Hallo Junior,

weißt du noch, welchen Blick du als Kind auf das vor dir liegende Jahr hattest? Ich denke, du erinnerst dich. Der Jahreswechsel hatte keine besondere Bedeutung für dich. Die Erwachsenen verhielten sich ein wenig kindisch. Sie setzten Papierhütchen auf, rauchten und tranken Sprudelwasser mit Alkohol („Sekt“ stand auf den Flaschen). Man gab dir einen kleinen Schluck. „Das ist noch nichts für dich!“ Das Wichtigste: Du durftest bis Mitternacht aufbleiben. Der erste Januartag war noch eine Ausnahmesituation. Die Erwachsenen waren wohl noch länger aufgeblieben. Sie schliefen lange …

 

Weites Land

Wenn ich heute an ein neues Jahr herangehe, denke ich zuerst an den Titel des klassischen Westerns „Weites Land“. Warum? Weil am Anfang des Jahres die Zeit noch wie ein weites Land voller vielversprechender Möglichkeiten vor mir liegt.

 

In dem großartigen Film von William Wyler aus besten Hollywood-Zeiten (1958) reist James McKay, Kapitän aus einer Reederfamilie an der amerikanischen Ostküste in den Wilden Westen, um Patricia, die Tochter von Major Terrill, dem Besitzer der riesigen „Ladder Ranch“, zu heiraten. Aber in der Weite des Landes trifft er auf die Enge eines egoistischen Hasses zwischen zwei Patriarchen, die ihre Leute wegen einer Wasserstelle für das Vieh aufeinanderhetzen, bis zu einem blutigen Showdown. Hier erweist sich der „Feigling“ aus dem Osten, der er in den Augen der örtlichen Cowboys ist, als der eigentlich Mutige, der ein Leben rettet.

Wie soll ich nun Pläne machen in einer Zeit der großen Unwägbarkeiten? Doch ohne motivierende Ziele wird ja auch keine Energie freigesetzt für das, was geschafft werden muss.

Das Statement des Regisseurs hat sogar eine Relevanz für unsere Zeit, in der Corona uns als Gesellschaft herausfordert: „Ich habe nie eine große Tugend in der amerikanischen Tradition gesehen, einem Menschen auf die Nase zu hauen, wenn er etwas sagt, was einem nicht passt. Das beweist doch nur, wer am schnellsten oder am stärksten hauen kann. Die Frage, die mich interessiert, ist, ob die Leute auch einem Vertrauen schenken, der nicht um sich haut.“

 

Unsicherheiten

Wie aber soll ich nun Pläne machen und Ziele setzen in einer Zeit der großen Unwägbarkeiten? Ohne motivierende Ziele wird ja auch keine Energie freigesetzt für das, was geschafft werden soll und muss. Soll ich es deswegen aufgeben, mir überhaupt Ziele zu setzen und etwas erreichen zu wollen? Auf keinen Fall!

 

Wir, meine Frau und ich, sind nicht so fatalistisch, wie es Bertolt Brecht war, als er mit einigem Wahrheitsgehalt formulierte: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan! Gehn tun sie beide nicht.“ Aber wir wissen, dass die Realisierung unserer Pläne nicht allein von uns abhängt. Darum versuchen wir, uns ganz nach dem Rat des Jakobus („So Gott will und wir leben!“, siehe Jakobusbrief 4,13–15) – auf das Wesentliche zu fokussieren.

 

Die bestehenden Unsicherheiten können uns eine große Kraftquelle erschließen, das Vertrauen auf den lebendigen Gott der Bibel. Er ist darauf spezialisiert, uns Menschen einen Weg durch das Gewirr der schillernden und oft trügerischen Optionen zu bahnen.

 

Orientierungspunkte und gute Grenzen

Heute halte ich die ersten Wochen eines Jahres für gut geeignet, einen Rückblick und einen Ausblick miteinander zu verbinden. Wenn ich nicht reflektiere, was ich im vergangenen Jahr gelernt habe, werde ich die Fehler im neuen Jahr wiederholen – und mich am Ende wundern, warum etwas nicht geklappt hat. Ziehe ich dagegen die richtigen Schlüsse aus Erfolg und Versagen, dann bin ich auf einem guten Weg der Gestaltung neuer Möglichkeiten.

 

„Wandel ist das einzig Bleibende“, sagte schon der griechische Philosoph Heraklit vor rund 2500 Jahren. Er hat Recht – denn so ist es bis heute. Das Tempo des Wandels hat sich sogar vervielfacht, wenn ich allein an die technologischen Veränderungen denke, die sich gegenseitig zu überholen scheinen. Und dennoch gibt es einige Konstanten inmitten dieses Wandels:

 

Ich bin derselbe Mensch, der schon im vergangenen Jahr gewesen bin. Die anderen sind es auch. Veränderungen scheinen sich bei mir mit quälender Langsamkeit zu vollziehen – besonders wenn es darum geht, in Art und Wesen Jesus Christus ähnlicher zu werden, ja „in sein Bild“ verwandelt zu werden, wie es im 2. Korintherbrief in Kapitel 3,18 heißt. Allzu oft tappe ich immer wieder in dieselbe Falle. Aber schrittweise kann ich dennoch daran arbeiten, destruktive Gewohnheiten durch konstruktive Gewohnheiten auszutauschen. Neues Handeln aber kommt aus neuem Denken. „Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken“, sagte Marcus Aurelius, und auch der Apostel Paulus hat das gewusst (siehe Römer 12,1–2).

