MINDO: Herr May, genau hinsehen, tiefer graben, Motive und Verhaltensmuster hinterfragen – das klingt nach Arbeit und auch nach vielleicht unbequemen Entdeckungen. Warum lohnt es sich trotzdem für jeden, nicht an der Oberfläche stehen zu bleiben, wenn es um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit geht?

 

WERNER MAY: Naja, man entwickelt sich ja nicht automatisch in die Richtung, die man gerne hätte, egal welche Lebensziele man sich gestellt hat oder welchen Lebenssinn man für sich sieht. Weiß man, oder besser ahnt man, welche Kompetenzen oder Persönlichkeitseigenschaften erstrebenswert sind, wird sich bald herausstellen, dass sich einem Hindernisse in den Weg stellen – zum Beispiel die Angst vor Prüfungen, Ungeduld oder dass man mit Versagen nicht umgehen kann. Allein schon diese Hindernisse realistisch wahrzunehmen, bedeutet tiefer zu graben. Es kann sein, dass sich einem hier Scham entgegenstellt, nicht so sein zu dürfen wie man ist.

 

Ich bin froh, dass ich nicht mehr der Gleiche bin wie vor 30 oder auch zehn Jahren – und das nicht nur, wenn ich an manche Schwächen denke, die ich überwunden habe, zum Beispiel meine sozialen Ängste. Sondern auch , weil ich auch dazugewonnen und Neues entwickelt habe, zum Beispiel Dinge kreativ anzupacken.

 

 

Wie geht man eine gesunde Selbstreflexion, in der man nicht nur um sich kreist, sondern auch wirklich vorwärtskommt, am besten an? Kann man das selber bewerkstelligen oder muss jeder gleich zu einem Coach oder Therapeuten?

 

MAY: Für mich als Christ war und ist es hilfreich, die Bergpredigt zu lesen und mich dann zu fragen, in welchem Bereich ich mich noch entwickeln kann oder wo ich vielleicht etwas, das Jesus anspricht, völlig ausgeblendet habe. Zum Beispiel spricht Jesus an einer Stelle vom Balken im eigenen Auge, der uns verborgen ist, der uns aber den Splitter am anderen sehen lässt. Es gibt also blinde Flecken, wo wir andere brauchen, um diese zu entdecken. Das müssen keine professionellen Helfer sein, auch Ehepartner oder Freunde können uns hier unterstützen. Dann gibt es heute zahlreiche Selbsthilfebücher – im christlichen wie im nichtchristlichen Bereich –, die viele Anregungen bieten.

 

Grundsätzlich sollte es etwas Normales in unserem Leben sein, Hilfe anzunehmen. Wir brauchen nichts alleine zu schaffen. Hilfe zu suchen, diese ernst zu nehmen und dann auch umzusetzen, ist für viele nicht selbstverständlich, gerade wenn es um persönliche Dinge geht. Zusätzlich glaubt man vielleicht auch, nicht die Zeit zur Verfügung zu haben, jemanden zu suchen, der einen Rat geben kann, wenn man ihn nicht gleich in der eigenen Straße findet.

Grundsätzlich sollte es etwas Normales in unserem Leben sein, Hilfe anzunehmen. Wir brauchen nichts alleine zu schaffen.

Lange Zeit standen Psychologie und Religion ja eher auf Kriegsfuß miteinander. Das ist mittlerweile zum Glück weitgehend anders. Wie kann Glaube denn konkret von der Psychologie und ihren Erkenntnissen profitieren?

 

MAY: Nicht nur, wenn wir Missbrauch in unserer religiösen Umgebung oder andere gravierende Dinge erlebt haben, brauchen wir psychotherapeutische Hilfe, sondern auch in der religiösen Erziehung und in der persönlichen Glaubensentwicklung als Erwachsener können wir von der Psychologie profitieren. Wenn es mir schwer fällt, einer Person zu vergeben, kann mir psychologisches Wissen über Prozessverläufe helfen und die einzelnen Schritte hin zur Vergebung deutlicher werden lassen. Aber auch viele weitere praktische Erkenntnisse der Psychologie sind in einer bibelorientierten Theologie notwendig, wie zum Beispiel das Wissen um Alterungsprozesse, Kommunikationsprozesse oder auch Stressbewältigung.

 

 

Und was kann umgekehrt Psychologie von Religion lernen?

