MINDO: Herr Franke, Pornografie scheint in unserer multimedialen Welt allgegenwärtig zu sein. Aber wer konsumiert sie? Können Sie hier ein paar Zahlen nennen?

 

NIKOLAUS FRANKE: Wir wissen, dass ungefähr 10 bis 20 Prozent aller Männer mehrmals in der Woche Pornografie konsumieren und weitere 40 Prozent zirka einmal pro Woche. Dazu kommen die, die es zumindest hin und wieder tun. Bei Frauen sind es weniger: Von ihnen sehen sich zwischen 1 und 3 Prozent mehrmals die Woche pornografische Inhalte an, weitere 10 bis 15 Prozent tun dies wöchentlich und ein hoher Anteil gar nicht. Bei Männern liegt der Anteil derer, die überhaupt keine Pornografie konsumieren, lediglich bei 10 Prozent.

 

 

Noch mal zur Begriffsklärung: Was genau ist Pornografie eigentlich?

 

Eine exakte Definition ist gar nicht so einfach. Ich versuche es mal juristisch: „Pornografie sind mediale Darstellungen – also Bild und Video –, in denen sexuelle Handlungen und die Geschlechtsteile zu sehen sind und deren Fokus auf der Erregung des Betrachters liegt.“ Es geht also nicht darum, Kunst zu erzeugen oder Sexualaufklärung zu betreiben. Pornografie wird meist abgegrenzt von Erotik, indem der Pornografie zugesprochen wird, dass sie keine Beziehungsaspekte thematisiert. Sexualität findet hier in der Regel losgelöst von emotionalen und bindungsbezogenen Aspekten statt. Man könnte sagen: Es wird einfach nur gevögelt – und das soll möglichst authentisch und real wirken.

 

 

Warum konsumieren Menschen Pornografie?

 

Zum einen sind es häufig pubertierende Jungs, die sich Pornos anschauen, oft einfach, um etwas über Sex zu lernen, aber auch, um sich zu vergemeinschaften. Die schicken sich Filmchen hin und her und freuen sich dran. Mädchen tun das übrigens auch, aber sie zelebrieren eher gemeinsam den Widerstand dagegen nach dem Motto: „Iiih, wie ekelig!“

 

Anders ist es bei Singles, die mit Pornografie ihre Einsamkeit zu überwinden versuchen und dabei fantasieren, dass sie gesehen, gehalten und getragen sind. Und wieder anders ist es bei Verheirateten, die in der Pornografie Beziehungsstress verarbeiten. Mancher, der eine Kränkung oder die Zurückweisung einer sexuellen Initiative durch den Partner erlebt hat, verarbeitet dies, indem er sich mit Bewunderungsfantasien in die Pornografie begibt. Die Motive sind äußerst vielfältig. Gemein ist bei vielen, dass es um Intimitätsvorstellungen und Bewunderungsvorstellungen geht. Die Frage ist also immer: Zu welchem Zweck setzt jemand Pornografie ein?

 

Pornosucht und Leistungsdenken

Wie sieht es diesbezüglich im christlichen Umfeld aus – ist das dort anders?

 

Bei Christen machen den größten Anteil sicherlich diejenigen aus, die Pornografie als Bewältigungsmechanismus für unangenehme Gefühle nutzen. Bei denen nicht Lust und Neugierde im Vordergrund stehen, sondern – das ist zumindest meine Beobachtung nach zehn Jahren in der Arbeit – denen es schwerfällt, über ihre emotionale Bedürftigkeit nachzudenken, sie zu artikulieren und sich selbst auf konstruktive Weise Gutes zu tun.

Zu häufig lernen Christen nicht, was Sinnlichkeit ist. Oder Erholung.

Gefühle und Bedürfnisse sind für viele Christen per se schon fast „Fleischlichkeit“ und damit erlösungsbedürftig, was dazu führt, dass hier viel zu viel unbearbeitet bleibt. Zu häufig lernen Christen beispielsweise nicht, was Sinnlichkeit ist. Oder Erholung. Die protestantische Leistungsethik treibt viele an – aber wie geht Erholung? Und hier kommt dann die Pornografie hinein. Sie schenkt die Erfahrung, dass Stress, Belastung, Langeweile und Erschöpfung abfallen und Erholung, Neugierde, Trost und Rausch einsetzen. Hier leistet der Kick des Orgasmus ganze Arbeit und beschenkt mit schönen Gefühlen. Aufgrund ihrer Werte lehnen viele Christen Pornografie als unethisch ab – und gleichzeitig ist sie für ihren Emotionshaushalt ein wichtiger Schlüssel. Dann ist man zerrissen zwischen Moral und emotionalem Gebrauch. Doch eben diese emotionale Inkongruenz scheint besonders krank zu machen. Das legen wissenschaftliche Untersuchungen nahe.

