Wie süchtig sind wir? Wo endet bewusstes Genießen und wann beginnt Gebundenheit? Weil es sehr viele Varianten der Abhängigkeit gibt und es zur Symptomatik der Sucht gehört, sie bei sich selbst zu leugnen, sind genaue Zahlen über die tatsächliche Verbreitung von Süchten kaum zu erreichen. Fest steht aber, dass in unserer Gesellschaft Suchtverhalten ziemlich üblich ist. Die Zahlen werden um so genauer, je offensichtlicher die Probleme sind, die daraus entstehen, und je weniger salonfähig die Süchte sind. So bezifferte zum Beispiel der „Fachverband Sucht e. V.“ 2018 die Alkoholabhängigkeit im engeren Sinn auf 3,4 Prozent der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren, wobei Männer doppelt so häufig betroffen waren wie Frauen. Riskantes, das heißt „gesundheitsschädigendes Trinkverhalten“ kam aber weitaus öfter vor. Die Auswirkungen zeigen sich dann wiederum in der Sterbestatistik: Zehntausende gehen jährlich an den Folgen des Trinkens zugrunde.

 

Das Grundproblem

Fachlich wird zwischen Substanzabhängigkeiten und suchtartigen Verhaltensweisen unterschieden. Das ist einerseits sinnvoll, andererseits schwierig. Sinnvoll ist es, weil Substanzabhängigkeiten mit der körperlichen Seite des Problems eine wichtige Komponente beinhalten, die den Verhaltensabhängigkeiten fehlt. Schwierig ist es, weil das Grundproblem hier wie dort dennoch dasselbe ist.

 

Das Grundproblem der Sucht ist die schädigende Abhängigkeit. Es macht wenig Sinn, von Sucht zu sprechen, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis keinen Schaden anrichtet. Bei Abhängigkeiten, die keinen Schaden anrichten, handelt es sich um absolute Lebensnotwendigkeiten:

Das kleine Kind ist abhängig von seiner Mutter. Darum schreit es, wenn sie nicht zur Verfügung steht. Es braucht sie unbedingt, um überhaupt leben zu können.

Ich bin in jedem Moment abhängig davon, dass es genug Sauerstoff zum Atmen für mich gibt.

Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat im Bewusstsein der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ die unleugbare Basis unseres Glaubens an Gott gesehen.

In der Tat: Wir sind abhängig davon, Daseinsbedingungen vorzufinden, die es uns möglich machen, unser gutes natürliches Potenzial zu entfalten, und ebenso sind wir abhängig davon, dass uns ein gutes Ende geschenkt ist, wenn wir sterben. Wir haben unser Leben nicht selbst in der Hand. Das sind natürliche Abhängigkeiten. Sie schaden nicht, sie sind einfach mit dem Dasein gegeben.

 

Davon unterscheidet sich die schädigende Abhängigkeit der Sucht dadurch, dass wir uns die Lebensnotwendigkeit in Bezug auf den Gegenstand unserer Sucht nur einbilden. Süchtig bin ich, wenn ich meine, ohne diesen Gegenstand nicht leben zu können. Bei Substanzabhängigkeiten kann das in gewisser Weise stimmen, weil der Körper so auf die Droge eingestellt ist, dass er einen Entzug ohne sorgfältige medizinische Durchführung möglicherweise nicht überlebt. Aber darin besteht nicht das Grundproblem der Sucht. Das Grundproblem äußert sich bei einer Person, die einen medizinischen Entzug bräuchte, in der Leugnung: Sie will den Entzug vermeiden, weil sie an die Lebensnotwendigkeit der Droge an sich glaubt, an deren Konsum sie sich gewöhnt hat. „Was soll denn mein Leben überhaupt noch wert sein, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke?“ Natürlich: Wenn ich die Droge gegen ein freudloses, langweiliges Leben einzutauschen habe, dann lohnt sich auch kein Entzug.

 

Auf der Suche nach Halt

So süchtig wie nach Drogen oder wie nach allen möglichen lusterzeugenden Verhaltensweisen, können wir auch nach Beziehungen sein. Doch das Baby in seiner Abhängigkeit von der Mutter unterscheidet sich fundamental von dem erwachsenen Ehemann, der seine Frau in den goldenen Käfig sperrt, weil er sich einbildet, ohne sie nicht sein zu können, wie auch von der Frau, die das mit sich geschehen lässt, weil sie sich einbildet, lebensnotwendig den starken Beschützer zu brauchen.

Eine andere Variante der Beziehungsabhängigkeit mit mindestens ebenso verheerender Wirkung ist die fanatische Massenabhängigkeit von narzisstischen Führern und umgekehrt deren Abhängigkeit von der fanatischen Ergebenheit ihrer Getreuen. Aber Derartiges erscheint natürlich eher nicht in den Suchtstatistiken.

