Das Prinzip der Achtsamkeit ist immer gleich. Wenn wir trotzdem verschiedene Achtsamkeitsübungen unterscheiden, liegt es daran, dass wir dieses Gleiche auf unterschiedliche Situationen anwenden. Insofern gibt es so viele mögliche Achtsamkeitsübungen wie es mögliche Situationen gibt. Oder sagen wir es so: Ich kann mich in jeder Situation darauf besinnen, sie als Achtsamkeitsübung zu betrachten. Also gibt es unendlich viele Achtsamkeitsübungen. Achtsamkeit üben heißt: Lebenskunst üben.
Und doch gibt es in diesen tausendfachen Übungen eine Grundübung, auf die wir mit wachsender Selbstverständlichkeit tausendfach zurückkommen. Wir passen sie nur auf die jeweiligen Situationen an. Das Thema der Grundübung lautet: „Ich komme zu mir und ich bleibe bei mir.“
Es gehört zum ganz normalen Alltag, dass wir nicht mehr ganz bei uns sind. Zum Beispiel verspannen wir uns, weil wir gerade nicht in der Lage sind, mit empfundenem Druck anders zurechtzukommen. Alle Verspannungen sind Schutzreaktionen. Wir wollen damit Angriffe abwehren. Wenn wir zu sehr darauf bedacht sind, dann sind wir nicht mehr ganz bei uns selbst und manchmal auch nicht mehr bei Sinnen. Wir verlieren zwar nicht das Bewusstsein, aber die Besinnung; wir geraten in einen Zustand der Unbesonnenheit.
Achtsamkeit üben heißt: Lebenskunst üben.
Ich brauche Geduld und ein freundliches Verhältnis zu mir selbst, um darauf achtsam zu reagieren. Wenn ich mir oder anderen den Vorwurf mache, schuld an meinem verspannten Zustand der Unbesonnenheit zu sein, verändere ich nichts an diesem Zustand. Wenn ich aber einfach nur die Anspannung wahrnehme und als Wirklichkeit akzeptiere, ohne sie negativ oder positiv zu beurteilen, kann ich wieder zu mir kommen.
Die Übung der Achtsamkeit ist immer ein Zurückkommen zur Achtsamkeit, auch dann, wenn wir uns mitten in einer bewussten Achtsamkeitsübung befinden. Nur ist dann der Weg zurück viel kürzer, weil er grundsätzlich nur noch in einer sanften Erinnerung besteht.
Unser zweiter Schritt auf dem Achtsamkeitsweg ist daher die Grundübung der Achtsamkeit unter optimalen Bedingungen.
Optimale Bedingungen für die Grundübung schaffen
Wir können die Grundübung der Achtsamkeit am leichtesten durchführen, wenn wir für optimale äußere Bedingungen dazu sorgen. So bereitest du dich am besten darauf vor:
→ Suche dir einen Platz, an dem du mindestens für die nächste halbe Stunde garantiert ungestört bist.
→ Wenn du zu müde bist, gib besser dem Schlafbedürfnis Priorität. Dasselbe gilt für alle anderen vordringlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten.
→ Sorge dafür, dass du dich an diesem Platz wohlfühlst.
→ Trage Kleidung, die dich nirgends unnötig einengt.
→ Stelle einen Stuhl oder Sessel bereit, der folgende Bedingungen erfüllt: Die Sitzhöhe ist so, dass Unter- und Oberschenkel ungefähr einen rechten Winkel bilden und sich die Fußsohlen ganz auf dem Boden befinden. Die Sitzfläche ist nicht zu hart und ermöglicht es, das Gesäß so an der Rückenlehne zu platzieren, dass du leichten Kontakt mit dem Steißbein zu ihr hast. Die Rückenlehne ist so steil, dass du dich in dieser Sitzposition aufrecht sitzend mit den Schulterblättern anlehnen kannst.
→ Nimm nun genau diese beschriebene Sitzhaltung ein. Die Hände legst du am besten auf die Oberschenkel. Setze dich aufrecht hin, dabei aber auch entspannt. Lockere deine Schultern. Wahrscheinlich passt es für dich, die Augen zu schließen, aber das ist deine Entscheidung.
→ Wahrscheinlich hast du noch etwas anderes zu tun an diesem Tag. Lege darum ein Zeitlimit für die Übung fest. Ich empfehle maximal eine halbe Stunde. Du kannst dir einen Wecker stellen, weil es dich sonst unnötig ablenken würde, immer wieder auf die Uhr zu schauen.
Jetzt sind die Bedingungen optimal und du kannst anfangen.
ACHTSAMKEITS-ÜBUNG NR. 2:
DIE ELEMENTE DER GRUNDÜBUNG
Ich darf nochmals daran erinnern: Das Prinzip der Grundübung ist in allen Lebenssituationen dasselbe. Was sich ändert, sind nur die Umstände. Das Besondere an dieser Übung des zweiten Schritts ist darum auch nur der Umstand: Es ist eine Übung unter optimalen Bedingungen.
