Gott schreibt Geschichte. Von Anbeginn der Zeit – heute und morgen, bis in die Ewigkeit hinein. Dazu beruft er seit Jahrtausenden Menschen – von Abraham über David und Jesus bis hin zu uns, zu mir und zu dir!
Du und ich – berufen? Der Blick auf den Stammbaum von Jesus macht Mut (Matthäus 1,1–17): Viele Geschichten seiner Vorfahren verliefen nicht geradlinig, geschweige denn perfekt! Wie schmerzhaft muss es beispielsweise für Tamar gewesen sein, einen Ehemann zu verlieren, von zwei weiteren abgelehnt zu werden und dazu betrogen worden zu sein! Letztendlich hilft ihr am Ende nur eine List, schwanger zu werden, und so zu ihrem Erbe zu kommen: Sie verführt, als Hure verkleidet, ihren Schwiegervater Juda (1. Mose 38,13f). Tamar ist eine Vorfahrin von Jesus, die ihre Geschichte sicherlich anders gewählt hätte. Und doch ist sie ist eine Berufene.
Oder nehmen wir Rahab, die sich nicht nur als Prostituierte tarnte, sondern tatsächlich eine war (Josua 2,1ff). Ich kann mir vorstellen, dass sie sich ihr Leben sicherlich einmal anders erträumt und nicht geplant hatte, sich aufzugeben und ihren Körper zu verkaufen. Doch auch sie wird eine Vorfahrin von Jesus, ein Teil seines Stammbaums. Auch sie ist eine Berufene. Weil Gott nicht mit Fehlerlosen seine Geschichte schreibt, sondern mit denen, die verwundet, unscheinbar, abgelehnt und unperfekt sind. Berufen sind alle, die sich von Gott rufen lassen und antworten: „Hier bin ich, Herr!“ – ganz egal, welche Geschichte ihr Leben gerade schreibt.
Kein To-do, sondern To-be
Berufung ist keine To-do-Liste, die Gott uns aushändigt und auf der steht, was wir tun sollen, sondern zuerst und zuletzt seine Einladung zu einem gemeinsamen Leben. Als Jesus sein Jünger beruft, lesen wir im Markus-Evangelium: „Er rief die zu sich, die er bei sich haben wollte …“ (Kapitel 13, Vers 13). Im griechischen Grundtext des Neuen Testaments steht für „rufen“ hier das Wort kaleo. „Kaleo“ bedeutet jedoch weniger ein Antreiben oder Befehlen, als vielmehr ein liebevolles Ansprechen, mit dem Ziel, das Gegenüber in größere Nähe zu sich zu bringen. Diese Berufung bedeutete also: Jesus ruft die Jünger in die Beziehung, in eine größere Nähe zu sich. Und genau das tut er heute noch: Er (be-)ruft uns – hin zu sich! Das ist unsere erste Bestimmung und wichtigste Berufung: in Beziehung zu Jesus Christus zu leben und von dort aus unser Denken, Reden und Handeln zu gestalten (siehe 1. Korinther 1,9).
Berufung ist keine To-do-Liste, sondern Gottes Einladung zu einem gemeinsamen Leben.
Berufung ist also viel weniger ein Plan, den Gott mit mir und für mein Leben hat und den es zu erfüllen gilt, als vielmehr Gottes Sehnsucht, mich in eine liebevolle Beziehung zu sich zu führen: „Kommt mit (mir) und folgt mir nach!“ (Markus 3,13b). Jesus nachfolgen heißt, mit ihm durchs Leben gehen und gemeinschaftliche Nähe leben. Darum hat Berufung auch nicht zum Ziel, uns eine bestimmte Aufgabe anzutragen, die wir wohlmöglich dann allein ausfüllen müssten; sondern ihr Ziel ist es, in enger Gemeinschaft mit Gott zu leben, der uns darin zu allem befähigen will, wozu er uns ruft. So hat er es seit jeher gemacht – auch mit Simon Petrus und Andreas, als er ihnen sagte: „Ich will euch zeigen, wie man Menschen fischt!“ Und auch uns lädt Jesus, der der „Gott mit uns“ ist, ein: „Komm, folge mir nach! Geh mit mir und ich will dir zeigen, wie du deine Berufung leben lernst.“
Komm heim – zu dir!