Das süchtige Festhalten gleicht dem Festhalten an der Stange in der Straßenbahn. „Wenn ich sie loslasse, verliere ich den Halt!“

Manche Menschen werden süchtig durch die Schuld anderer, wie zum Beispiel viele Senioren durch unverantwortlich verordnete Medikamente. Aber wiederum gilt: Das Grundproblem der Sucht ist normalerweise ein anderes: Nicht ich werde abhängig gemacht, sondern ich mache mich selbst abhängig, weil ich es dadurch bequemer habe. Ich bleibe lieber im Status des kleinen Kindes. Dann darf ich mich als „armes Opfer“ betrachten, um das sich die anderen nicht genügend kümmern, und natürlich auch in der Folge als Opfer meiner Sucht: Ich bin ja krank, ich kann ja gar nicht anders.

 

Aber nicht das Glücksspiel, der Porno, die Schokolade oder die Zigarette machen mich abhängig, sondern ich mache mich selbst abhängig davon. Nie und nimmer ist der Raucher, der sich wie durch eine magische Macht dazu gezwungen fühlt, doch noch eine nächste Zigarette anzuzünden, an den Glimmstengel gebunden! Der ist für sich genommen völlig harmlos und ruht gern bis zum jüngsten Tag in seiner Schachtel, wenn der Raucher ihn dort lässt. Das Problem der Sucht ist nicht die Gebundenheit an ihren Gegenstand, sondern die Weigerung, ihn loszulassen.

 

Das süchtige Festhalten gleicht dem Festhalten an der Stange in der Straßenbahn. „Wenn ich sie loslasse, verliere ich den Halt!“ So denkt auch der Süchtige. Aber es ist umgekehrt: Er verliert den Boden unter den Füßen, weil der Halt trügt, den er umklammert. Süchte versprechen zu stabilisieren, aber in Wirklichkeit destabilisieren sie.

 

 

Warum wir in der Sucht gefangen bleiben

Wir verweigern das Loslassen, weil wir uns einbilden, davon abhängig zu sein, und wir sind tatsächlich in dem Maß abhängig, wie wir uns das einbilden. Diese Einbildung ist nichts Harmloses. Sie kann eine unglaublich starke Überzeugungskraft entwickeln. Vier Faktoren sind dafür verantwortlich:

 

• Die Gewohnheit

• Der Dopamineffekt

• Die scheinbare Alternativlosigkeit

• Die Entmutigung

 

Die Gewohnheit. Bei körperlichen Süchten spielt dieser Faktor eine besonders große Rolle. Der Organismus hat sich auf das Suchtmittel eingestellt und braucht es jetzt wirklich, obwohl es ihn zerstört. Aber wir gewöhnen uns auch unsinnige Verhaltensweisen an, die wir ohne Weiteres wieder bleiben lassen können, wenn uns der Unsinn klar geworden ist. Wer zwingt mich eigentlich, damit fortzufahren? Niemand. Es kann sein, dass diese Einsicht bereits hinreicht, um ein Suchtverhalten von einem Moment auf den andern zu beenden. Dann lag die Kraft der Sucht tatsächlich nur in der unreflektierten Gewohnheit.

 

Der Dopamineffekt. Die emotionale Hauptwirkung von Süchten besteht in der Aktivierung des Belohnungszentrums im Gehirn. Es schüttet den Wohlfühlstoff Dopamin aus. Unser Gedächtnis ordnet diese angenehmen Ausschüttungen der Schublade zu, in die sie auch eigentlich gehören: „Das lohnt sich wirklich!“ steht auf ihrem Etikett. Dort hinein gehören die Dopaminausschüttungen, die wir als echten Lohn sinnvoller Mühen erleben, wenn wir zum Beispiel ein angestrebtes Ziel erreicht haben und darum stolz und glücklich sind. Das Suchtverhalten erzeugt dasselbe Gefühl, nur ohne Mühe und unter Umständen viel stärker.

 

Die scheinbare Alternativlosigkeit. Das Gehirn interpretiert der starken Dopaminausschüttungen wegen das Suchtverhalten als die Nummer eins der lohnenden Aktivitäten. Es ist zum höchsten Wert geworden und es scheint keinen Grund zu geben, diesen Wert herabzustufen, weil erfahrungsgemäß alle anderen Werte weniger Lohn versprechen. Sie sind nicht attraktiv genug für mich. Darum fehlt mir die Motivation, sie gegen das Suchtverhalten einzutauschen.

