MINDO: Herr Willberg, genau hinsehen, tiefer graben, Motive und Verhaltensmuster hinterfragen – das klingt nach Arbeit und auch nach vielleicht unbequemen Entdeckungen. Warum lohnt es sich trotzdem für jeden, nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben, wenn es um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geht?

 

HANS-ARVED WILLBERG: Warum graben Hunde leidenschaftlich Löcher in die Wiese? Weil es ihrer Natur entspricht. An der Oberfläche zu bleiben, entspricht nicht der Natur des Menschen. Wenn wir nicht leidenschaftlich nach dem graben, was gut, wahr und schön ist, entfalten wir unser menschliches Potenzial nicht.

 

 

Wie geht man eine gesunde Selbstreflexion, in der man nicht nur um sich kreist, sondern auch wirklich vorwärtskommt, am besten an? Kann man das selber bewerkstelligen oder muss jeder gleich zu einem Coach oder Therapeuten?

 

Das kann man nur selber bewerkstelligen. Wer andere in sich graben lässt und nur als Handlanger daneben steht, lässt sich fremdbestimmen. Die Fremdbestimmung ersetzt die Selbstfindung. Coaching, Therapie und Seelsorge sind normalerweise nur sinnvoll, wenn es sich um Hilfe zur Selbsthilfe handelt.

 

 

Apropos Therapie: Coaching, Seelsorge, Therapie – was ist eigentlich für wen wann dran?

 

Coaching und Therapie haben viel gemeinsam, lassen sich aber auch in einem wesentlichen Aspekt klar voneinander unterscheiden: „Therapie“ heißt auf Deutsch „Heilung“. Therapie brauche ich, wenn etwas krank ist. „Coach“ heißt „Trainer“. Hier geht es sinnvollerweise um die Förderung von Gesundem.

 

Das Verhältnis der Seelsorge zu Coaching und Therapie ist hingegen nicht so einfach zu definieren. Dem herkömmlichen Verständnis von Seelsorge nach geht es dort um Glaubensangelegenheiten. Man kann den Begriff aber auch weiter fassen, ganz allgemein als „Sorge für die Seele“. So gesehen wären Coaching und Psychotherapie auch Formen der Seelsorge.

 

 

Lange Zeit standen Psychologie und Religion ja eher auf Kriegsfuß miteinander, was mittlerweile zum Glück ja weitgehend anders ist. Wie kann Glaube denn konkret von der Psychologie und ihren Erkenntnissen profitieren?

 

Theologisch gesehen ist Glaube „Vertrauen“, „Treue“ und „Erwartung“. Diese drei kann man psychologisch beschreiben und man muss es auch, wenn man überhaupt verstehen will, wie sie sich konkret im Leben auf gesunde Weise verwirklichen. Andernfalls bleibt der Glaube immer etwas mehr oder weniger Abstraktes oder etwas Mystisches. Damit kann man im realen Leben nicht unbedingt viel anfangen.

 

 

Und was kann umgekehrt Psychologie von Religion lernen?

 

Vor allem, dass die Spiritualität ganz wesentlich zum Menschsein gehört. Eine Psychologie, die das ausklammert, wird sich selbst nicht gerecht. Das ist so, als würde man zum Beispiel Bäume erforschen, aber verschweigen oder leugnen, dass die Bäume Wurzeln haben, weil man von der Ideologie ausgeht, dass unter der Oberfläche nichts mehr kommt.

Das echte Glück kommt nicht durch das zustande, was wir machen, sondern durch das, was wir empfangen.

Kann Selbstreflexion auch gefährlich werden?

 

Reflexion ist Spiegelung. Das Wort „Selbstspiegelung“ liest man eigentlich selten, oft jedoch das Wort „Selbstbespiegelung“. Das liegt wohl daran, dass die meisten Menschen nicht wirklich ihr Selbst im Spiegel anschauen, um ein realistisches Bild davon zu bekommen, sondern sich nur be-spiegeln, ohne ehrlich hinzuschauen, um sich entweder etwas auf ihre Großartigkeit einzubilden oder ihr Recht auf Selbstmitleid daraus zu folgern. Selfies scheinen heutzutage die gebräuchlichste Form der Selbstbespiegelung zu sein. Selbsterkenntnis und Selbstfindung sieht anders aus: Da begegne ich nicht dem Smartphone oder sonst einem Spiegelchen, das nur immer mein eigenes Vorurteil bestätigt, sondern der Realität.

 

 

Der sicher gute Ansatz, sich weiterentwickeln zu wollen oder auch besser zu werden – ob als Mensch, in seinem Beruf oder auch als Jesus-Nachfolger –, kann auch kippen. Wie schafft man es, auf eine gute Art und Weise an der eigenen Entwicklung zu arbeiten und sich doch gleichzeitig auch so anzunehmen, wie man ist, und damit der heute überall und permanent geforderten Selbstoptimierung eine Absage zu erteilen?

 

Nichts gegen Selbstoptimierung, wenn sie wirklich das Optimum für mich selbst ist. Und besser zu werden hat noch keinem geschadet, wenn das, was besser wird, schon gut war. Das Problem des Selbstoptimierungs-Hypes scheint mir aber zu sein, dass da etwas verstärkt wird, das nicht gut ist und nicht gut tut. Ich glaube, dass man es so auf den Punkt bringen kann: Lebensqualität wird als Erfolg verstanden, der aus Leistung resultiert. Lebensqualität auf diese Weise erreichen zu wollen, ist aber immer ein Irrweg. Sie ist ein Geschenk und kann nur als Geschenk empfangen werden. Lebensqualität durch „Selbstoptimierung“ als Lohn von Leistung zu definieren, ist eine neue Form von Moralismus. Der Moralismus hat schon immer behauptet: „Wenn du dir Mühe gibst und es richtig machst, dann geht es dir gut.“

 

Das echte Glück kommt aber nicht durch das zustande, was wir machen, sondern durch das, was wir empfangen. Es stimmt: Alle möglichen Übungswege des Empfangens können umkippen und das Empfangen durch das Machen ersetzen, das Geschenk durch die Leistung. Sinnvolle Selbstoptimierung kommt aus dem Empfangen. Dann macht die Leistung Freude, denn sie wird selbst zum Geschenk. Es ist wie bei den Hunden auf der Wiese: Nicht mehr an der Leine sein und begeistert dem nachzuwühlen, was für mich wirklich Wert hat – da bin ich als Mensch in meinem wie der Hund in seinem Element.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sabine Müller.

Dr. phil. Hans-Arved Willberg

ist promovierter Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, Theologe M.A. und M.Th., Philosoph M.A., Rational-Emotiver Verhaltenstherapeut & Coach (DIREKT e.V.); seit vielen Jahren Praktiker in Seelsorge, Coaching, psychologischer Beratung und Seelsorgeausbildung. Außerdem läuft, schreibt und musiziert er und ist ehrenamtlich unterwegs. Darüber hinaus gehört zum Mitdenker-Team von MINDO.

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