Aus der Beziehung, in die Gott uns ruft, erwächst unsere neue Identität. Das, was wir waren, ist vorbei, Neues beginnt (siehe 2. Korinther 5,17). Als Symbol dieser neuen Identität finden wir häufig einen neuen Namen, zum Beispiel bei Abram, der später „Abraham“ heißt: „Dann befahl der Herr Abram: „Verlass deine Heimat, deine Verwandten und die Familie deines Vaters und geh in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (1. Mose 12,1)
Damit wird Abram auch aufgefordert, seine Prägungen loszulassen und seine neue Identität einzunehmen. Im Hebräischen finden sich hier die Worte „lech lecha“, die im Deutschen mit „verlassen“ im Sinne von „fortgehen“ übersetzt werden. Doch in dieser Formulierung steckt weit mehr: Genau genommen kann man sie als ein „Geh-für-dich“ oder auch ein „Geh-zu-dir“ verstehen.
Berufung in diesem Sinne bedeutet: „Geh zu dir! Komm heim, hinein in deine neue Identität, die Gott dir zeigen will. Lass alte, verwundete, verkrümmte Prägungen hinter dir und werde der Mensch, der du aus deiner Beziehung zu Jesus heraus bist!“ Manchmal bedeutet das, Vertrautes – Heimat, Verwandte und Familie – loszulassen. Und schenkt uns eine Ahnung davon, dass in Berufung auch ein Heilwerden der eigenen Identität liegt, die wir nur in der Beziehung zu Christus erfahren können.
Darum können wir Berufung am ehesten als etwas „Organisches“ verstehen, etwas das wächst, etwas, das entstehen darf, um ganz die oder der zu werden, der wir sind. Ich liebe den Buchtitel der Biografie von Michelle Obama: „Becoming“ („Werden“). Von ihr als einer der bekanntesten Frauen der Welt hätte ich wohl eher einen Titel wie „Angekommen“ erwartet. Doch sie beschreibt sich auch nach ihrer Zeit im Weißen Haus als eine Werdende. Als jemand, der wachsen darf. Als jemand, der mehr und mehr hineinwächst in seine ureigene Identität, die weit mehr beinhaltet als irgendwelche machtvollen Ämter.
In Berufung liegt auch ein Heilwerden der eigenen Identität, die wir nur in der Beziehung zu Christus erfahren können.
Unsere Identität wächst aus der Beziehung, in die Jesus Christus uns ruft. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, formulierte es einmal der jüdische Theologe Martin Buber. Beziehungen wachsen, indem wir einander kennenlernen. Miteinander interagieren. Wissen, wer unser Gegenüber ist, aber gleichzeitig auch immer mehr verstehen, wer wir sind.
Genau so erlebt es auch Mose bei seiner Berufung in 2. Mose 3. Mose fragt: „Wie heißt (du) denn?“ (Vers 13) Und Gott antwortet ihm: „Ich bin, der ich bin.“ Das ist sein Name. Das ist sein Wesen. Gott ist der, der er ist. Niemand, der uns etwas vorspielt, niemand, der sich durch seine Taten beschreiben muss, geschweige denn durch seinen Beruf, Familienstand oder Freundeskreis. Er ist der zutiefst Seiende, er ist. Und wir, die als sein Ebenbild geschaffen sind, dürfen in seinem Spiegelbild lernen, die zu werden, die wir sind. Abzuwerfen, was uns hält und hindert. Heilen zu lassen, wo wir verwundet sind. Und heimzukommen zu Gott – und darin zu uns selbst.
