„Ich habe fast alle Bücher durch“, erzählte ich meinem Studienkollegen. Die Rede war von den Büchern der Bibel. Wir befanden uns im ersten Jahr unseres Theologiestudiums. Bis zum Ende des Studienjahres sollten wir die ganze Bibel ein Mal durchgelesen haben. Ich lag ganz gut in der Zeit: Das gesamte Neue Testament hatte ich gleich zu Beginn des Jahres in einem Rutsch durchgelesen, parallel dazu mit dem Alten Testament angefangen. Da hatte ich selbstverständlich mit meinen Lieblingsbüchern angefangen, so dass nun, gegen Ende des Studienjahres, nur noch die vermeintlich langweiligen übrig waren. „Das Buch Richter fehlt noch. Darauf habe ich so gar keine Lust!“, erklärte ich meinem Studienkollegen. Der sah mich vollkommen entgeistert an: „Keine Lust auf das Buch Richter? Warum denn? Das ist mein absolutes Lieblingsbuch!“ Nun war es an mir, irritiert dreinzuschauen. Noch nie hatte ich jemanden das sagen hören. Seine Aussage machte mich neugierig und so fing ich an zu lesen.

 

Der Anfang noch wie erwartet unspektakulär, versuchte ich, das Buch mit seinen Augen zu lesen. Was war daran so toll? Ich las und las und entdeckte im Laufe der Zeit immer mehr Dinge, die mich begeisterten. Als ich fertig war, bedankte ich mich bei ihm und ließ ihn wissen, dass ich jetzt seine Begeisterung für dieses Buch der Bibel teilte. Er sah mich irritiert an. „Du findest es toll?“, fragte er stirnrunzelnd. Als ich bejahte, fing er an zu lachen. Er habe mich auf den Arm nehmen wollen. Der Grund, warum er gesagt hatte, dass das Buch sein Lieblingsbuch sei, war, dass er mit Nachnamen – Sie ahnen es vielleicht – „Richter“ heißt.

 

Wir alle brauchen ab und an Perspektivwechsel. Sie ergänzen unseren Blick auf Dinge, lassen sie bisweilen in ganz neuem Licht erstrahlen.

Besagter Studienkollege wollte mich nur veräppeln. Doch genau damit hatte er mir einen unglaublichen Gefallen getan. Er hatte mich herausgefordert, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In diesem Fall, an ein als langweilig abgestempeltes Buch so heranzugehen und es so zu lesen, als wäre es das spannendste Buch der Welt (oder zumindest der Bibel)!

 

Mit anderen Augen

Wir alle brauchen ab und an solche Perspektivwechsel. Sie ergänzen unseren Blick auf Dinge, lassen sie bisweilen in ganz neuem Licht erstrahlen. Nehmen wir den Herbst: Für die einen der Beginn der verhassten dunklen, kalten Jahreszeit – für die anderen der herbeigesehnte Zeitpunkt, um es sich bei Kerzenschein mit Wolldecke, heißem Kakao und einem guten Buch auf dem Sofa gemütlich zu machen. Ein und dieselbe Jahreszeit, zwei vollkommen unterschiedliche Blickwinkel.

 

Bei welchem Thema würde Ihnen ein solcher Perspektivwechsel gerade guttun? Wo würde es sich lohnen, einen zweiten Blick zu wagen? Oftmals sind wir so in unserer Sicht auf Dinge verhaftet, dass wir es für nahezu ausgeschlossen halten, dass es auch ganz anders sein könnte.

Halten Sie heute doch einmal bewusst Ohren und Herz offen für andere Sichtweisen! Und falls Ihre Mitmenschen keine neuen Sichtweisen beisteuern können, dann wagen Sie stattdessen doch einfach ein kleines Gedankenexperiment: Versetzen Sie sich in eine imaginäre Person, die Dinge absolut anders sieht als Sie es tun. Versuchen Sie für jede Sache, die Sie langweilig, doof oder nervig finden, mindestens eine komplett gegensätzliche Sicht der Dinge zu benennen. Sie müssen diese Sicht nicht teilen. Es geht lediglich darum, Perspektivwechsel zu üben. Sie werden staunen, was Sie auf diese Weise alles entdecken.

 

 

Nicole Sturm

hat dem Herbst lange Zeit nicht viel abgewinnen können. Ein Kommentar einer Klientin brachte sie zum Umdenken. Als psychotherapeutischer Coach (Heilpraktiker für Psychotherapie) unterstützt sie Menschen dabei, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten; sehr gerne auch in Form von Online-Coachings. Mehr über sie und ihre Arbeit finden Sie hier: www.vorwärtsleben.de 

 

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