Über das Kreuz kann man kaum neutral sprechen. Für die einen ist seine Botschaft heilsam und inspirierend, für die anderen irritierend und nahezu abstoßend. Seine tiefe Bedeutung für uns auszuloten und angemessen in Worte zu fassen, ist nahezu eine menschliche Unmöglichkeit, ein Stolperstein.

 

Aber was genau ist der Inhalt dieser Botschaft? Damit verbunden steht auch die Frage im Raum, warum Jesus am Kreuz sterben musste. Diese Frage kann man zum einen historisch zuspitzen: Wie genau ist es zur Kreuzigung Jesu gekommen? Wie ist das Ineinandergreifen der jüdischen und römischen Anklage gegen Jesus zu verstehen? Warum war ihre Konsequenz sein Tod am Kreuz?

Zum anderen braucht es die biblisch-theologische Antwort, die Menschen nicht weniger interessiert – insbesondere dort, wo man ihnen deutlich machen möchten, dass Jesus für sie gestorben ist. Warum war es notwendig, dass er für uns sterben musste? Und warum wollte er für uns sterben? Was hat sein Tod mit meinem Leben zu tun? Welche Rolle hat Gott bei seinem Tod gespielt? Brauchte Gott dieses Opfer? Oder wir?

 

Diese und andere Fragen stehen im Raum, wenn wir über die Kreuzigung nachdenken. Dabei nimmt im theologischen Diskurs der Begriff der Sühne eine bedeutsame Rolle ein. Vor dem Hintergrund der neutestamentlichen Aussagen zum Sühnetod Jesu und der christozentrischen Deutung des alttestamentlichen Opferkultes ist die Sühnetheologie zweifelsohne gewichtig und aus der Kreuzestheologie nicht wegzudenken. In den letzten Jahren haben mich aber noch andere Aspekte beschäftigt, die sich insbesondere aus der Gottverlassenheit des Sohnes und jüdischen Gedanken rund um die „Schechina“ (Herrlichkeit) Gottes im Exil ergeben.

 

Die ganz andere Kreuzigung

Die Kreuzigung war ein abschreckendes Mittel der Römer gegen diejenigen, die ihre Vormachtstellung in ihren besetzten Gebieten durch Aufruhr oder Revolte gefährdeten. Das traf insbesondere für die Region im alten Israel zur Zeit Jesu zu, in der eine nahezu eschatologische Stimmung in der Luft lag, dass die Zeit gekommen sei, wo Gott eingreifen würde, um sein Bundesvolk Israel wiederherzustellen.

 

Manche Juden glaubten, dass Gott seine Herrschaft durch Waffengewalt durchsetzen würde; man nannte sich auch Gotteseiferer beziehungsweise Zeloten. Sie waren bereit, „ihr Kreuz zu tragen“ und für Gott zu sterben – eben am Kreuz. Dort starben sie in dem Bewusstsein und in der Erwartung, dass Gott ihnen am Ende der Zeit Recht verschaffen würde, indem er sie durch ihre Auferstehung von den Toten rehabilitieren würde. Darin würde ihr endgültiger Sieg liegen. Vor diesem Hintergrund war ihnen Jesu Gebet „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (s. u.) völlig fremd. So starb kein Zelot.

Kann Gott sterben? Widerspricht dies nicht seinem Wesen? Und weitergedacht: Wenn Gott vollkommen ist, sind dann nicht die Leiden und Schmerzen Jesu Zeichen von Schwäche und daher Gott nicht angemessen?

Was nun macht Jesu Kreuzigungstod so anders? Jesus war „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“, so haben es die Kirchenväter im Jahr 451 auf dem Konzil von Chalcedon festgehalten. Wird dann nicht sogar mit ihm Gott selbst gekreuzigt? Kann Gott sterben? Widerspricht dies nicht seinem Wesen? Und weitergedacht: Wenn Gott vollkommen ist, sind dann nicht die Leiden und Schmerzen Jesu Zeichen von Schwäche und daher Gott nicht angemessen? Ist Gott dann aber apathisch – teilnahmslos, gleichgültig und unempfindlich? Oder hat am Kreuz nur die menschliche Seite Jesu gelitten und geschrien? Wird er am Kreuz zur „gespaltenen“ Persönlichkeit? Und andererseits: Wenn wir in Jesus auch den wahren Gott finden, wie kann Jesus dann am Kreuz seine Gottesverlassenheit beklagen? Kann sich Gott selbst verlassen? Wer und wie ist Gott für uns?