Nachdem du diese Bedingungen nun hergestellt hast, kommt alles darauf an, dass du dir die Elemente der Grundübung bewusst machst und dich beständig immer wieder neu an sie erinnerst.
1. Es geht jetzt um absolut nichts anderes als darum, nur einfach da zu sein und wahrzunehmen, wie sich das Dasein jetzt gerade äußert.
2. Wenn du dich nur darauf ausrichtest, wahrzunehmen, was die Sinne gerade deinem Bewusstsein vermitteln, kannst du den Gedanken völlig fallen lassen, vielleicht etwas falsch zu machen. Dass du etwas richtig machst, muss jetzt kein Thema sein. Stattdessen kannst du dir in aller Freiheit einfach gönnen, nichts zu machen, sondern nur wahrzunehmen, was dir gerade ins Bewusstsein kommt. Verwechsle das auch nicht damit, dir etwas bewusst zu machen. Nochmals: Nicht machen, sondern wahrnehmen! Du kannst also jetzt auch in aller Freiheit darauf verzichten, dir Gedanken zu machen oder irgendwie irgendwelche Einsichten zu gewinnen.
3. Wahrnehmen statt machen, darin liegt das A und O der Übung. Trotzdem bist du dabei gar nicht so passiv, wie es scheinen mag. Je mehr du nämlich durch die Übung zu dir selbst kommst, desto freier wird deine Willensentscheidung. Es gibt keinen Grund, sich jetzt das Wollen zu verbieten! Das heißt:
4. Du kannst ganz frei entscheiden, wohin du jetzt gerade deine Aufmerksamkeit richten willst. Niemand zwingt dich zu dieser Übung und niemand zwingt dich, dich auf bestimmte Wahrnehmungen zu fixieren. Nicht was du wahrnimmst bildet den Kern der Übung, sondern dass du wahrnimmst. Darum ist das folgende Element auch kein Muss, sondern nur eine Empfehlung, wenn auch eine sehr bewährte und gut nachvollziehbare:
5. Lenke deine Aufmerksamkeit beständig auf die Wahrnehmung des Atems zurück. Wieder geht es nicht darum, dass du jetzt irgendwie „richtig“ atmest, sondern allein darum, dass du gewissermaßen dabei zuschaust, wie dein Organismus das jetzt gerade macht. Er kann das selbst sehr gut, egal ob sich der Atem augenblicklich flach anfühlt oder tief. Vertraue deinem Organismus, dass er den Atem souverän reguliert. Nimm einfach nur aufmerksam wahr, wie sich der Atem anfühlt.
6. Es ist ebenfalls Teil der Übung und darum gar nicht verkehrt, wenn deine Aufmerksamkeit nur ziemlich kurz beim Atem verweilt und sich dann wieder anderen Wahrnehmungen widmet. Du kannst dich aber auch jederzeit wieder daran erinnern, dich dem Atem zuzuwenden. Du kannst dir sagen, dass dies jetzt Hauptgegenstand deiner Aufmerksamkeit sein soll.
7. Ebenfalls gehört es zur Übung, dass sich Impulse einstellen, etwas zu verändern. Etwas drückt oder juckt zum Beispiel und der Gedanke wird stark, eine Maßnahme dagegen zu ergreifen. Wahre jetzt deine Freiheit: Du musst dich dem Impuls weder verweigern noch musst du ihm nachgeben. Du musst gar nichts! Entscheide dich in aller Freiheit für das, was du jetzt gerade selbst willst. Zum Beispiel kannst du dich für das Experiment entscheiden, einfach nur wahrzunehmen, was passiert und wie es sich anfühlt, wenn du dem Impuls nicht nachgibst. Oder du kannst dich in derselben Freiheit erlauben, sich für ein Verhalten zu entscheiden, da du jetzt eigentlich nicht auf dem Schirm hattest.
Genau genommen besteht das Prinzip der Grundübung also aus zwei Kernelementen: den des reinen Wahrnehmens und des freien Entscheidens.
Gönne dir eine Zeit lang täglich eine halbe Stunde für die Grundübung unter optimalen Bedingungen. Plane die Zeit dafür ein und gehe achtsam im Sinn von Schritt 1 mit der Planung um. Hilfreich kann auch sein, wenn du dir (innerhalb der halben Stunde) außerdem Zeit nimmst, die Übung zu reflektieren, zum Beispiel in Form eines Tagebucheintrags.
Ein Teil der optimalen Bedingungen für die Grundübung kann sein, sich von einer anderen Person dabei mündlich anleiten zu lassen. Hierfür gibt es Anweisungen im Internet. Meine eigene findest du hier unter https://isa-institut.de/