„Ich bin Mitte 30 und seit zwei Jahren Führungskraft in einem Unternehmen. Mir macht die Arbeit echt viel Freude, ich liebe die Verantwortung für Personal und Abläufe und auch die Zusammenarbeit mit anderen Führungskräften. Diese sind überwiegend männlich – und ich merke, dass mir das zu schaffen macht. Nicht, dass ich sie nicht schätze. Im Gegenteil! Nur werfen sie mir aber gerne vor, ich sei ,zu emotional‘, wenn ich mich intensiv für meine Mitarbeitenden einsetze und, das gebe ich zu, mir manchmal die Tränen in den Augen stehen – ob aus Freude oder Frust. Stimmt es überhaupt, dass Frauen emotionaler sind als Männer? Wie gehe ich mit mir selbst um, wenn mir die Tränen in die Augen steigen – und wie mit den ,super-sachlichen‘ Männern?“

 

 

Ach ja, diese beharrliche Idee, Frauen seien emotionaler als Männer! Wissenschaftlich betrachtet stimmt das nämlich nicht. Zahlreiche Studien belegen, dass Emotionalität – also die Fähigkeit, Emotionen zu haben, wahrzunehmen, auszuleben – vom Geschlecht unabhängig ist. Wir alle fühlen! Allerdings, und dieser Unterschied ist ebenso wissenschaftlich belegt: Wir drücken unsere Gefühle unterschiedlich aus. Und ich bin überzeugt, dass viele genau das meinen, wenn sie sagen, Frauen seien emotionaler als Männer.

 

 

Wir alle fühlen

Als Menschen sind wir von Geburt an mit einem großen Reichtum an Emotionen ausgestattet. Diese sichern unser Überleben – sozial und körperlich. Angst zum Beispiel ist unser wichtiger Bodyguard und beschützt uns (auch wenn sie manchmal übermächtig wird). Auch Ekel beschützt uns und bewahrt uns vor Vergiftung – körperlich, seelisch und gesellschaftlich. Wut ist unsere Reaktion auf Ungerechtigkeit – und damit wichtig für den Erhalt und Ausbau guter sozialer Strukturen. Ein großes, schönes Set an Gefühlen und Emotionen ist uns in die Wiege gelegt.

Zahlreiche Studien belegen, dass Emotionalität vom Geschlecht unabhängig ist. Wir alle fühlen!

Und dann starten wir ins Leben – und machen Erfahrungen, die uns prägen. Tatsächlich beginnen hier die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, was die Emotionen angeht: Mädchen entwickeln in jungen Jahren meist schneller sprachliche Gewandtheit und können sich artikulieren – auch ihre Emotionen. Jungen gehen mit ihren Emotionen schnell anders um: Sie sind auf physische Auseinandersetzung aus und weniger auf Worte. Das hat viel mit Sozialisation zu tun. Dabei sind Jungen als Säuglinge emotional meist viel ausdrucksstärker als Mädchen. Doch das ändert sich schnell – und im Erwachsenenalter ist es genau andersherum: Frauen haben in der Regel einen guten Zugang zu ihren Emotionen und drücken diese gerne auch sprachlich aus, Männern ist dieser Zugang oft völlig abhandengekommen und sie reagieren eher mit handfesten Aktionen. Das, so weiß man heute, bringt Männern einen Nachteil. Denn wenn sie sich ihrer Emotionalität nicht bewusst sind und diese nicht gut händeln können, dann händeln ihre Emotionen sie. Männer sind daher viel anfälliger für heftige emotionale Überfälle – also die Situationen, in denen wir nicht oder zu spät merken, dass wir emotional bewegt sind und dies uns in Bewegung setzt.

Die Tränen im Büro haben ihren Sinn – genauso wie die Wut und der Frust.

