Für MINDO schreibt Heinz-Martin Adler Briefe an sein jüngeres Ich – und nimmt uns mit hinein in Erfahrungen, die ihn für sein Leben geprägt haben. Dieses Mal: Der Tag, an dem er die Welt der Bücher entdeckte.

 

 

Hallo Junior,

 

Heute schreibe ich dir an einem warmen Sommertag. In einigen Bundesländern haben die Sommerferien begonnen. In vielen Buchhandlungen locken die Auslagen mit Slogans wie „Sommer, Sonne, Lesezeit“. In Zeitschriften tauchen Umfragen mit Prominenten oder Politikern auf: „Welches Buch werden Sie in Ihren Ferien lesen?“ Ferienzeit – Zeit zur freien Verfügung, Zeit auch zum Lesen. Aber was soll man da einpacken? Doch zunächst ein kleiner Blick zurück.

 

Ich erinnere mich noch genau an mein, Verzeihung, dein erstes großes Leseerlebnis. Wie kam es dazu? Du warst etwa zehn Jahre alt. Die Flucht aus der DDR lag hinter dir. Die Eltern hatten dich bei den Großeltern mütterlicherseits untergebracht, während sie im Westen Fuß zu fassen suchten. Du warst krank und musstest ein paar Tage das Bett hüten. Nachts schliefst du in deiner kleinen Dachkammer über der Wohnung der Großeltern. Doch tagsüber durftest du in dem Bett von Oma im großelterlichen Schlafzimmer sein. Das Bett war groß und altmodisch und hatte drei harte Teilmatratzen – sehr seltsam.

 

Begeistert und empört

Da lagst du nun. Du hast die Tapete studiert, bis du das Muster auswendig kanntest. Du fühltest dich wie eingemauert durch die vielen mächtigen Schränke, die zwei Wände des Schlafzimmers wie Bollwerke umgaben. Es kam, was kommen musste – dir war langweilig. Auf der Suche nach Ablenkung hast du den Nachtschrank neben deinem Bett genauer unter die Lupe genommen. Oben war eine Schublade, die aber nur „Kram“ enthielt. Unten gab es eine Tür, hinter der sich aber nur Wäsche und ein altmodischer Nachttopf befanden. Interessant wurde es in dem offenen Fach in der Mitte: Da gab es ein paar alte Bücher mit kräftigen und soliden Einbänden.

Du ahntest, nein, du wusstest auf einmal, wie klein die Welt war, in der du lebtest. Aber du ahntest, ja, du wusstest nun auch, dass es Bücher gab, die deinen Hunger nach Weite, nach Neuem, nach Unbekanntem stillen konnten.

Als du eines der Bücher aufschlugst, war dein Interesse geweckt: Hier gab es Berichte über die großen Entdeckungsreisen vergangener Zeiten. Namen sprangen dir entgegen, die dir nur teilweise etwas sagten. Vasco da Gamas Entdeckung des Seeweges nach Indien rund um Afrika. Die Seereisen des Christopher Columbus, der nach Ost-Indien wollte und dabei Amerika entdeckte. Oder die Eroberungszüge des Hernán Cortés, der die Schätze der Azteken raubte und für die spanische Krone nach Hause brachte.

 

Das Buch war groß und schwer. Du musstest dein Kopfkissen an das Kopfende des Bettes drapieren, damit du ein wenig aufrecht sitzen konntest. In einer Falte der Federbettdecke konntest du das Buch einigermaßen fixieren, damit du gut lesen und die Seiten umblättern konntest. In deinem Kopf entstanden Bilder des harten Lebens, das die Mannschaften auf diesen alten Segelschiffen führten. Mit ihnen durchlittest du die verzweifelten Kämpfe mit den Stürmen, denen auch einige Schiffe zum Opfer fielen. Kaum vorstellbar, dass das Trinkwasser wochenlang in Fässern lagerte und getrunken wurde, bis es bei irgendeiner Anlandung wieder durch frisches Wasser ersetzt werden konnte. Du dagegen musstest nur aufstehen und fünfzehn Schritte in die Küche gehen, um frisches Wasser aus dem Wasserhahn trinken zu können. Du teiltest die Freude der Kapitäne und Mannschaften, wenn aus dem Ausguck hoch oben in den Masten der Ruf erklang: „Land in Sicht! Land in Sicht!“ – Endlich!