 

Von Gott verlassen?

Mit diesen Fragen nähern wir uns dem trinitarischen Verständnis der Kreuzigung. Dabei möchte ich an dieser Stelle insbesondere das Verhältnis zwischen Jesus und dem Gott betrachten, den er Zeit seines Lebens „Vater“ genannt hat. Aus dem Zuspruch der Vaterliebe hat Jesus gelebt und gewirkt. Wer ihm begegnete, konnte etwas von dieser Vaterliebe erspüren. Am Kreuz aber macht Jesus nun eine gänzlich neue Erfahrung: Sein Vater entzieht sich ihm – so radikal und intensiv, dass er ausruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46).

 

Diese Erfahrung berührt zutiefst die altisraelische bzw. jüdische Sorge der Gottesverlassenheit. Um diese zu verstehen, lohnt es sich, die jüdische Lehre von der Schechina aufzugreifen; sie kann uns helfen, die tiefere Bedeutung des Kreuzigungsgeschehens aufzuhellen. Das Wort Schechina leitet sich von dem hebräischen Verb „schakan“ ab („sich niederlassen“ bzw. „wohnen“) und meint die Niederlassung Gottes und seine Einwohnung in Herrlichkeit an einem bestimmten Ort (Tempel) und zu einer bestimmten Zeit bei auserwählten Menschen.

 

Das bedeutet nicht, dass mit seiner Einwohnung die allgemeine und kosmische Gegenwart Gottes angetastet wäre: Er bleibt allgegenwärtig, aber er schafft im Tempel einen Raum der Begegnung mit seinem Volk. Wir haben es hier mit einer Selbstunterscheidung Gottes zu tun, der im Himmel thront, aber inmitten seines Volkes wohnt. So bindet sich der unendliche Gott an einen endlichen, irdischen Raum. Diese hingebende Selbsterniedrigung wird im rabbinischen Judentum mit der Liebe Gottes zu seinem Volk begründet.

 

In einer Vision sah nun aber der Prophet Hesekiel, dass die Schechina (Herrlichkeit) vor der Tempelzerstörung schrittweise den Tempel verließ und schließlich auf dem Ölberg stand (Hesekiel 9,3; 10,4.18.19; 11,23). Gott trennte sich von seinem Wohnort und damit auch von seinem Volk. Anschließend wurden der Tempel und die Stadt zerstört und das Volk zog ins Exil nach Babylon. Das Gericht Gottes traf das Bundesvolk mit ganzer Wucht.

 

Damit einhergehend stand nun die Frage im Raum, wohin sich die Schechina letztlich bewegen würde. Drei Denkweisen haben das Judentum geprägt:

 

1.  Sie hat sich vom Ölberg aus in den Himmel zurückgezogen. Ihre Rückkehr wird am Ende der Tage erwartet.

 

2. Trotz des Gerichts ist sie weiterhin – wenn auch verborgen – an den Überresten der heutigen Western Wall in Jerusalem zu finden. Belegt wird dies u. a. mit 2. Chronik 7,16: „Und jetzt habe ich dieses Haus erwählt und geheiligt, damit mein Name dort ist für ewig.“

 

3. Sie wanderte verborgen als leidende Exilsschechina mit dem Volk in die Babylonische Gefangenschaft. Von dort ist sie später mit dem Volk nach Jerusalem zurückgekehrt.

 

 

Der dritten Denkweise liegt die Annahme zugrunde, dass sich Gott aufgrund seiner Liebe und Treue zu seinem Volk selbst dem Gericht des Exils unterstellt. Diesbezüglich spricht der jüdische Geschichtsphilosoph Franz Rosenzweig von der „Irrfahrt der Schechina“: „Gott selbst scheidet sich von sich; er gibt sich weg an sein Volk, er leidet sein Leiden mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, er wandert mit seinen Wanderungen.“

 

Alles, was das Volk an Spott, Schande und Erniedrigung auf sich nehmen muss, wird auch zu Gottes Last. Er leidet als Betroffener mit; darin trägt er bereits die Sünden seines Volkes. Rabbinen ziehen daher den Schluss, dass Gott selbst als Exilschechina erlösungsbedürftig ist.