„Wer bin ich, dass …?“, stottert Mose in meiner Vorstellung herum (Vers 11) und Gott antwortet ihm: „Ich werde mit dir sein.“ Gott gibt sein Ja in die Beziehung zu uns. Er ruft uns und bestätigt damit, dass er bleiben wird. Wie oft beschleicht uns die Angst, dass Gott uns verlassen haben könnte. Aber er ist der Gott, der gekommen ist, um zu bleiben: „Ich werde mit dir sein.“ Und Mose antwortet dem Ruf Gottes: „Hier bin ich, Herr!“ (Vers 4) Er stellt sich ihm zur Verfügung und lässt sich auf den neuen Weg ein, den Gott ihm zeigen will.
Fest verwurzelt
Mich fasziniert eine alte Eiche in unserem Garten. Sie hat in den letzten Jahren die schwersten Stürme überlebt. Manch ein Baum in der gleichen Reihe wurde vom Sturm überwältigt und stürzte um. Aber diese alte Eiche muss unfassbar starke Wurzeln haben, dass sie jeden Sturm überstehen konnte. Und sie bringt massig Frucht! Jeden Herbst fallen kiloweise Eicheln von ihr herab. Die Früchte entstehen automatisch aus diesem Zusammenspiel des Baumes und der Wurzeln. Es ist schlicht in ihm angelegt, Frucht zu bringen.
Auch wir sind im Werden wie dieser Baum, der stets im Wachsen ist und der sich durch die Jahreszeiten immer neu verwandelt, anpasst und formt. Seine Wurzeln stehen für unsere Beziehung zu Jesus: Er ist es, der uns versorgt, uns leitet, uns führt und uns Halt gibt. Der Stamm steht für unsere Persönlichkeit: Das, was uns ausmacht, wer wir sind. Er steht für unsere zaghaften Träume, unsere einzigartigen Fähigkeiten, unsere individuelle Art und unsere Herzenssehnsucht. Er steht aber auch für alle Verwundungen. Für das, was nicht gradlinig wachsen konnte, sondern verkrümmt ist. Vielleicht ist unser Baum schräg gewachsen, weil wir in den letzten Jahren vielen Stürmen ausgesetzt waren. Vielleicht haben wir auch Bruch erlebt und in manchen Lebensbereichen Verluste erfahren. Aber es kommt gar nicht so sehr darauf an, wie unser „Lebensbaum“ geschaffen ist, sondern einzig darauf, ob er mit seinen Wurzeln gut verbunden ist und sie ihn versorgen können. Starke Wurzeln können so manche Verwundung und Herausforderung überwinden.
Gott, der uns in seine Nähe (be-)ruft, beruft uns auch dazu, das, was in uns angelegt ist, zu entdecken und zu leben: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt. Ich habe euch dazu berufen, hinzugehen und Frucht zu tragen, die Bestand hat“, sagt Jesus in Johannes 15,16. Er ist es, der die Geschichte weiterschreibt – mit mir und auch mit dir.
ZUM WEITERDENKEN
♥ Tamar hätte sich ihr Leben sicherlich anders vorgestellt und doch beruft Gott sie als wichtige Figur hinein in den Stammbaum von Jesus. – Was läuft in deinem Leben nicht so gradlinig? Darf Gott damit seine Geschichte schreiben?
♥ Wo zweifelst du an deinen Möglichkeiten und fragst dich: „Wer bin ich schon?“ Gott spricht dir zu: „Ich werde mit dir sein!“
♥ Gott (be-)ruft uns, um uns in größere Nähe zu sich zu ziehen. Was löst dieser Gedanke in dir aus?
♥ Gott ruft in Beziehung. Mose antwortete einst darauf: „Hier bin ich, Herr!“ – Wie lautet deine Antwort?
3 Kommentare
toller Artikel, vielen Dank Herzliche Elke
Auf diesen Kommentar antwortenVielen Dank für den Artikel.
Auf diesen Kommentar antwortenGern geschehen! :-)
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