 

MAY: Vor allem Grundlegendes – und damit meine ich, dass es ohne das gar nicht geht. Den Menschen als Geschöpf zu verstehen, das seinen wesentlichen Sinn, seine Kraft und Lebensorientierung aus einer lebendigen Gottesbeziehung empfängt, unterscheidet sich radikal davon, ihn nur als ein höher entwickeltes materielles Wesen zu betrachten, das von seinem sozialen Umfeld her geformt wird. Auch für die Festlegung der Werte, an denen wir unser Handeln und Entscheiden ausrichten können, bietet der christliche Glaube einen reichen Schatz an.

 

 

Der sicher gute Ansatz, sich weiterentwickeln zu wollen oder auch besser zu werden – ob als Mensch, in seinem Beruf oder auch als Jesus-Nachfolger –, kann auch kippen. Wie schafft man es, auf eine gute Art und Weise an der eigenen Entwicklung zu arbeiten und sich doch gleichzeitig auch so anzunehmen, wie man ist, und der heute überall und permanent geforderten Selbstoptimierung eine Absage zu erteilen?

 

MAY: Gott nimmt mich an, und das bedeutet für mich, jeder Tag hat seine eigene Gnade. Was ich heute brauche, darum kümmert sich Gott mit mir. Dieser Gedanke hilft mir erst einmal, von mir selbst wegzuschauen und zu vertrauen, dass das Entscheidende in meinem Leben und damit auch heute schon passiert ist, nämlich im Evangelium von Jesus Christus.

 

Darüber hinaus ist es meine persönliche Überzeugung, dass Veränderungsprozesse ihre Zeit brauchen. In der Regel dauert es etwa eineinhalb Jahre, bis etwas zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist und dauerhaft zu mir gehört. Das kollidiert allerdings damit, dass wir ständig Hinweise und Angebote bekommen, wo wir uns verändern könnten und was noch sinnvoll sein würde, zu erreichen. Wir geben uns alle viel zu wenig Zeit und stehen in der Versuchung, immer wieder etwas Neues für unser Leben erobern zu wollen. Veränderungen aber brauchen Zeit – auch hier gilt: „Weniger ist mehr“.

 

Ich würde raten, sich eine einzige ganz konkrete Sache vorzunehmen, die verändert werden soll – zum Beispiel, andere ausreden zu lassen oder eine wöchentliche Zeitplanung anzupacken und umzusetzen. An dieser Veränderung bleibe ich dann eineinhalb Jahre dran, alles andere, was noch erstrebenswert oder veränderungswert scheint, stelle ich zurück und nehme mich darin an, wie Gott mich annimmt. Dabei erwarte ich nicht nur die eine Veränderung, sondern dass sich im Zuge dieses Prozesses noch ganz andere Dinge ebenfalls verändern. Wir sind komplexe Wesen – wenn sich eine Sache verändert, verändern sich automatisch andere mit.

 

 

Kommt man in seiner persönlichen Entwicklung jemals an den Punkt, wo man sagen kann: „Jetzt ist es genug“?

 

MAY: Ja und nein. Ja, weil man im Laufe der Lebensjahrzehnte schon einiges ausprobiert und entweder erreicht hat oder auch nicht. Man hat gelernt, mit Grenzen zu leben und ist nicht mehr frustriert über das, was nicht funktioniert. Man ist genügsam geworden. Das kann etwas mit dem Älterwerden zu tun haben, das ja parallel abläuft. „Es genügt – so, wie ich bin“, bedeutet für mich, mich selber zu begnadigen und den Mut zu haben, mich anderen zuzumuten wie ich eben bin.

 

Nein, weil „Christus ähnlicher werden“ die große Herausforderung hinsichtlich der Identität jedes Christen ist und bleibt. Und diese Herausforderung und gleichzeitig Verheißung ist in meinem Leben immer mehr in den Mittelpunkt gerückt, stellt die anderen Veränderungsziele auf den zweiten Platz – auch mit dem Wissen, dass diese sich dadurch leichter ergeben. Ich gestehe, ich weiß mich noch weit entfernt von diesem Ziel – aber jeder Millimeter Bodengewinn ist ein Riesenfortschritt.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Inge Frantzen.

Werner May

Jg. 1949, Diplom-Psychologe, war über 25 Jahre erster Vorsitzender der „IGNIS-Akademie für Christliche Psychologie“ in Kitzingen, wo er Grundfragen Christlicher Psychologie und Beratung lehrte. Außerdem baute er über viele Jahre das „Institut für Christliche Psychologie, Pädagogik und Therapie“ in der Schweiz mit auf. Seit 2016 gibt May das e-Magazin „gehaltvoll“ heraus (www.gehaltvoll-magazin.de), alle weiteren Publikationen unter: https://wernermay.jimdo.com

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