 

 Begleitet Menschen beim Ausstieg aus der Pornografiesucht: Nikolaus Franke.

Begleitet Menschen beim Ausstieg aus der Pornografiesucht: Nikolaus Franke.

 

Was ist an Pornografie denn eigentlich so schlimm?

 

Der Sexualtherapeut Christoph Joseph Ahlers hat es mal gut auf den Punkt gebracht, als er sagte, dass Pornografie „programmatische Beziehungslosigkeit“ sei. Das Drehbuch des Pornos lebt davon, keinen treuen intimen Paarverkehr zu zeigen – falls es überhaupt eine Handlung gibt. Oft ist die Sexualität völlig abgekoppelt von emotionalen Aspekten der Beziehung. Es geht um reine Lustorientierung. Sexualität ist in der Pornografie ein Instrument für Lust. Und oft geht es auch um Gewalt und Macht.

 

Mittlerweile spüren wir hier deutliche Effekte: Wer regelmäßig Pornografie konsumiert, ist grundsätzlich unzufriedener mit seiner eigenen Sexualität. Weil er sich natürlich mit den konsumierten High-End-Bildern vergleicht, an die die Realität nicht rankommt – auch wenn diese realistisch betrachtet vermutlich sehr schön ist und vergleichbar erfüllend sein könnte. Die eigene, normale Sexualität fällt neben dem Pornosex immer blass aus. Und auch dass Sexualität losgelöst von Beziehung gelebt wird, wird immer selbstverständlicher.

 

 

Ist Pornokonsum ein reines Männerthema?

 

Nein. Dass Frauen hier zahlenmäßig aufholen, das beobachten wir schon seit vielen Jahren. Es gibt einen blühenden Erotikmarkt für Frauen, der künstlerisch oft anspruchsvoller ist und mit weniger verheerenden Drehbüchern daherkommt. Und trotzdem geht es auch hier um programmatische Beziehungslosigkeit.

 

Sexualität ist für Frauen häufiger ein Ausdruck für Beziehung und fungiert auch als Kit für diese, ist ein Kommunikationsaspekt. Eine Frau sagt mit Sexualität so etwas wie: „Ich vertraue dir. Ich liebe dich. Du begeisterst mich. Ich fühle mich von dir begehrt!“ Sex ist für sie die körperliche, nonverbale Sprache, die das ausdrückt. Männer hingegen stehen in der Gefahr, Sexualität stärker von diesem kommunikativen Beziehungsaspekt abzukoppeln und sie schlicht und ergreifend für sich selbst zu nutzen.

 

Selbsterfahrungs-Übungen gegen die Sucht

Sie haben mit „Raus-aus-der-Pornofalle.de“ ein Online-Angebot für den Pornoausstieg geschaffen. Was erwartet jemanden, der sich da anmeldet?

 

Ihn oder sie erwarten 15 Lektionen, für die man jeweils ein bis zwei Stunden einplanen sollte. Dieser Kurs ist als eine Selbsterfahrung konzipiert. Bei ERF Medien gab es diesen Kurs schon lange, wir haben ihn nun ganz frisch überarbeitet. Er soll Menschen in die Lage versetzen, mit sich selber eine Erfahrung zu machen. Nicht alle sind bereit, zu einem Seelsorger oder Therapeuten zu gehen. Deswegen haben wir einen Kurs erarbeitet, der stärker mit Erkenntnissen über sich selbst und Entscheidungen und persönlichen Lösungen arbeitet. Man versucht, sich selbst zu verstehen, versucht zu klären, was die eigene Dynamik ist, lernt, Entscheidungen vorzubereiten und diese dann auch zu treffen. Dazu gibt es viele praktische Ideen, die sich bewährt haben und die man für sich umsetzen kann.

 

Darüber hinaus versuchen wir, die Motivation zu stärken und die Sinnebene von Sexualität an Bord zu holen. Also die Effekte zur Überwindung von Pornografiesucht zu nutzen, die man bei sich selbst als emotionalen Boost beobachtet hat. Am Ende jeder Einheit gibt es noch einen biblischen Impuls, der ermutigen soll. Den kann man mitnehmen, muss man aber nicht, denn etwa ein Drittel der Leute, die unseren Kurs wählen, sind gar keine Christen.