 

Aber du warst auch empört und zugleich seltsam fasziniert, als du mit den Söldnern des Cortés an Land gingst. Nach ersten zaghaften, vorsichtigen Annäherungsversuchen kam es zu einem gewissen freundlichen Kennenlernen. Als die Spanier dann das Gold und die Schätze der Atzteken entdeckten, kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Massakern, denen die Einheimischen nichts entgegenzusetzen hatten. Der Kolonialismus Spaniens – erst langsam ging dir die Bedeutung des Begriffs auf – nahm seinen Anfang.

 

 

Wandern in ferne Welten

Irgendwann warst du wieder gesund und du schliefst wieder in deiner Dachkammer. Aber dein Interesse am Lesen war geweckt. Du ahntest, nein, du wusstest auf einmal, wie klein die Welt war, in der du lebtest. Aber du ahntest, ja, du wusstest nun auch, dass es Bücher gab, die deinen Hunger nach Weite, nach Neuem, nach Unbekanntem stillen konnten. Jean Paul hat das in die Worte gekleidet: „Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne.“

 

„Wenn ich lese, lese ich langsam“, schreibt der Arzt, Theologe, Bestsellerautor und Kabarettist Manfred Lütz. In den Ferien, im Urlaub kann sich das jeder leisten, der sich nicht durch Smartphones, Internet oder andere Medien ablenken lässt. Es ist einfach eine Frage der Prioritäten. Langsames, genussvolles, aufmerksames Lesen – jetzt ist das möglich. „Vergiss alles, was du über Schnelllesen gelernt hast“, rate ich da immer gern. Beim Lesen gilt hier die Weisheit, die wir aus anderen Bereichen kennen: „Wenn du es eilig hast, gehe langsam!“

Vergiss alles, was du über Schnelllesen gelernt hast. Beim Lesen gilt hier die Weisheit, die wir aus anderen Bereichen kennen: „Wenn du es eilig hast, gehe langsam!“

Doch zurück zum Anfang, zur Frage nach dem Lesestoff für den Urlaub. In ein abwechslungsreiches Ferien-Bücher-Paket gehören vielfältige Literaturarten für die verschiedenen Bedürfnisse, die auftreten können. Es gleicht ein wenig dem Zusammenstellen der Reiseapotheke, die ja auch eventuelle und sehr verschiedene Notfälle abdecken soll. Was gehört also in den Koffer?

 

Etwas Lustiges und Leichtes. Wer greift schon nach einem Wein oder nach einem lockeren Abend an der Hotelbar zu einer düsteren Horrorgeschichte oder zu einem trockenen Sachbuch über die Wanderungen von Stämmen in der Steinzeit?

 

Etwas Spannendes. Freunde guter Krimis oder Spionageromane haben jetzt endlich Zeit für ein 600-Seiten-Sixpack.

 

Etwas Sinnstiftendes. Eine Bibel in verständlicher Sprache gibt Orientierung für die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens, aber auch für zu erwartende schwierige Situationen nach der Leichtigkeit des sonnigen Sommerurlaubs.

 

Etwas Historisches. Ein Roman mit geschichtlichem Hintergrund oder eine Biografie sind ein wohltuender Gegensatz zum Trend der schlagzeilenartigen Kurzatmigkeit aktueller Nachrichten.

 

Ulaubszeit ist Lesezeit, ist Lebenszeit. Aldous Huxley brachte es auf den Punkt: „Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten, zu einem berauschend schönen, sinnerfüllten und glücklichen Leben.“

 

 

Dein lesefreudiger Senior

Heinz-Martin Adler

verheiratet mit Margret, Vater, Großvater und Urgroßvater, war Verlagsmitarbeiter, Geschäftsführer, Trainer und Erwachsenenbildner und befindet sich heute im aktiven Unruhestand. 

 

E-Mail: hmadler@t-online.de

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