„Lass dich nicht gehen!“ Dieser Satz klingt mir noch aus der Kindheit nach. Es sollte heißen: „Benimm dich ordentlich!“ Und mit „ordentlich“ war gemeint: So wie die Eltern – und überhaupt die Erwachsenen um dich herum – es wollen. Du störst mit deinem Verhalten! Pass dich an, füge dich ein, sei brav! Auf die Bedürfnisse und Probleme des Kindes wurde dabei keine Rücksicht genommen.
Aber was ist heute dran? Darf ich mich gehenlassen – oder soll ich mich zusammenreißen? Tatsächlich kommt es nicht darauf an, wozu ich jetzt gerade Lust habe, sondern darauf, was ich jetzt gerade wirklich brauche. Sprich: Ich kann aus Frust eine Tafel Schokolade essen, obwohl ich eigentlich weiß, dass es mir nicht guttut. Ich kann mir aber auch ein Stück Schokolade gönnen, weil es mir gerade guttut. Das ist eine Frage der Achtsamkeit.
Wenn die Erwachsenen damals achtsam mit mir umgegangen wären, hätten sie sich Zeit für mich genommen. Sie hätten mich wohlwollend angeschaut, nicht von oben herab, sondern um mich zu verstehen. Es wäre ihnen darum gegangen, meine Not und meine Bedürfnisse nachvollziehen zu können. Und dann hätten sie mit mir zusammen überlegt, wie sich die Not beheben und das Bedürfnis erfüllen lässt.
Nun bin ich aber schon eine Weile erwachsen. Welchen Sinn sollte es haben, immer wieder die Fehler meiner Erzieher zu beklagen? Es lässt sich nicht mehr ändern. Viel besser tut es mir, mich an das Dankenswerte zu erinnern, ihr Bemühen zu sehen und ihre Fehler zu verzeihen. Das gelingt mir am besten, wenn ich damit so umgehe, wie ich es auch mit den eigenen Fehlern versuche: konstruktiv. Fehler sind dazu da, dass wir daraus lernen, egal ob es sich um die eigenen oder die der anderen handelt.
Ich bleibe stehen, um mich nicht treiben zu lassen
Heute liegt es in meiner Verantwortung, mit mir selbst so umzugehen, wie ich es damals von den Erwachsenen gebraucht hätte und wie es nun auch meine Mitmenschen von mir brauchen. Wenn ich also an einen Punkt komme, an dem ich nicht weitergehen will, frage ich mich, was meine Not, was mein Bedürfnis ist. Ich nehme mich ernst. Es ist paradox: Wenn ich nicht mehr weitergehen will, muss ich es mir gönnen, kurz stehenzubleiben statt nur noch freudlos zu funktionieren oder den Frust zu kompensieren. Dann wird der negativ belastete Satz „Ich lasse mich nicht gehen“ zum positiven „Ich lasse mich nicht treiben“.
Heute liegt es in meiner Verantwortung, mit mir selbst so umzugehen, wie ich es damals von den Erwachsenen gebraucht hätte und wie es nun auch meine Mitmenschen von mir brauchen.
Sich treiben lassen kann in diesem Fall zweierlei bedeuten: Entweder, dass ich mir Druck machen und mich antreiben lasse, wie von einer Peitsche (sehr viel Stress entsteht aus den sogenannten „inneren Antreibern“. Wir meinen, alles Mögliche zu müssen, obwohl kein Sinn dafür ersichtlich ist); oder indem ich mich vermeintlichen Antreibern entziehe. Dann treibe ich dahin wie auf einem Fluss. Ich schwimme mit. Ich vermeide möglichst jede Anstrengung. Ich tue nur, was mir gerade Spaß macht. Doch damit entziehe ich mich aber auch der Verantwortung, nicht nur für die andern, sondern auch für mich selbst, weil es nicht das ist, was sie und auch ich eigentlich brauche.
Egal, ob ich mich an- oder dahintreiben lasse: Es tut mir nicht gut. Ich fühle mich nicht wohl damit. Die Signale dafür kann ich leugnen – oder wahr- und ernstnehmen. Das geht aber nicht nebenher. Dazu muss ich wenigstens kurz einmal stehenbleiben, das heißt: innehalten. Ich muss zu mir kommen, zur Besinnung kommen. Es stimmt etwas nicht, und so darf ich darf mich fragen: Was ist da los? Was ist mein Problem? Was brauche ich jetzt?
Zum Weitergehen braucht man Mut
Viele Menschen machen sich selbst große Probleme, weil sie dem Dogma glauben, es genüge nicht, sich nur für das augenscheinlich Bessere zu entscheiden, weil das zu riskant sei. Sie bilden sich ein, dass eigentlich jede Entscheidung aus dem untrüglichen Wissen über das Gute hervorgehen muss. Und zugleich, dass sie unter allen Umständen jeden Fehler vermeiden müssen. Die Wahrheit ist: Untrügliches Wissen über das einzig wahre Gute findet sich nur selten und außerdem müssen sie gar nichts!