 

 

Wann braucht jemand eigentlich Unterstützung von außen, eventuell sogar eine Therapie – und wann kann man den Ausstieg allein schaffen?

 

Wenn jemand sich selbst reflektieren und steuern kann, kann er zur Beratung gehen. Wenn eines von beidem nicht mehr gelingt und ein krankheitswertiges Thema im Leben dieser Person existiert, dann braucht sie eine Therapie. Wenn zum Beispiel die Sucht den Menschen schon so verformt hat, dass er sich überhaupt nicht mehr gesteuert kriegt, dann würden wir Mut machen, zum Psychiater oder Sexual-, Psycho- oder Suchttherapeuten zu gehen.

Eigentlich müssten wir heute spätestens mit Zehnjährigen über Pornografie sprechen, weil der Erstkontakt mit knapp über elf Jahren stattfindet.

Was sagen Sie jemandem, der schon seit vielen Jahren mit Pornografie lebt und darunter leidet, aber den Ausstieg nicht schafft?

 

Das kann man schwer pauschal beantworten. Aber eine Erkenntnis halte ich nach vielen Jahren in dieser Arbeit für ganz zentral: Viele Christen und Süchtige kommen zum Berater und Seelsorger, weil etwas in ihnen unter dem Thema leidet, weil sie eine moralische Zerrissenheit erleben, weil ihre Beziehung zu zerbrechen droht, weil sie Effekte bei sich merken, die sie einfach nicht mehr wollen. Die sagen: „Ich leide so sehr darunter!“ Und dann versucht man, miteinander zu arbeiten und geht Schritte in die Freiheit. Das ist die eine Seite, die in die Freiheit will.

Und dann gibt es den anderen Persönlichkeitsanteil. Der findet Pornos klasse! Zu Hause, im stillen Kämmerlein, sagt dieser „Mr. Hide“: „Ich leide überhaupt nicht unter Pornografie. Ich finde sie großartig. Ich liebe Pornos!“ Und dieser Teil trickst den Menschen immer wieder aus und sabotiert unbewusst den Weg in die Freiheit.

 

Christen stelle ich dann manchmal diese Frage: „Stell dir vor, du kommst in den Himmel, Paulus begrüßt dich an der Himmelstür und sagt: ,Ich habe leider eine schlechte Nachricht für dich: Wir alle hier oben wissen, dass du Pornos liebst – aber hier gibt es keine!‘“ Und dann frage ich: „Was ist jetzt in deinem Herzen traurig, wenn du dir die Ewigkeit ohne Pornos vorstellst?“ In der Regel kommt dann eine Antwort, die ehrlich ist. Rolf Trauernicht, von dem ich viel gelernt habe, hat die Ratsuchenden immer einen Brief an die Sucht schreiben lassen mit den zwei Fragen: „Sucht, wofür bin ich dir dankbar?“ und „Wofür hasse ich dich?“

 

 

Und was sagen Sie jemandem, der mit Pornografie lebt und darunter vermeintlich gar nicht leidet: Warum sollte er trotzdem einen Ausstieg finden?

 

Zu uns kommen ja nur Menschen, die etwas verändern wollen. Hier sollte professionelle Beratung die Leute nicht zwangsbeglücken. Wenn man mich allerdings als Sprecher zum Thema bucht, dann liefere ich sehr wohl Argumente, warum ich Pornografie für ein Übel halte. Und weil ich sie für ein Übel in sich halte, bin ich der Überzeugung: Je weniger Pornografie stattfindet und je weniger hergestellt und rezipiert wird, desto besser.

 

 

ONLINE-KURS: 15 SCHRITTE IN DIE FREIHEIT

Kursumfang: 15 Einheiten à 40–80 Minuten, die im wöchentlichen Intervall freigeschaltet werden. Jeder Teilnehmende kann diese in seinem eigenen Tempo bearbeiten. Auf Wunsch steht ein persönlicher Kursbegleiter zur Verfügung. Das Angebot ist ein Gemeinschaftsprojekt des Weißes Kreuz e. V. und ERF Medien.

Mindestalter Teilnehmende: 18 Jahre

Kosten für den Kurs: Kostenfrei

 

MEHR UNTER: www.raus-aus-der-pornofalle.de

Heilige Momente und Masturbationssünder

Was kann man tun, wenn der Partner beziehungsweise die Partnerin oder auch ein Freund oder Elternteil Pornografie konsumiert und in die Sucht abzugleiten droht?

