Hallo Junior,

„Krieg und Frieden“ – nein, dabei denke ich nicht an das Meisterwerk von Leo Tolstoi, sondern an die derzeitige Weltlage und was sie in mir auslöst. Was habe ich mich erschrocken, als mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wieder Krieg nach Europa kam – Frieden bis heute nicht in Sichtweite! Nach fast acht Jahrzehnten Frieden in Europa war und ist das ein beunruhigendes Ereignis.

 

Ungute Erinnerungen

Plötzlich denke ich wieder an die Zeiten, die mich mit dem Krieg in Berührung gebracht haben. Geboren 1940, kam mir der Krieg im Alter von fünf Jahren sehr nahe, als russische Soldaten in schweren Stiefeln in unser Heimatdorf Georgenthal in Thüringen einmarschierten. Der dumpfe Klang der am Café Adler rhythmisch vorbei marschierenden Soldaten hatte etwas Bedrohliches, das mir eine unbestimmte Angst machte. Die unbeschwerte Kindheit war vorbei.

„Was ist los?“ wollte ich wissen, weil ich zunächst gar nichts verstand. Mit ein paar Wortfetzen wurde mir erklärt, dass Soldaten vorbeizögen. Was wusste ich damals schon vom Krieg? Hinzu kam die Aufgeregtheit meiner Mutter, die am offenen Fenster stehend, ihre Ablehnung auf die Straße schrie. Mein Vater versuchte vergeblich, sie zu beruhigen.

 

Wenige Jahre später bei unserer „Republikflucht“ in den Westen, wurde der sich entwickelnde kalte Krieg plötzlich für uns persönlich sehr heiß. Wir wurden beschossen, kamen aber mit dem Leben davon. An anderer Stelle habe ich über diese Fluchterfahrungen geschrieben.

 

Kurz zuvor hatten wir schon einmal einen Fluchtversuch unternommen. In einem Übergangslager wurden wir interniert, zusammen mit etwa 60 anderen Menschen, die man ebenfalls erwischt hatte. Der Aufenthalt dauerte zwar nur wenige Tage, aber die Bedingungen waren erdrückend. Auf einer aus meiner kindliche Perspektive endlos breiten Holzpritsche schliefen wir eng aneinandergedrängt. Die Fülle der nahen fremden Körper, jeder nur mit einer Wolldecke bedeckt, war mir unangenehm, sehr unangenehm!

 

Ein- oder zweimal ließen mich die Wachen nach draußen, vielleicht, weil sie Mitleid mit dem achtjährigen verwirrt wirkenden Jungen hatten. „Draußen“ war ein von Stacheldraht umzäuntes unebenes Waldgelände. Als ich ganz nah an den Stacheldrahtzaun heranging, scheuchte mich ein Soldat mit einer eindeutigen Bewegung seines Maschinengewehrs wieder zurück in Richtung der Arrestzellen.

 

Die Wirklichkeit des Krieges

Dann kam am 13. August 1961 der Bau der Berliner Mauer. Die Berichte im Radio und im Fernsehen waren gruselig genug. Als zweisprachiger Mitarbeiter des Hapag-Lloyd-Reisebüros am Jungfernstieg in Hamburg musste ich in den 1970er-Jahren amerikanische Touristengruppen nach Berlin begleiten. Ein Besuch des Checkpoint Charlie und einer Aussichtstribüne auf Westberliner Seite gehörten zum Pflichtprogramm. Dort bekamen wir einen direkten Blick auf einen Wachtturm auf der Ostseite der Straße mit den Grenzsoldaten, die ihre Waffen anschlagsbereit hatten. Wir wurden mit Ferngläsern genau begutachtet. Nachwirkungen des 2. Weltkrieges … ernüchternd, bedrohlich.

Eine Begegnung mit Krieg und Tod bringt immer ein Trauma mit sich. Und es besteht die Gefahr, dass es von der unmittelbar betroffenen Generation an die nächste weitergegeben wird.

Ganz nah kam mir der todbringende Krieg dann kurz vor dem Ende des Vietnam-Krieges. Am 30. April 1975 endete er mit der Eroberung der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon durch nordvietnamesische Truppen, die nicht-kommunistische Regierung scheiterte und brach in Südvietnam zusammen. 1976 wurde Vietnam offiziell unter einer kommunistischen Regierung wiedervereinigt.

 

Einen Monat vor dem Zusammenbruch Saigons, der diese unvergleichlichen Bilder des letzten Hubschraubers aus der bisherigen amerikanischen Botschaft hervorbrachte, begleitete ich als Übersetzer einen Evangelisten, der die Möglichkeit eines Einsatzes in Asien prüfen wollte. Von Bangkok aus flogen wir mit einer nur gering gefüllten Boeing 737 über das Mekong-Delta in einer großen Schleife nach Saigon, um dort einen lokalen Bischof zu treffen.