Dieser innere Antreiber ignoriert die Realität. Es gibt technische Systeme, in denen die Fehleranfälligkeit nahezu auf null reduziert sein muss, weil extrem viel auf dem Spiel steht. Das funktioniert aber nur, wenn Experten mit wissenschaftlichen Methoden dafür gesorgt haben, wozu oft ein hoher Aufwand nötig ist. Maschinen zum Beispiel kann man so konstruieren, dass die Wahrscheinlichkeit fataler Fehler äußerst gering wird. Aber das Leben ist kein technisches Gebilde! Realistisch zu sein heißt, bei aller Gewissenhaftigkeit doch auch immer einzubeziehen, dass wir als Menschen Fehler nicht vermeiden können und dass es sich dabei manchmal auch um schwere Fehler handeln kann. Soll heißen: Leben ist immer lebensgefährlich. Und auch: Irren ist menschlich. Zu irren ist Bestandteil unserer Natur und Voraussetzung für das Lernen. Das Motto, nicht weiterzugehen und keinen neuen Schritt zu wagen, bevor nicht sicher ist, dass nichts schiefgehen kann, blockiert allen sinnvollen Fort-Schritt. So geht es nicht weiter.
Zwanghafter Perfektionismus ist ein Diktat der Angst – und jegliches Gegenprogramm zu einem Angstdiktat trägt den Namen Mut. Ich bin nicht mutig, wenn ich keine Angst habe, sondern wenn ich mir von meiner Angst die Vernunft nicht rauben lasse!
Eine Klientin, die unter Panikattacken litt, entschied sich dafür, sich immer dann, wenn starke Angst in ihr aufstieg, zu sagen: „Es ist nichts. Es ist nur die Angst!“ Sie ließ sich nicht mehr treiben von der Angst. Sie rannte nicht davon und sie quälte sich nicht mit dem unrealistischen Anspruch, die Angst im Keim ersticken zu können, um sie gar nicht mehr erleben zu müssen. Sie blieb für einen Moment stehen, um zu überlegen, was genau los war und was nun das Bessere für sie wäre, weil es ihr guttäte. Nach ein paar Monaten konnte sie sagen: „Ich habe das Problem bewältigt.“ Aber für dieses Weitergehen brauchte sie viel Mut.
Maschinen kann man so konstruieren, dass die Wahrscheinlichkeit fataler Fehler äußerst gering wird. Aber das Leben ist kein technisches Gebilde!
Zum Mutigsein sind gute Gründe nötig, denn Mut ist immer unbequem. Mut ist das Gegenteil vom Sich-treiben-Lassen. Sich treiben zu lassen heißt nachzugeben, obwohl es nicht guttut. Mut ist Widerstand gegen dieses problematische Nachgeben.
Jedes sinnvolle Weitergehen ist mutiges Weitergehen. Die Unbequemlichkeit des Mutigseins tue ich mir aber nur an, wenn ich einen guten Grund dafür habe. Für viele Menschen liegt der gute Grund darin, ihren Leidensdruck loszuwerden. Sie ließen sich treiben statt und sind daran kaputtgegangen. Sie haben verstanden, dass sie in der falschen Richtung unterwegs waren und umkehren mussten – und sie haben den Mut gefasst, Schritt für Schritt in der Gegenrichtung voranzugehen.
Und doch scheint es auch viele ohne solchen Leidensdruck zu geben. Sprich: Wenn sie leiden, veranlasst sie das nicht zur Umkehr; ihr Leid ist (noch) nicht stark genug dafür. Vielleicht gibt es zwei Hauptgruppen solcher Menschen, die sich aber vermischen: Die einen leugnen und verdrängen ihr Leid, die andern empfinden es gar nicht als solches. Sich fühlen sich wohl. Wenn Unbehagen aufkommt, weil ihr Gewissen sich regt, fällt es ihnen nicht schwer, es zu beruhigen. Warum sollten sie etwas verändern? Welches Risiko sollten sie eingehen? Sie haben keinen Mut, weil sie nicht wissen, wozu sie den Mut brauchen sollten. Das System, in dem sie leben, treibt sie zwar vor sich her, und wenn sie nicht folgsam wären, würden sie die Peitsche zu spüren bekommen. Aber sie passen sich erfolgreich an. Das System belohnt sie dafür mit kuscheligen Wohlfühlinseln, auf denen sie sich auf dem gesellschaftlichen Mainstream treiben lassen, sehr bequem, sehr gut versorgt. Doch das ist kein Weitergehen, das ist Stillstand. Die Wohlfühlinseln kreiseln auf dem Fluss dahin, aber sonst bewegt sich nichts. Friedlich driften sie ab, aber wohin?