 

Das ist sehr schwer, da kann ich keinen pauschalen Rat geben. Hier kommt Beratung im Internet oder Telefon schnell an Grenzen. Grundsätzlich sollte man bei Partnerschaftsthemen immer das ganze System kennenlernen. Und jeder Rat kann krasse Konsequenzen haben. Daher ist da besondere Zurückhaltung des Beraters angebracht. Was ich schon raten würde: Wenn ich weiß, dass ein Angehöriger oder eine Angehörige Pornografie konsumiert, dann würde ich versuchen, das in einem heiligen Moment anzusprechen.

 

In einer Partnerschaft ist das nochmal was anderes, denn durch diese programmatische Beziehungslosigkeit der Pornografie nimmt ja meine Beziehung Schaden. Und in der Regel ist es die Frau, die sich ersetzt fühlt. Für sie ist Sexualität oft in die Beziehung integriert. Wenn der Partner also zweimal die Woche auf Pornoseiten geht, um runterzukommen, denkt die Frau: „Ich bin gemeint!“, während der Mann damit oft einfach nur ausdrückt: „Ich muss mich heute Abend einfach mal abregen, ich hab so viel Frust in mir und ich will dich auch nicht emotional gebrauchen für meinen Frustabbau! Mit dir will ich Sex haben, weil ich dich liebe!“ Hier haben wir das Problem, dass der eine etwas tut, was der andere anders liest – und die Verletzung ist viel größer als beabsichtigt. Einer solchen Frau würde ich Mut machen, ihrem Mann zu sagen: „Ich wünsche mir von dir, dass du auf Pornografie verzichtest.“ Das halte ich für völlig legitim, das darf man in einer Ehe verlangen. Man hat sich schließlich die Treue geschworen – und Pornografie versieht Untreue mit einer Lobpreishymne! Denn letztlich ist Pornografie nichts anderes als die Anbetung von Untreue. Und das ist auch ein geistliches Thema, das man gemeinsam bearbeiten darf. Hier lohnt es sich, über eine Paarberatung nachzudenken.

 

 

Wie sieht’s aus beim Thema Jugendliche und Pornografie?

 

Was mich wirklich traurig macht ist, dass wir in der Seelsorge und Beratung merken, dass Bemühungen ihre Grenzen haben. Oft können wir helfen, aber für viele Menschen bleibt Pornografie ein Teil ihres Lebens, der sich über lange Jahre verfestigt hat. Denn die sexuelle Lerngeschichte hat immer einen Impact. Das ist wie mit Knete: Am Anfang ist die noch weich und modellierbar, aber mit der Zeit wird sie immer fester und lässt sich nicht mehr leicht formen. Wir können in der Seelsorge viel machen – aber in der Prävention geht sehr viel mehr. Eigentlich müssten wir heute spätestens mit Zehnjährigen über Pornografie sprechen, weil der Erstkontakt mit knapp über elf Jahren stattfindet.

 

Junge Christen rutschen oft deshalb in die Pornografie rein, weil sie sich ohnehin schon für „Masturbationssünder“ halten und es dann quasi für egal halten, wenn sie auch noch Pornos gucken. Dabei verstärkt sich leider dieser ganze Pornoeffekt noch mehr, als wenn man nur hin und wieder masturbiert. Denn durch Pornografie findet noch mal eine ganz andere Art der Gehirnwäsche statt. Darum sollten wir Jugendliche ermutigen, Pornografie am besten ganz zu lassen und sie anleiten, sich mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu beschäftigen und einen guten Ausdruck für sie zu finden. Wenn wir das schaffen, haben wir ihnen einen riesigen Dienst geleistet.

 

Herr Franke, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Die Fragen stellte Tina Tschage.

 

 

NIKOLAUS FRANKE

war von 2009 bis 2021 Fachreferent des „Weißes Kreuz e. V.“, einem Fachverband für Sexualethik und Seelsorge. Neben der Jugend- und Bildungsarbeit liegt sein Fokus auf der seelsorgerlichen Begleitung von Männern, die sich eine Änderung ihrer Pornonutzungsgewohnheiten wünschen. Franke ist verheiratet, zweifacher Vater, und hat Bildungswissenschaften und Politikwissenschaft studiert.

 

Mehr unter: www.weisses.kreuz.de

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