 

Während wir das Mekong-Delta überflogen, ging etwa nach der Hälfte der Flugzeit im Flugzeug die Musik an, eine Maßnahme, die die wenigen Passagiere beruhigen sollte. Bei mir bewirkte sie jedoch das Gegenteil, nämlich Beunruhigung. Der Blick aus dem Fenster zeigte, warum: Wir flogen in etwa in 10.000 Meter Höhe. Aus dem unter uns liegenden Regenwald ragten riesige Rauchsäulen in den klaren Himmel. Dort unten wurde gekämpft, mit Waffen und mit Feuer. Unsere zivile Passagiermaschine abzuschießen wäre mit einer Rakete ein Leichtes gewesen.

 

Die Musik verstummte ebenso plötzlich wie sie begonnen hatte. Die Ansage des Anflugs auf den Saigon Airport wurde gemacht. Eine weitere Überraschung kam, als wir wenig später in der feuchten Hitze Asiens auf das Flughafengebäude zugingen. Wir sahen eine durch Bomben oder Beschuss schwer beschädigte Eingangshalle, ein notdürftig repariertes Dach. Später erfuhren wir, dass am Tag zuvor – genau zur Zeit des gleichen Linienfluges, mit dem wir ankamen – ein Angriff mit Toten stattgefunden hatte. Die Wirklichkeit des Krieges!

 

Das Taxi brachte uns durch die vom Krieg gezeichnete Stadt zum Hotel. Überall waren wie Inseln Soldaten in kleinen Gruppen zu sehen. In vielen Eingängen standen Stacheldrahtrollen, die wir am Abend als ausgerollt und als Kontrollposten erlebten. Ein dauerhaftes Grummeln und Wummern war zu hören, beharrlich und bedrohend. Der Vietkong stand mit seiner Front 30 Kilometer vor der Stadt wie wir später erfuhren. Die mit dem Bischof geplante Begegnung kam nicht zustande. Am nächsten Tag flogen wir mit der erstmöglichen Maschine wieder zurück nach Bangkok.

 

Traumata müssen überwunden werden

Junior, ich weiß natürlich, dass diese Erfahrungen nicht im Geringsten vergleichbar sind mit den Erlebnissen, die Soldaten im Kampfeinsatz unter feindlichem Feuer verarbeiten müssen. Menschen, die wegen eines Krieges wegen flüchten mussten, haben viel Schwereres erlebt. Doch eine Begegnung mit Krieg und Tod bringt immer ein Trauma mit sich. Und es besteht immer die Gefahr, dass Traumata von der unmittelbar betroffenen Generation an die nächste Generation weitergegeben werden.

 

Das Gefühl des Verletztseins, auch wenn es nicht zu einer körperlichen Wunde kommt, ist unglaublich. Es beraubt dich, zumindest zeitweise, deiner Würde als Mensch. Die erste Reaktion geschieht irgendwie automatisch. Du denkst nicht viel nach. Du empfindest dich als Opfer, willst es aber nicht wahrhaben. Du kämpfst, aber oft mit den falschen Mitteln. Du reagierst mit Verdrängung der verletzten Gefühle. Du willst die Kontrolle behalten – oder zumindest wiedergewinnen. Du willst zurück in die Mitte eines sicheren Lebens.

 

Mehr als zehn Jahre hat nach unserer „Republikflucht“ mein Weg zurück in ein normales Leben gedauert. Dann erst konnte ich die Gefühle von Verletztsein und Schwäche zulassen. Warum? Ich war der Liebe Gottes in Christus begegnet. Ich hatte einen neuen Halt gefunden, eine neue Geborgenheit. Ich hatte Jesus kennengelernt, der mir durch die Bibel zusagte, dass mich nichts und niemand aus seiner Hand und aus der Hand des himmlischen Vaters reißen könne (Johannes 10,27–30) – trotz des erlebten Traumas. Das war die Überwindung des Traumas. Ich konnte ihm begegnen, auf Augenhöhe – es hatte seinen Schrecken verloren.