Wissen, was jetzt das Bessere ist
ICH gehe weiter. Es ist gut, das Ich groß zu schreiben, um sich klarzumachen, worauf es dabei ankommt: „ICH gehe weiter“ heißt, leben statt sich leben zu lassen. Es ist ein selbstbestimmtes Weitergehen. Ich entscheide ehrlich und frei, was ich jetzt tatsächlich selber will, weil ich Sinn darin sehe.
In den allermeisten Fällen ist diese Entscheidung gar nichts Großartiges. Es handelt sich lediglich um den nächsten Schritt. Ich überlege mir einfach nur, was jetzt gerade besser ist: Ein Stück Schokolade essen oder nicht? Oder gleich die ganze Tafel oder besser nicht? Ich weiß momentan vielleicht nicht, was in dieser Hinsicht objektiv das wirklich Gute ist. Aber ich kann mich fragen, was jetzt gerade meinem Empfinden und meiner Kenntnis nach das Bessere ist. Das ist eigentlich immer möglich, auch wenn man sehr entmutigt ist.
Wie oft treffen wir im Lauf des Tages eine Entscheidung? Ich jedenfalls sehr oft. Wenn ich mich nun bei jeder Entscheidung frage, was jetzt gerade das Bessere ist, wird in der Summe wahrscheinlich etwas richtig Gutes daraus. Vorausgesetzt, dass ich als das Bessere definiere, was jetzt gerade besser tut, mir selbst und auch den andern. Das Bessere ist nicht, was ich mir diktieren lasse, sondern was ICH meiner Vernunft gemäß für das Bessere halte.
Sehr oft erkenne ich als das Bessere, mich in eine bestehende Ordnung einzufügen. So halte ich es für besser, mich zum Beispiel an die Straßenverkehrsordnung zu halten. Meistens ist es besser, getroffene Vereinbarungen und eingegangene Verpflichtungen einzuhalten und Rücksicht zu nehmen. Es ist besser, weil es besser tut – aber nicht, weil ich es muss, sondern weil ich mich frei dafür entscheide. Ich kann mich jederzeit auch frei dafür entscheiden, bei Rot über die Ampel zu fahren – aber es kann gut sein, dass das überhaupt nicht guttut!
Ich bin nicht mutig, wenn ich keine Angst habe, sondern wenn ich mir von meiner Angst die Vernunft nicht rauben lasse.
Bei den vielen Entscheidungen, die ich den Tag über fälle, kann es nicht ausbleiben, dass auch einige Irrtümer dabei sind. Manche werden mir nicht bewusst, andere bereiten mir Unbehagen, und wieder andere tun weh. Auch können Entscheidungen, die ich mit gutem Gewissen für die besseren halte, anderen Menschen Not bereiten. Es kann sein, dass mir gar nicht in den Blick kommt, was sie von mir brauchen. Ich weiß aber auch nicht, wie sie mein Verhalten interpretieren. Es kann sein, dass sie mich missverstehen und darum vielleicht sogar empört sind. Soll ich entgegnen: „Du hättest mir ja sagen können, was du von mir brauchst“? Soll ich sagen: „Du bist selber schuld, denn es war ja gar nicht so gemeint“? Das wären eher schlechtere Entscheidungen, weil sie dem andern und unserer Beziehung eher schaden als helfen. Besser ist, wenn ich seine Not verstehe und sein Bedürfnis, um noch besser darauf Rücksicht nehmen zu können.
Häufig können wir – zumindest aus unserem eigenen Blickwinkel heraus – beanspruchen, im Recht zu sein. „Es ist unfair, so missverstanden zu werden!“ Ja, das mag sein. Und doch ist oft die bessere Entscheidung, nicht das eigene Recht herauszukehren; allzu leicht wird daraus arrogante Rechthaberei. Und arrogant zu werden, ist immer eine Fehlentscheidung.
Besser ist es, wenn wir innehalten und uns darauf besinnen, was jetzt wirklich guttut, und erst dann weitergehen. Besonders dann, wenn starke Emotionen im Spiel sind, kann uns das eine Zeit lang unklar bleiben. Dann können wir uns daran erinnern, dass es auch Entscheidungen geben darf, die wir lieber noch nicht fällen. Ich kann noch nicht sagen, was das Bessere ist. Dann ist es besser, wenn Fragen offen bleiben. Denn alles hat seine Zeit. Und so manche Angelegenheit braucht eine Weile, bis sie vernünftig entschieden werden kann.