Hier leiden wir unter unserer Geschichte. Seit René Descartes im 17. Jahrhundert postulierte „Ich denke, also bin ich!“, liegt uns dieser sachliche Ausruf der Aufklärung bis heute im Blut: Alles muss rein rational sein, bloß nichts aus dem Bauch heraus entscheiden! Und wer dazu christlich sozialisiert ist, ist hier doppelt im Nachteil: Denn die christliche Theologie steht ja zum Teil bis heute in der Tradition, dass Körper, Seele und Geist zu trennen seien. Die Wissenschaft hat allerdings längst geklärt, dass das nicht stimmt. Heute weiß man, dass zur Ratio – der wundervollen menschlichen Fähigkeit zum sachlichen Denken mit unserem Verstand – die Emotio gehört: unser energiegeladenes Set an Gefühlen und Emotionen, die uns prägen, schützen, motivieren und in Bewegung setzen. Die Emotio zeigt sich immer auch sehr intensiv körperlich: im Auseinanderziehen der Mundwinkel (Lächeln), Zusammenziehen des Bauches („Bauchschmerzen“), mit lautem Gebrüll oder eben mit Tränen. Diese körperlichen Ausdrücke unsere Gefühle und Emotionen sind etwas Wunderbares – und wir sind gut beraten, sie wahrnehmen und mit ihnen umgehen zu lernen. Damit wir nicht emotional überfallen werden, was sich dann häufig in unkontrolliertem Weinen oder Herumschreien äußert. Unseren Verstand (Ratio) und unsere Gefühlswelt (Emotio) sollten wir als gutes Team wahrnehmen und einsetzen lernen.

 

Gefühle – Gottes gute Gabe

Insofern dürfen Frauen lernen, ihre von Gott geschenkte Emotionalität wertzuschätzen und einsetzen zu lernen. Nicht manipulativ, sondern liebevoll und gewinnbringend. Und Männer dürfen lernen, ihre von Gott gegebene Emotionalität anzuerkennen, wahrzunehmen, wertzuschätzen und in guter Weise zu kanalisieren. Denn es ist an der Zeit, dass wir diese tolle Basis unseres Menschseins endlich nutzen lernen! Die Tränen im Büro haben ihren Sinn – genauso wie die Wut und der Frust. Wenn wir lernen, die Energie dieser Emotionen in Kanäle zu lenken, die uns und andere weiterbringen – dann tun wir das, was der Schöpfer sich gedacht hat.

Wenn Sie das nächste Mal jemand als „zu emotional“ beschreibt, bedanken Sie sich herzlich für dieses schöne Kompliment!

Wenn Sie also das nächste Mal jemand als „zu emotional“ beschreibt, bedanken Sie sich herzlich für dieses schöne Kompliment und wünschen Sie dem- oder derjenigen auch einen besseren Zugang zur eigenen Emotionalität! Denn Emotionalität heißt Kraft und Energie. Wäre doch schade, wenn wir uns dieser beraubten! Und es ist schlimm, wie wir häufig unter Emotionalität leiden, die unter dem Deckmäntelchen der Sachlichkeit auftaucht: Beispielsweise wenn in Meetings gebrüllt wird oder Konflikte leise unter den Teppich gekehrt werden. Das bringt niemanden weiter – im Gegenteil: Es lähmt und zerstört! Dabei wollen Gefühle und Emotionen uns anstoßen und aufbauen. Lernen wir also, sie immer besser zu händeln – und ihre Kraft zu nutzen!

„Gut“ ist kein Gefühl

 

Bedürfniskarten-Sets

Wenn ich Menschen frage, wie es ihnen gerade geht, antworten sie meist „gut“. Aber „gut“ ist kein Gefühl. Oft fehlt uns hier schlicht das Vokabular. Hilfreich zum Kennen- und Umgehen-Lernen mit den eigenen Gefühlen und Emotionen daher: Gefühls- und Bedürfniskarten.

 

https://www.giraffen.shop/produkt/gefuehls-und-beduerfniskarten/

 

https://www.empathikon.de/p/empathikon-gefuehls-und-beduerfniskarten

 

 

Bücher zur Vertiefung

Magdalena Rogl: „MitGefühl“

Dr. Leon Windscheid: „Besser fühlen“

Tina Tschage

hat Theologie und Personal- und Organisationsentwicklung studiert und das Handwerkszeug der Redakteurin erlernt. Sie lebt als Single-Frau in einer christlichen Gemeinschaft in München und arbeitet freiberuflich als Coach, Speakerin und Autorin.

 

www.tina-tschage.de

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