 

Erfahrungen einordnen

Noa Tishby, eine durch Kriegserfahrungen in Israel traumatisierte Jüdin, hat einen Weg gefunden, Kriegserfahrungen und schwere Lebenswege unter die Füße zu bekommen. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte sie eingeübt, ihre Gefühle zu unterdrücken und als Powerfrau zu agieren. Dazu schreibt sie in ihrem 2021 erschienenen Buch „Israel – Der Faktencheck über das am meisten missverstandene Land der Welt“: „Bei diesem (therapeutischen) Training geht es darum, eine Reihe von ,Unterscheidungen‘ zu treffen, die dabei helfen, sich über verschiedene Lebensbereiche klar zu werden. Eine der wichtigsten Unterscheidungen lautet: ,Was ist geschehen? Wie hast du es für dich interpretiert?‘ Kurz gesagt geht es bei dieser Unterscheidung darum, dass wir Lebenserfahrungen, die wir machen, sofort eine Bedeutung geben, anstatt sie als das zu sehen, was sie sind. Das tun wir unbewusst und ständig. Wir entwickeln diese Interpretationen sehr schnell nach dem Erlebnis, und dann laufen wir einfach mit ihnen durchs Leben, ohne zu erkennen, dass wir sie uns selbst ausgedacht haben.“

 

Auf anderen Wegen bin ich bei einer ähnlichen Einsicht gekommen. Aber ich finde diese „Formel“, wenn ich sie einmal so nennen darf, als sehr hilfreich für die Bewältigung von Traumata. Die Ergebnisse solcher Selbstprüfungen sind oft schmerzlich, aber hilfreich und heilsam.

 

Innerer Krieg

Glaub mir, Junior, innere Kriege, die unsere Seele, unseren Geist, beunruhigen, sind oft ebenso schwer zu bewältigen. Die Zerrissenheit des Herzens und der Gefühle können eine schwere Belastung für ein gelingendes Leben sein.

Der biblische Realismus kennt keine Weltflucht. Er ermutigt zur Weltgestaltung.

Etwas zu wollen und es nicht tun zu können, weil der eigene innere Zerstörer an der Arbeit ist, verhindert oft mutige Entscheidungen, die uns vorwärtsbringen. Auch der Apostel Paulus kannte das, was man im 7. Kapitel seines Briefes an die Römer nachlesen kann. Aber die Beendigung dieses inneren Krieges – nicht durch einen Waffenstillstand, sondern durch ein echtes Friedensabkommen – ist Gott sei Dank auch nicht weit: Nur ein Kapitel weiter stellt Paulus uns das Friedensangebot Gottes vor, das ich sehr gern angenommen habe: „Also gibt es jetzt für die, die zu Christus Jesus gehören, keine Verurteilung mehr. Denn die Macht des Geistes, der das Leben gibt, hat dich durch Christus Jesus von der Macht der Sünde befreit, die zum Tod führt“ (Römerbrief 8,1+2, NLB). Das ist eine neue Perspektive, die nach vorn weist, die neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.

 

In Frieden leben

Dieses achte und alle weiteren Kapitel des Römerbriefs beschreiben, wie wir im Frieden leben können – mit Gott, mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen. Der von Gottes Geist gewirkte Frieden, sein umfassender „Shalom“, schafft einen Lebensraum, in dem gute Entwicklungen möglich sind. Es entstehen neue Perspektiven, Perspektiven, die sogar über das Ende unserer irdischen Zeit hinaus in die Ewigkeit hineinreichen.

 

Ich freue mich, Junior, dass dabei die aktuellen Aufgaben und Schwierigkeiten nicht ausgeblendet werden. Der biblische Realismus kennt keine Weltflucht. Er ermutigt zur Weltgestaltung. Dabei kennt Gott unsere (meine!) menschliche Schwäche, das Gute zu wollen und zu bewirken. Die Mühen und Widerstände – auch auf dem schweren Weg, sich für den Frieden auf der Erde einzusetzen – werden von unserem Gott des Friedens zum Guten gewendet (8,38+39). Das schafft Hoffnung für alle unsere Beziehungen, für die Zukunft der Welt.

 

Daran will ich mitarbeiten, wo immer ich Gelegenheit dazu bekomme, im Großen wie im Kleinen. Viel Zeit dazu bleibt mir ohnehin nicht mehr, wie mir ein Blick auf mein Geburtsdatum nahelegt. Damit die Welt bis zu ihrer Erneuerung ein wenig menschenfreundlicher wird!

 

„Ich habe den Krieg gesehen, und ich habe den Frieden gesehen. Frieden ist besser“, sagte einmal der ehemalige israelische Premierminister und Friedensnobelpreisträger Shimon Peres.

 

Ich stimme ihm von Herzen zu.

 

 

Dein friedensbewegter Senior

Heinz-Martin Adler

verheiratet mit Margret, Vater, Großvater und Urgroßvater, war Verlagsmitarbeiter, Geschäftsführer, Trainer und Erwachsenenbildner und befindet sich heute im aktiven Unruhestand. 

 

E-Mail: hmadler@t-online.de

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