 

Der Grund dafür ist in seiner Liebe zu finden. Weil sich die Schechina untrennbar an das Volk bindet und mit ihm den notvollen und finsteren Weg ins Exil geht, ist sie ohnmächtig und genauso erlösungsbedürftig wie das Volk selbst. Sie kann sich nicht selbst befreien, weil sie sich dann eigenständig vom Volk lösen müsste; diese Trennung würde aber zutiefst ihrer Liebe und Treue zu ihrem Bundesvolk widersprechen. Als Leidensgefährtin braucht sie ebenso von Gott her eine Befreiung. Dieses Handeln bleibt unerklärbar, wenn wir bei unserer Frage nach dem Wesen Gottes die Liebe ausklammern. Aber Liebe macht sich ohnmächtig. Sie erträgt alles. Sie erniedrigt sich.

 

Das Kreuz als äußerstes Exil

Die Exilsschechina findet ihren Fluchtpunkt in der messianischen Dimension: Der Gottessohn verlässt die Herrlichkeit beim Vater und geht „ins Exil“. Er erniedrigt sich und wird Mensch in dem Juden Jesus. Durch ihn wohnt Gott in der Mitte seines Volkes. In ihm ist seine Herrlichkeit gegenwärtig. „Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Einzigen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1,14).

In Jesus wird Gott leidensfähig, schwach und ohnmächtig – weil er liebt. Und Liebe ändert alles. Das Kreuz Jesu durchkreuzt auch unsere Gottesvorstellungen.

Jesus wird zur Schechina Gottes. Als diese liebt er sein Volk und eine ganze Menschheit bis ans Ende: bis zum Tod am Kreuz. Dort vollzieht der Vater an ihm das Urteil über die Sünde (vgl. Römer 8,3). Weil er dort vom Vater verlassen wird, ist das Kreuz der Ort des äußersten Exils. Dort geht er über das hinaus, was Rosenzweig gesagt hat (s.o.: „Er zieht mit ihm in das Elend der Fremde“). Am Kreuz zieht Jesus allein in das Elend der Fremde. Hier erlebt Jesus wahrlich den Ort, vor dem sich sein Volk immer gefürchtet hat: einen Ort, wo Gott nicht mehr gegenwärtig ist. Dort erleidet er gänzlich allein das Gericht – stellvertretend für sein Volk und eine ganze Menschheit.

 

Die Liebe bindet Jesus wie damals die Exilsschechina in der Babylonischen Gefangenschaft. Wie diese kann er sich deshalb am Kreuz nicht selbst retten und befreien, auch wenn er dort zugleich sein Volk und die ganze Menschheit rettet. Er muss – wie bei der Exilsschechina – vom Vater durch die Auferstehung erlöst werden. Die Spötter unterm Kreuz berühren eine tiefe Wahrheit, wenn sie ausrufen: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten […] Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn liebt“ (Matthäus 27,42+43).

 

Vater und Sohn zerreißen sich

Das Kreuz ist somit der Ort, wo Jesus seinen Vater verliert und damit auch seine Liebe. Aus dem geliebten Sohn wird ein Verstoßener und Verlassener. Das ist der ganze Schrecken des Kreuzes, das grausame Leid Jesu in seinem Exil.

 

Mit diesem Dahingeben handelt der Vater im tiefsten Widerspruch zu seinem Wesen. Er verlässt nicht nur seinen Sohn, sondern sich selbst in seiner Eigenschaft als Vater. Das ist das furchtbare Leid des Vaters. Er erleidet den Tod seines geliebten Sohnes. Wenn wir so wollen, dann stirbt am Kreuz nicht nur der Sohn, sondern auch der Vater – und zwar in seiner Eigenschaft als Vater. Der Sohn verliert seinen Vater – und der Vater verliert seinen Sohn.

Zugleich gibt sich Jesus am Kreuz aktiv und willentlich in diesen furchtbaren Tod (vgl. Galater 2,20) und damit ins äußerste Exil: Vater und Sohn sind sich eins darin, dass sie sich an diesem Ort trennen. Gerade diese Trennung steht aber im deutlichen Widerspruch zu ihrer Einheit und ihrem Wesen der Liebe. Am Kreuz zerreißt sich Gott für uns.

 

Die Wunde der Liebe

Gott verlässt sich selbst, weil er uns liebt. Das Kreuz lädt uns dazu ein, dieser Liebe zu glauben und zu vertrauen. In Jesus wird Gott leidensfähig, schwach und ohnmächtig – weil er liebt. Und Liebe ändert alles. Das Kreuz Jesu durchkreuzt auch unsere Gottesvorstellungen.