 

Die Entmutigung. Dem Verlangen nach dem Dopamineffekt mag die Einsicht gegenüberstehen, dass der Preis dafür zu hoch ist: „Ich sehe, dass es so eigentlich nicht weitergehen kann, denn es geht zu viel kaputt dadurch. Darum fasse ich immer wieder gute Vorsätze, um den Teufelskreis zu durchbrechen, aber ich schaffe es nicht, weil mir die entscheidende Motivation dafür fehlt, konsequent zu bleiben. Das bestätigt mich in meinem Urteil, ein Versager zu sein und gegen die Übermacht der Sucht einfach nicht anzukommen. Ich resigniere!“

Es wird schwierig, konsequent zu bleiben, wenn es kein höheres Ziel als den Alltag gibt, für das es sich durchzuhalten lohnt. Seien Sie mutig und definieren Sie Ihre Ziele neu!
Wie wir uns befreien können

Es liegt auf der Hand: Wir befreien uns aus der Sucht, wenn wir die Faktoren überwinden, die uns darin gefangen halten.

 

→ Gewohnheit? Raus aus dem alten Trott!

→  Dopamineffekt? Erst die Mühe, dann der Lohn!

→ Alternativlosigkeit? Was will ich wirklich?

→ Entmutigung? Niemals aufgeben!

 

Gewohnheit? Raus aus dem alten Trott! Entschließen Sie sich unabhängig von Ihrer Sucht zu der Devise: „Leben statt sich leben lassen“. Greifen Sie nicht nach den Sternen, sondern teilen Sie sich Ihre Zeit ein, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Die Leitfrage dabei lautet: „Was ist mir für heute so wichtig, dass ich genug Sinn darin finde, dafür Zeit einzuplanen?“ Geben Sie dem Sinnvollsten Vorrang. Tun Sie nichts mehr einfach nur aus Gewohnheit, sondern überlegen Sie sich von Tag zu Tag Ihre Prioritäten und halten Sie sich daran.

 

Dopamineffekt? Erst die Mühe, dann der Lohn! Das erinnert Sie vielleicht unangenehm an den Satz „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Aber darum geht es nicht. Warum sollte die Arbeit nicht selbst ein Vergnügen sein? Wir erleben viel mehr Freude an Beschäftigungen, die willentliche Aktivität erfordern, als an passiven Erfahrungen. Freude: Ja, genau, das ist der Dopamineffekt! Ich habe ein Ziel erreicht, das ich mir vorgenommen hatte. Es ist mir gelungen, es hat sich gelohnt. Ich freue mich und bin ermutigt, das nächste sinnvolle Ziel anzugehen. Das fühlt sich gut an. So wirkt das Dopamin im Sinne des Erfinders.

 

Alternativlosigkeit? Was will ich wirklich? Der normale Alltag bringt es mit sich, dass sich der Lohn der Mühe nicht so einstellt, wie wir es gern hätten. Das Suchtverhalten bietet sich dann besonders aufdringlich als die bessere Lösung an: „Heute ist ein schlechter Tag mit wenig Belohnungseffekt. Mir fehlt etwas. Mein Suchtverhalten könnte mir doch jetzt den Ausgleich verschaffen.“ Es wird schwierig, konsequent zu bleiben, wenn es kein höheres Ziel als den Alltag gibt, für das es sich durchzuhalten lohnt. Seien Sie mutig und definieren Sie Ihre Ziele neu! „Ab jetzt träume ich nicht mehr mein Leben, sondern lebe meinen Traum, auch wenn ein weiter Weg dorthin zu gehen ist.“

 

Entmutigung? Niemals aufgeben! Die größte Falle ist die Selbstabwertung und der größte Fehler, den Sie machen können, ist, nicht mehr weiterzugehen. Selbstabwertung ist die Geringschätzung der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen: „Ich bin ein armes Opfer, sowieso und immer unterlegen, und mich zu wehren hat doch keinen Zweck!“ Auf solche Gedanken kommen wir vor allem bei Rückfällen und Rückschlägen: „Ich bin unfähig und das Leben bestätigt es mir, weil es mir den Erfolg nicht gönnt!“ Aber warum sollte Ihnen der nächste Versuch nicht glücken, nur weil Sie es jetzt gerade oder bis jetzt noch nicht geschafft haben?

Dr. phil. Hans-Arved Willberg

Jahrgang 1955, ist Sozial- und Verhaltenswissenschaftler sowie ist Theologe und Philosoph. Er leitet das Institut für Seelsorgeausbildung (ISA) und ist selbstständig als Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut (DIREKT e.V.) und Pastoraltherapeut, Trainer, Coach und Dozent mit den Schwerpunkten Burnoutprävention und Paarberatung sowie als Buchautor tätig. Er hat mehr als 30 Bücher und zahlreiche Zeitschriftenartikel veröffentlicht.

 

www.life-consult.org

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