 

Die Konflikte und Krisen des Vorjahrs sind weitgehend ungelöst. Das sehe ich in der Gesellschaft. Aber ich sehe es auch in der eigenen Familie. Unversöhnlichkeiten haben Beziehungen gestört oder gar zerstört. Auch das wurde in dem Western „Weites Land“ thematisiert. Aber ich darf das nicht hinnehmen. Ich darf weder die anderen noch mich selbst aufgeben. Das Evangelium hat Versöhnung zwischen uns Menschen und Gott gebracht. Durch Gebet und entsprechende Gesten des guten Willens kann ich daran arbeiten, die Welt (auch die eigene kleine Welt) ein wenig besser zu machen. „Ich habe zu Zukunft und Hoffnung für euch“, lautet schließlich Gottes motivierende Zusage. (Jeremia 29,11)

 

Als alter Mensch habe ich einen besonderen Realismus gewonnen. „Erst der alte Mensch weiß, wie das Leben wirklich läuft“, las ich neulich. Siege und Sackgassen habe ich erlebt. Ich kann heute am Anfang einer Entwicklung leichter als früher einschätzen, wohin sie führen wird. Junior, das ist der Vorsprung, den wir Alten den Jungen voraushaben. Aber er darf mich nicht dazu verführen, den anderen vorschreiben zu wollen, wie sie leben sollen. Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Aber ich kann sie begleiten – wenn sie es zulassen – und hoffentlich die richtigen Fragen stellen, die ihnen bei eigenem Nachdenken die Tür ins Morgen aufstoßen.

Die Konflikte und Krisen des Vorjahrs sind weitgehend ungelöst. Aber ich darf das nicht hinnehmen. Ich darf weder die anderen noch mich selbst aufgeben.

Mit Augenmaß planen und Überforderung vermeiden, das ist die neue Herausforderung. „Ich plane nur noch von Sabbat zu Sabbat“, las ich neulich von einem Altersgenossen. Eine Woche als Planungszeitraum ist eine überschaubare Zeit. Selbstverständlich muss ich weitergehende Ziele haben, wenn das Leben erfolgreich gelingen soll. Aber die Woche ist der Zeitraum, in dem sich entscheidet, ob und wie weit ich meinem großen Ziel schrittweise näherkomme.

 

Ich lerne immer mehr, im Heute zu leben und es zu genießen. Das gemeinsame Essen und die Gespräche dabei mit meiner Frau. Das Schreiben dieser Zeilen. Das Fotografieren eines wunderschönen Blumenstraußes im lichtdurchfluteten Wohnzimmer am Mittag. Das gemeinsame Schweigen. Einen guten (vorzugsweise englischen) Fernsehkrimi. Das gute Buch, in das hinein ich mich verliere. Die Meditation über den Lebensworten der Bibel, die meiner Seele und meinem Geist guttun. Der Sonnenschein, der eine Ahnung des kommenden Frühlings weckt. Ja, ich genieße das alles und mehr.

 

In der Unterordnung unter den Willen Gottes entdecke ich Freiheit innerhalb der mir gesetzten Grenzen. „Mein Besitz und mein Erbe ist der Herr selbst. Ja, du teilst mir zu, was ich brauche! Was du mir für mein Leben geschenkt hast, ist wie ein fruchtbares Stück Land, das mich glücklich macht. Ja, ein schönes Erbteil hast du mir gegeben“ lese ich im Psalm 16,5­–6 (NGÜ). Das haben wir erlebt, Junior, nachdem meine Frau nach mehreren Stürzen in der Mitte des vergangenen Jahres zur Rollstuhlpatientin wurde. Inzwischen konnten wir einen teamorientierten gemeinsamen Weg in unsere von neuen Rahmenbedingungen geprägte Wirklichkeit finden. Herr, wir danken dir dafür!

 

Digitale Gemeinschaft ist auch eine reale Gemeinschaft. Corona hat die Möglichkeiten radikal eingeschränkt, dass wir einander physisch und mit Umarmungen begegnen können. Aber auch in einer wöchentlichen Zoom-Gruppe als Nachfolgerin einer Präsenz-Kleingruppe ist es gelungen, Vertrauen aufzubauen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ lautet treffenderweise das Thema, mit dem wir uns seit Monaten befassen. Wir erleben Nähe, obwohl wir teilweise tausende von Kilometern voneinander getrennt sind. Die durch die Pandemie hervorgerufenen Grenzen haben uns eine neue Weite geschenkt.

 

Gebet für andere Menschen bewirkt Hilfe und Veränderung. Im vergangenen Jahr ist das eine neue Priorität für mich geworden. Gebet überbrückt Distanzen schneller als wir früher von Ort zu Ort für einen einstündigen Vortrag reisen konnten. Gebet erreicht unmittelbar das Ohr unseres himmlischen Vaters – und das Herz des Menschen, der unseren Zuspruch braucht, wenn wir für ihn beten. Das ist eine intensive Erfahrung, Junior, die du noch nicht kanntest, auch wenn du damals schon gebetet hast.

 

Junior, das alles zusammengenommen sind ein paar Erkenntnisse und Erfahrungen, die du als Junge noch nicht ahnen konntest. Trotzdem bin ich dankbar für die Anfänge von damals. Ich freue mich über das, was ich bisher dazu lernen konnte. Und ich bin gespannt, was ich am Jahresende aus dem weiten Land geworden ist, das jetzt noch vor mir liegt.

 

Dein zukunftsfreudiger Senior

 

Heinz-Martin Adler

verheiratet mit Margret, Vater, Großvater und Urgroßvater, war Verlagsmitarbeiter, Geschäftsführer, Trainer und Erwachsenenbildner und befindet sich heute im aktiven Unruhestand. 

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