 

Wer liebt, der macht sich immer verletzbar; Liebe ist unsere schwache Seite. Aber nur sie ermöglicht wahres Menschsein. In der Liebe finden wir unsere größte Erfüllung. Wer liebt, der lebt. Gleichzeitig liegt in ihr die Quelle unseres größten Schmerzes: Nichts fügt uns mehr Leid zu als der Verlust unseres geliebten Gegenübers. Obwohl wir alle von diesem Verlustschmerz wissen und ihn auf die eine oder andere Weise alle erleiden, entscheiden wir uns zu lieben. Wir können eigentlich gar nicht anders, als immer wieder neu zu lieben. Wer vorauslaufend aus Angst vor dem Verlust der Liebe auf Liebe verzichtet, nimmt seinen eigenen Tod vorweg.

 

Gott hat uns erschaffen, obwohl er wusste, dass er uns verlieren würde. Uns dennoch zu erschaffen, entspricht zutiefst seinem Wesen der Liebe. Und nichts schmerzt ihn mehr, als uns zu verlieren. Darin macht sich Gott verletzbar. Das ist seine Wunde. Und diese Wunde sehen wir in Jesus am Kreuz; es ist eine Liebeswunde. Aber hätte Gott vorauslaufend aus Angst vor dem Verlust unserer Liebe auf uns verzichtet und uns im völligen Widerspruch zum Wesen seiner Liebe nicht erschaffen, dann hätte er seinen eigenen Tod sozusagen schon vorweggenommen. Das Wesen der Liebe wäre gestorben; sie hätte darauf verzichtet, sich in einem von ihr erschaffenen Gegenüber auszudrücken. Kein Leben, kein Mensch, nichts wäre entstanden. Aber so ist Gott nicht.

Gott hat uns erschaffen, obwohl er wusste, dass er uns verlieren würde. Uns dennoch zu erschaffen entspricht zutiefst seinem Wesen der Liebe. Und nichts schmerzt ihn mehr, als uns zu verlieren.

Und so entscheidet sich Gott gemäß seinem Wesen der Liebe für uns und damit für seinen Tod am Kreuz in seinem Sohn. Für uns am Kreuz zu sterben, entspricht ganz seinem Wesen. Größere Liebe hat niemand als der, der sein Leben für uns hingibt, damit er uns nicht verliert und wir ohne ihn nicht verloren sind. Darum zieht uns der Geist Gottes zum Kreuz.

 

Sich unterm Kreuz einfinden

Dort erfahren wir sein bedingungsloses Ja, weil er in seinem Sterben ein klares Nein zu allem sagt, was seiner Liebe nicht entspricht. Ein Nein zu allem, was wir erleiden, und ein Nein zu allem, was wir an Leid verursachen. Gerade da, wo wir unter dem Kreuz dem begegnen, der vom Vater verlassen wurde, können sich dort eben auch all diejenigen einfinden, die sich selbst verlassen und verworfen fühlen und mit ihrer Schuld ringen. Dort können sich diejenigen einfinden, denen ihre Würde genommen wurde und die sich selbst unwürdig fühlen. Dort können sich diejenigen einfinden, die von ihren Lebensängsten und Nöten geplagt werden und Halt bei Jesus suchen.

 

Niemand sonst versteht uns so gut wie der „Mann der Schmerzen“. Gerade aufgrund seiner äußersten Verlassenheit kann er in unsere Verlorenheit kommen, um uns aus unserem Exil herauszulieben und in die Gemeinschaft mit Gott selbst hineinzulieben – und damit auch in das ewige Leben. Das ist die eschatologische Dimension des Kreuzes. Mit ihm als dem von Gott Verlassenen haben wir Gemeinschaft mit Gott selbst. Er leidet mit uns, er tröstet uns, er stärkt uns und hält in uns die Sehnsucht nach Vollendung wach. Er geht mit uns die Wege unseres Lebens. Mit ihm ist unser Exil vorbei.

 

 

Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus dem kürzlich im Brunnen Verlag erschienenen Buches „Die Kraft des Kreuzes – Warum der Tod Jesu die größte Chance unseres Lebens ist“, herausgegeben von Frauke Bielfeldt. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

DR. MICHAEL BENDORF

ist Pastor im BEFG (ab 2009 Hannover-Walderseestraße, seit 2015 Friedenskirche Braunschweig), davor Hochschullehrer für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung. Er ist außerdem als Dozent und Referent (IGW, AcF) sowie als Autor („Wo der Geist weht“, „Wo Gott wohnt“, Neufeld Verlag) tätig.

 

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