Die medizinische Fachbezeichnung der Gruppe von Störungen, zu denen das „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom“, kurz ADHS, gehört, heißt „Hyperkinetische Störungen“. Hyperkinese ist eigentlich „besonders hohe Bewegung“, und wenn das eine Person selbst und vielleicht noch mehr ihre Mitmenschen besonders stört, weil vernünftige Verhaltensweisen wie ruhige, überlegte Entscheidungen und sinnvolle Fokussierungen der Aufmerksamkeit nicht stattfinden können, sagt man „Störung“ dazu.

 

Die Entdeckung der (Un-)Ruhestörung ADHS

Vor etwa 30 Jahren wurde ADHS zu einer viel zu oft gestellten Mode-Diagnose, woraus in aller Regel die einseitige Behandlung durch Medikamente resultierte, insbesondere mit dem bekannten „Ritalin“. Früher dachte man, dass nur Kinder und Jugendliche ADHS haben können, aber um die Jahrtausendwende setzte sich die wissenschaftliche Erkenntnis durch, dass Erwachsene genauso betroffen sein können, wenn sich auch die Symptomatik bei ihnen insgesamt etwas von der äußeren (motorischen) Unruhe zur inneren verschiebt.

 

Weil es schwer ist, die Zahl der wirklich an ADHS Leidenden genau einzugrenzen, lässt sich nicht exakt bestimmen, wer betroffen ist; man spricht von 2 bis 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen vor allem männlichen Geschlechts, was aber auch daran liegen kann, dass bei Mädchen die Symptome nicht unbedingt so auffällig sind. Unbehandeltes ADHS in der Jugend setzt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch im Erwachsenenalter fort.

 

Heute weiß man mehr

Von früher her haben die Behandlung und Diagnose von ADHS noch heute einen schlechten Ruf, aber zumindest in der medizinischen Wissenschaft hat man viel dazu gelernt:

 

▹ Heute weiß man, dass die Ursachen von ADHS nicht auf genetische und gehirnorganische Defizite reduziert werden können, wenngleich die geerbte Veranlagung eine wichtige Rolle spielt.

 

▹ Heute gilt die Norm, bei der Diagnose sehr genau hinzuschauen, ob wirklich ADHS vorliegt oder nicht, weil vieles von der Symptomatik auch jenseits dieser Erkrankung vorkommt.

 

▹ Man hat verstanden, dass gar nicht unbedingt Krankheit dazu gesagt werden muss, weil es Menschen gibt, die trotz ADHS glücklich und erfolgreich im Leben zurechtkommen.

 

▹ Man berücksichtigt, dass die Hauptproblematik darum nicht in der ADHS liegen muss, aber dass die sogenannte Komorbidität, nämlich die Folge des Problems in anderen Störungsbereichen, besonders berücksichtigt werden muss. Zum Beispiel kann ADHS einen wesentlichen Anteil bei der Entwicklung zu einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung haben, sehr oft auch an der Entstehung von Süchten; viele ADHS-Betroffene beruhigen sich mit Cannabis oder Alkohol.

 

▹ Man setzt weiterhin auf Medikamente wie Ritalin, weil diese angemessen dosiert eine anerkannt gute Wirkung haben können, aber man behandelt so nicht prinzipiell, sondern abgestuft: Leichtere Formen von ADHS brauchen keine Medikation, wohl aber Psychotherapie und verwandte Maßnahmen wie Ergotherapie, und auch bei den schwereren Formen wird den psycho- und soziotherapeutischen Hilfen Vorrang gegeben. Betroffene haben oft große Schwierigkeiten, ihre Zeit einzuteilen und sich überhaupt sinnvoll zu strukturieren, darum liegt darin ein hauptsächlicher therapeutischer Schwerpunkt.

Früher dachte man, dass nur Kinder und Jugendliche ADHS haben können, aber um die Jahrtausendwende setzte sich die Erkenntnis durch, dass Erwachsene genauso betroffen sein können, wenn sich auch die Symptomatik bei ihnen insgesamt etwas verschiebt.
Zu wenig Belohnungsstoff im Gehirn

Genetische Ursachen wirken nicht einfach aus sich selbst heraus, sondern sie werden häufig erst durch Umwelteinflüsse wie etwa Stressereignisse wachgerufen. Darum ist es zweifellos richtig, ADHS auch als ein Krankheitssymptom unserer Gesellschaft zu deuten, in der viele Kräfte wirken, die uns daran hindern, zur Ruhe, zu uns selbst und zu dem zu kommen, was unser ganzes Interesse lohnt. Bei ADHS-Veranlagten passt das wie der Schlüssel ins Schlüsselloch, weil ihr Gehirn anscheinend zu wenig Dopamin produziert, das ist der Wohlfühlstoff, den es ausschüttet, wenn es wahrnimmt, dass sich etwas lohnt. Noch mehr Aktivität, um überhaupt etwas Lohnendes zu erleben, ist somit ein großes Thema, das ADHS-Betroffene mit dem gesellschaftlichen Mainstream gemeinsam haben.

 

Überdreht wie bei zu wenig Schlaf

Dem scheint sich noch eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Mainstream zuzugesellen: Wer ADHS hat, muss sich womöglich durch ständige Unruhe gewissermaßen dauernd wachhalten, worin Experten zufolge wahrscheinlich ein Grund dafür liegt, dass Mittel wie Ritalin so hilfreich sein können, obwohl sie eigentlich nicht beruhigen, sondern anregen. Das hyperaktive Wachbleiben anstelle eines vernünftigen biorhythmischen Wechsels von Tag und Nacht mit so viel Schlaf, wie man tatsächlich braucht, ist ja ebenfalls ein starker gesellschaftlicher Trend.

 

Frühzeitig vorbeugen

Für Kinder und Jugendlichen wurden drei Kernsymptome von ADHS definiert:

 

▹ Aufmerksamkeitsstörungen,

▹ Hyperaktivität und

▹ Impulsivität, das heißt: große Schwierigkeiten, seine Emotionen zu kontrollieren.

 

Es macht Sinn, bei dieser Symptomatik bald fachdiagnostisch abklären zu lassen, ob ADHS vorliegt oder nicht. Man weiß heute, dass frühzeitige präventive Maßnahmen bei Anzeichen von ADHS schlimmen Auswirkungen gut vorbeugen können. Die wohl wichtigste und nachhaltigste Prävention scheint aber darin zu bestehen, Kindern natürliche Geborgenheitserfahrungen in einer familiären Gemeinschaft zu vermitteln, die ihnen vorlebt, wie Konzentration auf sinnvolle Angelegenheiten gelingt, und sie proaktiv dabei miteinbezieht.

Dr. Hans-Arved Willberg

ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe und Philosoph. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e.V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig. Er hat mehr als 30 Bücher und zahlreiche Zeitschriftenartikel veröffentlicht. 

 

www.isa-institut.de

 

 www.life-consult.org

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