verarbeiten.

 

Schließ dich Selbsthilfegruppen an. Für Menschen mit einem ähnlichen Schicksal wie meinem gibt es zum Beispiel die „Verwaisten Eltern“. Mit anderen zu sprechen, die ähnliches erlebt haben, und damit gegen das Verdrängen anzugehen, ist so hilfreich.

 

Schreibe einen Brief an die Person, die du verloren hast. Alles, was du nicht mehr sagen konntest, kannst du auf diese Weise loslassen. Und Loslassen ist im Trauerprozess so wichtig.

 

 

Tina Tschage

Theologin und Redakteurin, seit vielen Jahren freiberuflich tätig als Coach, Autorin, Rednerin und Zeremoniarin.

 

tina-tschage.de

 

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